Sommaruga muss Migrationsamt aus der Krise führen
Das Bundesamt für Migration ist das heikelste und undankbarste der ganzen Bundesverwaltung: Die Bereiche Asyl und Ausländer stehen seit Jahren im Mittelpunkt einer Kritik, die auch aus parteipolitischem Kalkül geschürt wird. Das Amt hat zudem schwerwiegende Schwachstellen: Die Behandlung der Asylgesuche dauert Jahre, und das Verhältnis zu den Kantonen hat sich verschlechtert, was umso schwerer wiegt, als es die Kantone sind, welche Asylentscheide durchzusetzen und auszuführen haben.
In dieser heiklen Situation hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) seit 10 Monaten vorsteht, keinen anderen Ausweg gesehen, als den ungeschickt agierenden und bei den Kantonen unbeliebten Direktor Alard du Bois-Reymond zu entlassen. Gleichzeitig orientierte die Bundesrätin die Öffentlichkeit, dass sie im Keller des BFM eine Leiche entdeckt habe, welche die ohnehin dicke Luft ums BFM zusätzlich verpestet. Es handelt sich um mehrere tausend unerledigte Asylgesuche, die zwischen 2006 und 2008 von Irakern in den Schweizer Botschaften von Damaskus und Kairo eingereicht worden waren.
Direktor Gattiker – ein Glücksfall
Die gravierenden Mängel, die in dem krisengeschüttelten Bundesamt zu Tage traten, kann man nicht der neuen Chefin des EJPD anlasten. Doch sie ist jetzt noch stärker gefordert als zuvor, und sie darf die hohen Erwartungen, die sie mit ihrer kühnen Ankündigung gemacht hat, nicht enttäuschen. Sie sagte nämlich, in einigen Jahren würden für 80% der Asylgesuche rechtskräftige Entscheide innert 120 Tagen vorliegen. Das erfordert von ihr einen klaren Durchblick, konsequente Entscheide und viel Fingerspitzengefühl.
Sommaruga hat immerhin das Glück, auf einen kompetenten und anerkannten Fachmann an der Spitze des BFM zählen zu können, auf Mario Gattiker, den interimistischen Direktor. Der 54jährige Jurist arbeitet seit elf Jahren beim Bund, zuerst als Sekretär der damaligen Eidgenössischen Ausländerkommission, danach als Verantwortlicher für den Bereich Integration, seit 2005 als Vizedirektor des BFM und zuletzt als stellvertretender Direktor. Er kennt das Asylverfahren nicht bloss aus der Sicht eines Chefbeamten, denn nach dem Studium hat er in Bern Asylbewerber juristisch beraten, worauf er bis 2001, während eines guten Jahrzehnts, den Rechtsdienst von Caritas Schweiz leitete. 1999 erschien von ihm das Handbuch «Das Asyl- und Wegweisungsverfahren», ein unentbehrliches Nachschlagwerk für alle, die sich in diesem komplexen Gebiet zurechtfinden müssen.
Dank dem reichen Erfahrungsschatz könnte es Gattiker gelingen, den Weg zu finden, um das unerträglich lange Asylverfahren rasch und spürbar zu verkürzen. Als wir den Pressedienst des BFM fragten, ob sich bereits abzeichne, dass sich die Fristen für die Behandlung der Asylgesuche verkürze, lautete am Wochenende die Antwort : «Nein, es gibt noch keine ersten Auswirkungen. Das Gesetzgebungsverfahren läuft ja zurzeit noch und nichts ist definitiv entschieden.» Der neue Direktor und die Justizministerin werden wissen, dass auch im Rahmen des geltenden Gesetzes das Verfahren fühlbar beschleunigt werden kann, denn es wäre unsinnig, einfach auf die nächste Gesetzesrevision zu warten.
Das Asylgesetz krankt nämlich an der Revisionitis: es trat erst 1982 in Kraft und wurde bereits zehnmal revidiert: die elfte Revision ist in Vorbereitung. Bevor die Erfahrungen einer Revision ausgewertet waren, wurde bereits die nächste vorbereitet. Das ist ein Beispiel ungenügender gesetzgeberischer Vorbereitungen des Bundesrats und unsorgfältiger Arbeit des Parlaments. Von Direktor Gattiker darf man erwarten, dass er im Rahmen des geltenden Gesetzes Beschleunigungsmöglichkeiten ausfindig mache, wozu wohl auch zusätzliches Personal nötig wird.
Justizminister Blochers Revision brachte es nicht
Dass Gesetzesrevisionen an sich wenig bringen, dafür ist jene des früheren Justizministers Blocher ein anschauliches Beispiel. In Missachtung geltender Regeln verschärfte er nachträglich die von Bundesrätin Metzler bereits vom Nationalrat beratene Revision, aber die angepeilte Verkürzung der Behandlungsfrist wurde nicht erreicht. Der Justizminister hatte Glück: während seiner vierjährigen Amtszeit reichten viel weniger Asylsuchende ein Gesuche ein als zuvor – pro Jahr nur gut 10’000. Erst jetzt hat sich herausgestellt, dass es ein Irrtum war (siehe unten). Die tiefen Zahlen haben Blocher und seine Anhänger als sein Verdienst ausgegeben, und in seiner Sparwut war er so unbedacht, die Aufnahmefähigkeit auf jährlich 12’000 Asylsuchende herunterzufahren.
Was er angerichtet hatte, mussten seine Nachfolgerinnen auslöffeln als die Asylgesuche ab 2008 wieder auf über 16’000 stiegen und zu wenig Unterkunftsplätze zur Verfügung standen. Zudem kümmerte es den Justizminister kaum, ob abgewiesene Asylbewerber die Schweiz auch verliessen. Zwar obliegt der Vollzug der vom BFM verfügten Wegweisung den Kantonen, doch diese bedürfen der Unterstützung durch die Bundesbehörden, sei es um Reisepapiere zu beschaffen oder um Staaten zu veranlassen, ihre Landsleute aufzunehmen. Hingegen ist Bundesrat Blocher hoch anzurechnen, dass er den vorläufig aufgenommenen ehemaligen Asylsuchenden erlaubte, zu arbeiten.
Eveline Widmer-Schlumpf, seine direkte Nachfolgerin, trat 2008 ein schweres Erbe an, auch infolge von tausenden zusätzlichen Asylgesuchen. Offenbar um zu sparen, hat sie das BFM umgemodelt, allerdings mit wenig Geschick. Manche Mitarbeiter wurden zurückgestuft, andere verliessen frustriert das Amt, so dass viel Fachwissen verloren ging. Dem im Januar 2010 neu eingesetzten Direktor Alard du Bois-Reymond gelang es nicht, die erwünschten Verbesserungen im Bundesamt zu verwirklichen und die Beziehungen zu den Kantone zu festigen. Gerade von ihnen ist jetzt harsche Kritik zu hören. Die neue Justizministerin versuchte mit einer weiteren Gesetzesrevision den Missmut gegenüber dem BFM zu mildern, doch ihr Versuch erlitt Schiffbruch. Widmer-Schlumpfs Wechsel ins Finanzdepartement erweckt den Anschein einer Flucht aus ihrem Departement mit dem ständig kritisierten Bundesamt für Migration, das durch die von ihr verordnete Reorganisation noch stärker ins Schlingern geraten war.
Bericht muss vor den Bundesratswahlen kommen
Die letzten Enthüllungen scheinen diese Vermutung zu stärken: Das Auftauchen von sieben bis zehntausend «vergessenen» Asylgesuchen von Irakern, die zwischen 2006 und 2008 bei den Schweizer Botschaft in Damaskus und in Kairo eingereicht worden waren. Das Vorgehen der damaligen Direktion des BFM, welche Anweisung gab, die Gesuche nicht zu bearbeiten und der betroffenen Schweizer Botschaften ist höchst fragwürdig. Zwar handelte es sich um eine Ausnahmezustand, offenbar fanden Gespräche mit den lokalen Vertretern des Hochkommissariats für Flüchtlingswesen (UNHCR) statt, aber es scheint, dass der Hauptsitz in Genf nicht einbezogen worden war.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die damaligen Justizminister Blocher und Widmer-Schlumpf keine gute Figur machten. Man wir den von Bundesrätin Sommaruga in Auftrag gegebenen Bericht abwarten müssen, um das Ausmass der Verantwortung der verschiedenen Bundesstellen und Personen bemessen zu können. Es ist nicht akzeptabel, dass er erst Ende Jahr vorliegen soll; der Bericht muss einige Wochen vor den nächsten Bundsratswahlen im Dezember veröffentlicht werden, da er diese beeinflussen könnte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine