Sie wollen die erfolgreiche Initiative aushöhlen
(Red.) Dass eigentlich alle immer gewusst haben, was mit «Zweitwohnungen» gemeint ist, bewies kürzlich wieder die NZZ. In einem Artikel über den Umgang mit Zweitwohnungen in Frankreich kommt das Wort «Zweitwohnung» 18-mal vor, einige Male auch im Zusammenhang mit Wohnungen in der Schweiz. Mit keiner Zeile wird erklärt, was mit einer Zweitwohnung gemeint ist. Denn dies ist dem Autor und bisher den NZZ-Lesern immer klar gewesen: Schlicht eine Wohnung, deren Besitzer einen andern Wohnsitz hat.
Vor der jüngsten Abstimmung wusste auch der Bundesrat noch, was mit einer Zweitwohnung gemeint ist. Der gleiche Begriff ist im kürzlich revidierte Raumplanungsgesetz verankert. Dort hatte der Bundesrat in seiner Botschaft den Begriff «Zweitwohnungen» stets synonym oder gleich bedeutend mit dem Begriff «zeitweise bewohnte Wohnungen» (im Gegensatz zu ganzjährig bewohnten Wohnungen) verwendet. Deshalb warnte er die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vor der jüngsten Abstimmung: «Die wachsenden Zweitwohnungsbestände gefährden mittelfristig die Grundlagen und die Konkurrenzfähigkeit des Schweizer Tourismus.»
Hanspeter Guggenbühl zeigt, wie die Bau- und Tourismus-Lobby alle Hebel in Bewegung setzt, damit der Volksentscheid weitgehend ausgehebelt wird.
«Der Anteil von Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten und der für Wohnzwecke genutzten Bruttogeschossfläche einer Gemeinde ist auf höchstens 20 Prozent beschränkt.» Dieser Satz steht seit 11. März dieses Jahres in der Bundesverfassung, nachdem das Schweizer Volk Franz Webers Initiative gegen den «uferlosen Bau von Zweitwohnungen» angenommen hat. Was dieser Satz bedeutet, war der Landesregierung sonnenklar – zumindest bis am 10. März. Denn im offiziellen Abstimmungsbüchlein schrieb der Bundesrat: «Die Beschränkung der Zweitwohnungen auf einen fixen Anteil von 20 Prozent aller Wohnungen würde in zahlreichen Gemeinden zu einem abrupten Baustopp führen.»
Warum das so ist, hatte der Bundesrat schon in seiner Botschaft vom 29. Oktober 2008 ans Parlament mit folgenden Daten präzisiert: «In knapp einem Viertel aller Gemeinden liegt der Anteil der zweitweise bewohnten Wohnungen bei über 20 Prozent, in zahlreichen Tourismusgemeinden sogar weit über 50 Prozent.» Und eine in der Botschaft abgebildete Schweizer Karte illustriert, dass die Initiative allein im Alpenraum auf drei Viertel der Flächen ein Verbot von weiteren Zweitwohnungen bewirkt.
Zweitwohnung – plötzlich unbekannt
Doch nach der überraschenden Annahme der Initiative krebste die zuständige Bundesrätin zurück: «Es ist nirgends definiert», so diktierte Doris Leuthard am Abstimmungssonntag in zahlreiche Mikrophone, «was überhaupt eine Zweitwohnung ist.»
Das ist Unsinn. Denn das Bundesamt für Statistik, das revidierte Raumplanungsgesetz und eben auch der Bundesrat haben Zweitwohnungen seit Jahren klar definiert als «nur zeitweise bewohnte Wohnungen»; dies in Abgrenzung zu Erstwohnungen, die von am Ort ansässigen Personen bewohnt werden. Weder die Regierung noch der neue Verfassungstext mach(t)en einen Unterschied, ob die EigentümerInnen ihre Zweitwohnung während 20 oder 120 Tagen bewohnen, ob als Ferienwohnung oder als Absteige, und ob sie diese Wohnung zeitweise weiter vermieten oder bewirtschaften lassen.
Doch so heiss, wie das Volk sie mit ihrem Ja zur Initiative kochte, wolle die Profiteure von Zweitwohnungen die Suppe nicht auslöffeln: Baulöwen, Immobilienhaie sowie Regierungen der Bergkantone für eine «pragmatische Umsetzung» und forderten Ausnahmen, sei es für «strukturschwache Gebiete», sei es für «bewirtschaftete Zweitwohnungen» mit sogenannt «warmen Betten». Bundesrätin Leuthard setzte eine 16köpfige Arbeitsgruppe ein. Diese soll zwei umstrittene Fragen möglichst schnell klären, nämlich: 1. Ab wann gilt ein Bewilligungs- oder Bauverbot für neue Zweitwohnungen? 2. Wann ist eine Zweitwohnung eine Zweitwohnung?
Begrenzung – aber mit Ausnahmen
Die zeitliche Streitfrage ergibt sich aus der – tatsächlich kniffligen – «Übergangsbestimmung» im Initiativ- respektive Verfassungstext. Demnach sind Baubewilligungen für Zweitwohnungen ab 1. Januar 2013 «nichtig». Leute aus Bauwirtschaft, Immobilienhandel, Kantonsregierungen sowie einige JuristInnen (nicht aber Doris Leuthard) ziehen daraus den Umkehrschluss, jene Bewilligungen, die bis Ende 2012 erteilt werden, seien noch gültig. Das könnte kurz vor Torschluss einen Boom an Gesuchen und Bewilligungen für neue Zweitwohnungen auslösen. Zweitens geht es um die (Neu-)Definition des Begriffs Zweitwohnung – und damit um die Aufweichung des Verfassungstextes.
Eine Gruppe von bürgerlichen ParlamentarierInnen, angeführt vom Bündner SVP-Nationalrat Heinz Brand, beantwortete beide Streitfragen, schon bevor die Arbeitsgruppe zum ersten Mal getagt hat. In einer Motion vom 21. März verlangte sie vom Bundesrat eine «sofortige Klärung der Rechtsunsicherheit» und stellte folgende Forderungen:
• Bis Ende 2012 dürfen alle Gemeinden Baugesuche für Zweitwohnungen gemäss heutigem Recht noch bewilligen.
• «Ab 1.1. 2013 bis zum Inkrafttreten des Umsetzungsrechts» dürfen alle Kantone und Gemeinden «bewirtschaftete Zweitwohnungen» weiterhin bewilligen.
• Nicht unter die neue Verfassungsbestimmung sollen bestehende Erstwohnungen fallen, die zu Zweitwohnungen umgewandelt werden.
Die Mär von der «Bewirtschaftung»
Für die genannten Ausnahmen dürften sich die MotionärInnen aus SVP, FDP, BDP und CVP auch bei der gesetzlichen Umsetzung der Zweitwohnungs-Initiative stark machen. Damit aber wird der strenge Verfassungstext weitgehend ausgehöhlt. Das gilt insbesondere für die Bewilligung von «bewirtschafteten Zweitwohnungen».
Eine Bewirtschaftung, also die Vermietung von Zweitwohnungen, allenfalls ergänzt mit einem Angebot an Hoteldiensten, ist touristisch erwünscht. Damit liessen sich die landverschlingenden Ferienappartements sowie die übrige Infrastruktur effizienter nutzen. Doch dazu braucht es keine einzige neue Zweitwohnung. Denn schon heute gibt es in Fremdenverkehrs-Gemeinden fünf bis zehn Mal mehr Betten in Ferienwohnungen als in Hotels.
Für viele neue Appartements gewährte der Staat in den 1980er-Jahren sogar Ausnahmebewilligungen von der Lex Furgler (später Lex Koller); dies unter der Bedingung, dass die an Ausländer verkauften Appartements «hotelmässig bewirtschaftet» werden. In der Praxis aber wurde diese Bestimmung mehrheitlich umgangen, sei es, weil EigentümerInnen sich weigerten, ihre Appartements vermieten zu lassen, oder weil sich die «Bewirtschaftung» in einem blossen Angebot zum wöchentlichen Bettwäsche-Wechsel erschöpfte.
»Das Verhältnis zwischen kommerziellen und kalten Betten stimmt in der Schweiz nicht mehr», sagte Reto Gurtner, König der «weissen Arena» in Laax, dem Online-Magazin «persönlich.com», und er verriet auch, warum das so ist: «Ein Schweizer, der für eine Wohnung bis zu einer Million Franken bezahlen kann, ist nicht darauf angewiesen, diese Wohnung zu vermieten. Er will es nicht und muss es auch nicht.» Sinngemäss das Gleiche sagten mehrere befragte Tourismusfachleute gegenüber der WOZ.
Verweigerung des Vollzugs
Christian Laesser, Professor für Tourismus an der Universität St. Gallen und Gegner der Initiative, lässt sich ob solcher Erfahrungen nicht beirren. Nach verlorener Abstimmung plädiert er ebenfalls dafür, Zweitwohnungen «aufgrund der Nutzung» zu definieren. So sollten Zweitwohnungen weiterhin bewilligt werden, wenn sie eine bestimmte Zahl von Vermietungstagen erreichen. Auf die Frage, wie viele Vermietungstage denn vorgeschrieben werden sollen, antwortete Laesser der «Südostschweiz». «Das müsste man den Gemeinden oder Kantonen überlassen.»
Der Zweitwohnungs-Initiative droht damit ein ähnliches Schicksal wie dem revidierten Gewässerschutz-Gesetz von 1992. Dieses verlangt unter anderem die Sanierung von Kraftwerken, die zu wenig Restwasser in Bäche und Flüsse leiten. Der Vollzug obliegt ebenfalls den Kantonen und Gemeinden. Das Resultat enthüllte kürzlich die Online-Zeitung «infosperber.ch»: 20 Jahre, nachdem das Gesetz in Kraft trat, sind 63 Prozent der sanierungspflichtigen Anlagen und Gewässer in der Schweiz noch nicht saniert. Im Wallis allein liegt die Vollzugsquote unter zehn Prozent. So funktioniert eine «pragmatische Umsetzung».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine