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Die Reformation: Eine Angelegenheit von Männern © cc

Sie stürzten sich auf die Reichtümer der Kirche

Red. /  Vor der Reformation war Westeuropa weitgehend römisch-katholisch. Ein Gespräch mit Historiker Thomas Maissen über Nachwirkungen.

Red. Das Interview mit dem Historiker Thomas Maissen über politische Folgen der Reformation erschien im Magazin 2/17 der Universität Zürich.
Thomas Gull: Die Reformation machte aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, zu dem damals auch die heutige Schweiz gehörte, einen konfessionellen Flickenteppich. Weshalb hatte die Reformation eine solche Sprengkraft?
Thomas Maissen: Die Reformation verbindet zwei Dimensionen: eine religiöse und eine politische. Die Frage nach dem richtigen Glauben stand im Vordergrund und war für die Menschen im 16. Jahrhundert existenziell: Wie erhalte ich einen gnädigen Gott? Wie also kann ich mein Seelenheil vor ewiger Verdammnis bewahren, obwohl ich immer wieder zum Sünder werde? Nicht vom Ringen um den richtigen Glauben zu trennen, aber für uns zugänglicher ist die politische Dimension. Dabei ging es um die Verfügungsgewalt über die Kirche und ihre Güter.

Weshalb war diese so wichtig?
Maissen: Die Kirche war die reichste Institution, weil sie viele Güter akkumulierte, die wegen des Zölibats nicht vererbt wurden: Landeigentum vor allem, aber auch materielle Güter. Darüber und über kulturelle Ressourcen wie das Unterrichtswesen konnte der Staat verfügen, wenn er protestantisch wurde, sich von der katholischen Kirchenhierarchie lossagte und die Kirchengüter verstaatlichte. Wenn er katholisch blieb, konnte er zwar nicht darüber verfügen, aber dennoch verstärkt darauf zurückgreifen, weil er damit argumentieren konnte, diese Ressourcen würden gebraucht, um die katholische Kirche und den richtigen Glauben gegen die Ketzer zu verteidigen.
Was war für die Zeitgenossen wichtiger: ihr Gewissen oder machtpolitisches Kalkül?
Man kann die Motivation nicht auf die Staatsräson reduzieren. Für die Menschen war ihr Seelenheil von zentraler Bedeutung. Selbst die Fürsten, die sich für oder gegen die Reformation entscheiden, lesen oft nur ein Buch oder lassen sich aus diesem vorlesen – das ist die Bibel. Wenn es nur ums Materielle gegangen wäre, hätten alle Fürsten Protestanten werden müssen. Sich auf die Seite der Reformation zu schlagen, war auch riskant, denn es bedeutete, mit der Vergangenheit zu brechen, mit dem Glauben der Väter, und das in einer sehr traditionalistischen Gesellschaft. So warfen die katholischen Innerschweizer den abtrünnigen Zürchern denn auch vor, sie verrieten das Erbe der Väter. Das kann man nicht einfach so wegwischen. Man gefährdete damit auch rechtliche und politische Ansprüche, die zum Beispiel in einem Eid auf die Heiligen (Eid-Genossenschaft!) oder einem Siegel mit Heiligenbild begründet waren. Jede konfessionelle Wahl hatte Vor- und Nachteile, die man abwägen musste. Aber die Entscheidung für den wahren Glauben war nicht einfach rational, sondern eine Gewissensfrage.
Rückblickend staunt man immer noch darüber, dass sich die Reformation halten konnte, denn politisch waren die Gewichte ungleich verteilt: Auf der einen Seite wenige deutsche Fürsten und viele Städte, auf der anderen Seite der mächtige Kaiser Karl V., der sich gegen die Kirchenspaltung stemmte. Wie erklärt sich der Erfolg der Reformation?
Der Kaiser hat in dieser Zeit anderes zu tun; die Luther-Sache ist nur zweite Priorität, obwohl er nie schwankt in seinem Urteil gegen die Lutheraner. Es sind auch Zufälle, die dazu beigetragen haben, dass sich die Reformation etablieren konnte. Dazu gehört, dass Karl V. das päpstliche Ketzerurteil gegen Luther nicht umgehend vollziehen konnte, weil er gerade Kaiser geworden und auf den Rückhalt vor allem von Friedrich dem Weisen angewiesen war, dem sächsischen Landesherrn Martin Luthers. Deshalb wird Luther 1521 vor den Wormser Reichstag geladen, aber nicht verhaftet und hingerichtet, was möglich gewesen wäre. Der Reformator kann Worms unbehelligt wieder verlassen, obwohl die Reichsacht verhängt wird. Hinzu kommen Karls Spannungen mit Frankreich und dem Papst. Karl ist aussenpolitisch gefordert und zwischen 1521 und 1530 gar nie mehr im Reich.
Hätte die Reformation rückgängig gemacht werden können, wenn Luther hingerichtet worden wäre?
Die Zahnpasta war draussen – das heisst, Luthers Lehre bereits weit verbreitet, vor allem dank dem Buchdruck, der viel schnellere und weiter reichende Kommunikation ermöglichte als noch ein Jahrhundert davor, als die Kirchen den böhmischen Reformer Jan Hus hinrichtete. Selbst wenn Luther getötet worden wäre, seine Schriften wären weiterhin zugänglich geblieben. Sie sprachen ein bürgerliches Element an, das gerade in den Reichsstädten Anklang fand– die Selbstverwaltung des Glaubens. Zudem gab es schon bald von Luther unabhängige Reformationsbewegungen etwa in Zürich.
Wie unterscheidet sich die lutherische Reformation von der Reformation in der Schweiz?
Die Reformation in der Schweiz war unabhängig von Luther auch in Bezug auf ihr intellektuelles Fundament. Zwingli hat nicht in Wittenberg studiert, sondern in Basel bei Erasmus. Diese Prägung durch den Humanismus ist sicherlich ein wichtiger Unterschied zu Luther: die Offenheit für das Griechische, das Luther nie interessiert hat, eine stark philologische Prägung, und, das ist vielleicht das Wichtigste, eine starke moralische Orientierung in der politischen Gemeinschaft, was für Luther sekundär war. Für Luther ist der wahre Glaube primär eine individuelle Herausforderung. Für die Erasmianer und Zwingli verwirklicht sich das Christentum in der Gemeinschaft der Gläubigen.
Wie hat sich das ausgewirkt?
Für Zwingli ist der gute Christ ein guter Bürger, die politische Stadt und die christliche Stadt müssen zusammenfallen. Das führt bei Zwingli zu einer starken Zusammenarbeit mit der politischen Obrigkeit, dem Kleinen und dem Grossen Rat in Zürich und den anderen eidgenössischen Städten, um die Gemeinschaft im Diesseits zu verchristlichen. Luther war weniger optimistisch, und der wahre Glaube richtete sich allein auf das Jenseits. Für ihn war der Staat eine unverzichtbare, gottgewollte Notwendigkeit im Reich der Sünde. Da braucht es vor allem Ordnung und Stabilität, wie etwa seine Stellungnahme im Bauernkrieg dokumentiert. Luther wollte nicht einmal dem katholischen Kaiser Widerstand leisten, weil er der Meinung war, dass Gott gebiete, der Obrigkeit unbedingt zu gehorchen.
Zwingli sah das anders, er hat ja sogar selber zum Schwert gegriffen.
Zwingli hat sehr aktiv Politik betrieben und den Kappeler Krieg provoziert, in dem er ja getötet wurde. Zwinglis Ziel war es, die gottgefällige politische Gemeinschaft auf Erden auch in der gesamten Eidgenossenschaft zu verwirklichen. Da ist der humanistische Zwingli zuversichtlicher als der augustinische Pessimist Luther.
Die Reformation in Zürich und der Eidgenossenschaft fand in einem anderen politischen Umfeld statt als jene in Deutschland. Können Sie die Unterschiede skizzieren?
Zwingli ist im Toggenburg aufgewachsen, das war genauso überschaubar wie die späteren Wirkstätten Glarus und dann Zürich. Die Selbstverwaltung des Glaubens in der Kirche lag hier nahe, übrigens auch in katholischen Gebieten, weil das in der politischen Gemeinschaft üblich war. In Zürich war etwa jede zehnte Stadtfamilie im Grossen Rat vertreten. Auch wenn man bei solchen Ratseliten nicht von Demokratie sprechen kann, so gab es doch eine Tradition der politischen Entscheidungsfindung in der Gemeinschaft. Das ist etwas anderes als die deutschen Fürstendynastien, welche die lutherische Reformation getragen haben.
Luthers Reformation wurde von oben verordnet, diejenige Zwinglis war eher eine Volksbewegung?
Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass der landsässige Adel und die Fürstendynastien in der Schweiz nicht mehr wichtig waren. Die Reformation fasste zuallererst in den Städten Fuss, dabei gab es allerdings keinen Unterschied zwischen Deutschland und der Eidgenossenschaft. Den Entscheidungen für oder gegen die Reformation ging in jeder Stadt ein Auskämpfen voraus, mit dem Ziel, die beste Lösung zu finden; eine Minderheit von Städten, so etwa Köln, wählte die katholisch-altkirchliche Option. Die Deutschschweizer Reformation wirkte bis nach Konstanz, Ulm, Augsburg, Strassburg.
Weshalb hat sich in deutschen Städten die Reformation zwinglianischer Prägung doch nicht durchgesetzt?
Die süddeutschen Städte befanden sich lange in einer Mittlerposition zwischen Luther und Zwingli. Aber der Augsburger Religionsfrieden von 1555 schloss neben den Katholiken nur die Lutheraner als Glaubensgemeinschaft ein, die Reformierten hingegen werden aus dem Landfrieden ausgeschlossen. Eine Stadt wie Augsburg stand somit vor der Wahl, entweder protestantisch-lutherisch zu sein oder rekatholisiert zu werden. Die Option protestantisch-zwinglianisch war zu gefährlich. Im Reich war die Position der Städte schwächer als in der Eidgenossenschaft, wo es keine Fürsten und wenig Adel gab und der Kaiser weit entfernt war, also die militärische Gefahr geringer war.
Wie hat sich die Glaubensspaltung ausgewirkt?
Der konfessionelle Graben hat die Einigung aller Deutschen genauso erschwert wie die aller Schweizer. Bei uns hat ja erst der Sonderbundkrieg 1847 mit der Niederlage der katholischen Orte den Weg frei gemacht für die Gründung eines Bundesstaats, in Deutschland der Sieg über Frankreich 1870/71. Die meisten anderen Staaten haben die religiöse Vereinheitlichung betrieben, in die eine oder andere Richtung, die nordischen Staaten wie Schweden oder Dänemark wurden einheitlich lutherisch, in Frankreich beendete Louis XIV. mit der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 die prekäre Koexistenz von Katholiken und Reformierten in Frankreich. Die Hugenotten mussten konvertieren, viele verliessen das Land. Die konfessionelle Vereinheitlichung war wichtig für die Staatenbildung. In Deutschland und der Schweiz erfolgte sie eben nicht auf nationaler Ebene, sondern auf der Ebene der Territorialstaaten beziehungsweise der Kantone.
Mit welchen Folgen?
Nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 galt die Formel: Cuius regio, eius religio – wessen Herrschaft, dessen Religion. Damit waren die Landesherren ermächtigt, die Religion ihrer Untertanen zu bestimmen. Wer damit nicht einverstanden war, durfte auswandern. Als Folge des Religionsfriedens erfolgte in Deutschland die konfessionelle und politische Integration nicht auf der Ebene des Reichs, sondern auf jener der Reichsstände. Davon gab es nördlich des Bodensees mehr als 400! Darunter gab es zwar auch bedeutende wie Preussen, Habsburg oder Sachsen. Aber wegen ihrer Vielfalt und mit den ganzen politischen und konfessionellen Widersprüchen war Deutschland als Ganzes kein wirklicher Machtfaktor in Europa. Zudem haben sich die Reichsstände dann im Dreissigjährigen Krieg gegenseitig stark geschwächt. Erstaunlich ist gleichwohl, dass selbst die kleinen Reichsstände bis ins napoleonische Zeitalter überleben konnten und nicht von grösseren Nachbarn geschluckt wurden. Die Konfession wirkte da wie ein Schutzschild. Deshalb hat etwa Bayern protestantische Städte wie Nürnberg nicht erobert. Noch ausgeprägter wurden in der Schweiz auch nach den Konfessionskriegen wie dem Kappeler- oder dem Villmergerkrieg die territorialen und konfessionellen Grenzen respektiert.
Zwingli hat ja noch versucht, die Katholiken mit Gewalt zu bekehren, und ist gescheitert.
Ja. Die Lektion der Kappeler Kriege war, dass das nicht geht. Der Respekt vor dem territorialen und konfessionellen Status quo der Kantone war entscheidend für die vergleichsweise friedliche Entwicklung der Eidgenossenschaft.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Thomas Maissen: Der ordentliche Professor für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg leitet seit 2013 das Deutsche Historische Institut in Paris. Maissen hat sich 2002 an der Universität Zürich mit seiner ausgezeichneten Studie «Die Geburt der Republik. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft» habilitiert.

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2 Meinungen

  • am 29.05.2017 um 19:00 Uhr
    Permalink

    Vielen dank für die übernahme bzw. das publizieren dieses interessanten interviews. – Ich habe eine bitte an die redaktion: Es kommt des öfteren vor, dass die angegebenen links, wie z.b. eben auch in diesem artikel (Magazin 2/17), ungenau sind bzw. beim anklicken in die «wüste» führen. Bitte, vor der veröffentlichung den jeweiligen link jeweils kontrollieren. Danke für das verständnis.

  • am 30.05.2017 um 15:57 Uhr
    Permalink

    Ein brillanter Schrieb ! Hervorragender Nachhilfeunterricht in Geschichte !

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