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Neuausrichtung der Armee: «Künftig sind Sie unsere Elite-Truppe» © Patrick Chappatte in «Le Temps»

Sicherheit ohne Politik

Oswald Sigg /  Die ersten Opfer der Sicherheitspolitik sind die Wehrpflichtigen. Das zweite Opfer ist die Sicherheit selber, wie sich heute zeigt.

Sicherheitspolitik äussert sich auch in Symbolen: der Igel an der Expo 64 war so eines, der Spruch von der «besten Armee der Welt» ist das heute noch gültige. Doch wer eine solche zum Ziel setzt, braucht eigentlich keine Sicherheitspolitik mehr. Das ist das Ergebnis meiner Erinnerungen an meine Erlebnisse mit der Sicherheitspolitik. Zum Beispiel in der Rekrutenschule, vor 49 Jahren.

An diesem Tag im Sommer 1964 war ausnahmsweise um 03 45 Uhr Tagwache in der Kaserne Andermatt. Um 04 35 Uhr sass ich bereits mit der ganzen Gebirgsinfanterierekrutenschule 2/12 schlaftrunken und in Ausgangsuniform in der Furka-Oberalpbahn und der Zug setzte sich alsbald in Richtung Brig gemächlich in Fahrt. Es war der Besuchstag der Expo 64 in Lausanne. Mitten im Kalten Krieg: nur drei Jahre zuvor hatten Soldaten der DDR-Volksarmee mithilfe der Roten Armee die Berliner Mauer – den «antifaschistischen Schutzwall» gegen den Westen – gebaut. Der Ostblock bzw. der Warschauer Pakt demonstrierte seine Wehrhaftigkeit.

In Lausanne an der Expo demonstrierte die Schweiz ihre Wehrhaftigkeit mit einem riesigen, oberirdischen Betonbunker in der Form eines Igels. Im Inneren durften wir Rekruten auf einer 360°-Leinwand die totale Landesverteidigung bewundern. Die Centurion-Panzer im Einsatz, die Fliegerabwehr im Einsatz, das Sturmgewehr 57 im Einsatz und sogar die Sanität operierend in einem unterirdischen Spital (Standort: geheim) wurde auf der monumentalen Rundumleinwand gezeigt. Die erste silberne Mirage III S mit Schweizerkreuz stand im Original da und wir Rekruten bekamen Halsweh vom Zuschauen und konnten uns nicht satt sehen an dieser wehrtüchtigen Schweiz.

Die Show im stachligen Igel machte uns eines ganz deutlich: Obacht, die Schweiz ist zwar klein, aber rundum hochgerüstet und jederzeit total abwehrbereit. Und es war uns sofort klar: diese Botschaft war Moskau und dem ganzen kommunistischen Ostblock gewidmet. Stolz, glücklich und müde fuhren wir mit einem Sandwich und einer Flasche Bier wieder zurück in Richtung Gotthard.

Eine Wende folgt der anderen

25 Jahre später stellte sich eines Tages, am 9. November 1989, der Erfolg dieser Sicherheitspolitik ein. Friedlich bezwangen die Ostdeutschen ihre Mauer und das Sowjetsystem implodierte. Berlin wurde Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland und schon bald wehte das Schweizerkreuz vom Dach der renovierten Schweizer Botschaft, in unmittelbarer Nähe vom alten Reichstag und dem neu erstellten Bundeskanzleramt.

Die Schweiz brauchte sicherheitspolitisch nochmals etwa zehn Jahre Zeit, um die Wende zu bewältigen. Immerhin war ihr fast über Nacht der Grund für ihre Armee abhanden gekommen. So rasch fand sich kein Ersatz für den guten alten sowjetischen Feind. Auch in anderen Ländern und auf anderen Gebieten empfand man Mühe mit der urplötzlich neuen geopolitischen Lage. In den USA verkündete ein beherzter Historiker gar das Ende der Geschichte.

Doch im selben Monat November des Jahres 1989 fand nur gut 14 Tage später in der Schweiz und für die Armee noch eine ganz andere Wende statt. Wie wenn die Initianten die weltpolitische Entwicklung vorhergesehen hätten, kam ihre Idee, die Schweizer Armee abzuschaffen eigentlich zum goldrichtigen Zeitpunkt zur Abstimmung. Doch der Schweizer war nicht in der Lage, innerhalb von zwei Wochen das weltgeschichtliche Ereignis von Berlin auf die Zukunft der Schweizer Armee herunter zu brechen und deshalb stimmte er – zusammen mit den bereits stimmberechtigten Ehefrauen – grossmehrheitlich für die kriegstüchtige Armee, als wenn überhaupt nichts geschehen wäre.

Die grosse Verunsicherung

Doch immerhin ein Drittel der Stimmenden wollte die Armee abschaffen. Diese Schweizerinnen und Schweizer standen nicht mehr hinter ihrer Armee. Das hatte eine konkrete Folge: in den Kasernen, auf den Waffenplätzen, in den Generalstabskursen und auf den Korridoren und in den Büros des Bundeshauses-Ost war man verunsichert.

Die Diamant-Veteranen – zur Einstimmung auf die Abschaffungsabstimmung hatten die Militärs unter der Führung von Bundesrat Kaspar Villiger etwa zwei Dutzend Festlichkeiten zum 50. Jahrestag der Kriegsmobilmachung der Schweizer Armee organisiert – also diese Militärstrategen begannen nun, überall und provokativ die Sinnfrage zu stellen: wozu haben wir eine Armee? Oder: wozu haben wir eine solche Armee? Und etwa: wäre eine kleinere Armee denkbar?

Als ich 1998 trotz meinem Bekenntnis, 1989 überzeugt für die Abschaffung der Armee gestimmt zu haben, von Adolf Ogi dem Bundesrat zur Wahl als Informationschef des um den Bevölkerungsschutz und den Sport angereicherten Eidg. Militärdepartements vorgeschlagen und auch gewählt wurde, war der neue Sicherheitsbericht noch in statu nascendi.

Zwei Jahre später und elf Jahre nach der Wende verabschiedete der Bundesrat als Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Schweizer Armee den Sicherheitspolitischen Bericht 2000 und gab ihm den Titel: «Sicherheit durch Kooperation». Mit gerade mal drei Worten wurde der Igel als Symbol der totalen Landesverteidigung der historischen Entsorgung zugeführt. Das war für ein Produkt aus dem Ostflügel des Bundeshauses – den wir unter uns politischen Beamten manchmal auch den Ostblock nannten – schon ein halbwegs geniales Wortspiel.

In der Populärfassung des Berichts wurde diese Strategie erläutert: «Bei der Kooperation mit dem Ausland geht es um eine verstärkte Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten und internationalen Sicherheitsorganisationen sowie um ein intensiveres Engagement bei der Friedenssicherung.
Im Inland steht eine optimale Abstimmung der eigenen zivilen und militärischen Mittel über die ‚umfassende flexible Sicherheitskooperation‘ im Zentrum. Der Weg zu mehr Sicherheit führt immer über mehr Kooperation.»

Aus heutiger Sicht und für schweizerische Verhältnisse war dies die Skizze einer fortschrittlichen Sicherheitspolitik. Sie bedeutete nichts anderes, als dass die Armee selbst und sogar im Ausland einen Beitrag für Stabilität und Frieden leisten soll, damit diese Solidarität auch Sicherheit für die Schweiz bedeuten könnte. Der Bundesrat ging sogar so weit, den Fundus der bisherigen Sicherheitspolitik – die Neutralität – nicht etwa aufzuheben, sondern ihm einen neuen Sinn zu geben. Neutralität sollte nicht länger heissen: nur sich ja nicht irgendwo im Ausland einmischen. Sondern die Schweiz sollte «die Neutralität möglichst aktiv und solidarisch leben.»

Zusammenarbeit mit der Feuerwehr

Mit dieser neuartigen Sicherheitspolitik war es dann aber bald vorbei. Als Bundesrat Samuel Schmid anfangs 2001 das VBS übernahm, war er politisch von seiner Partei, der SVP, bereits gezwungen worden, mit der Sicherheitspolitik rechtsumkehrt zu machen. Schmid erklärte wenige Tage nach seiner Amtsaufnahme, «Sicherheit durch Kooperation» heisse neu, dass die Armee künftig mit der Feuerwehr und der Polizei zusammenarbeiten werde – im Inland, wohlverstanden.

Die Berichte und Broschüren zur Sicherheitspolitik wurden zwar nicht eingestampft und noch gelang es der SVP trotz einer exemplarisch schmutzigen Abstimmungskampagne nicht, die Militärgesetzrevision für Auslandeinsätze der Schweizer Armee am 10. Juni 2001 zu bodigen. Deshalb sind im Kosovo noch immer 220 Schweizer Soldaten stationiert.

Doch das VBS veröffentlichte am 21. November 2007 ein Communiqué mit aufsehenerregendem Inhalt: » Schweizer Armee zieht sich aus Afghanistan zurück». Die Taliban werden aufgeatmet haben, aber auch in vielen anderen Teilen der Welt nahm man diesen geradezu strategischen Rückzug der Schweizer Armee erstaunt zur Kenntnis. Immerhin hatten wir damals noch zwei Subalternoffiziere in Kunduz stationiert.

«Die beste Armee der Welt»

Dann folgte am 10. Dezember 2008 die dritte und historisch entscheidende Wende. Ueli Maurer, frischgebackener Verteidigungsminister, gab die traditionelle Pressekonferenz am Tag seiner Wahl. Es war eine meiner letzten Pressekonferenzen als Bundesratssprecher. Ein mir unbekannter Journalist stellte etwa 20 Minuten nach Beginn die Frage, wie Maurer künftig dafür sorgen wolle, dass «der Wehrmann wieder Freude am Einrücken bekommt».

Maurer verstand die Frage nicht recht. Ich bat den Journalisten, seine Frage zu wiederholen. Maurer verstand noch immer nicht und ich formulierte ihm die Frage nochmals anstelle des Journalisten. Darauf antwortete nun Bundesrat Maurer mit folgendem Satz: «Das ist natürlich ein hohes Ziel. Aber als Chef VBS möchte ich eigentlich einfach sagen: Hej, wir schaffen zusammen die beste Armee der Welt.»

Vermutlich schaute ich ebenso ungläubig drein, wie viele Journalisten im Saal und Maurer ergänzte seine Antwort mit einigen Sätzen über den Wehrwillen und dass es wichtig sei, dass der Soldat wieder stolz werden könne, in dieser Armee Dienst leisten zu dürfen und dass es dafür die beste Armee der Welt brauche. Es war also kein Versprecher, sondern es war und es ist bis heute der Ausdruck der gültigen «Sicherheitspolitik».

Nur: Eigentlich braucht das Land mit der besten Armee der Welt gar keine Sicherheitspolitik, ja überhaupt keine Aussenpolitik mehr zu betreiben. Es ist doch von überall her bedroht. Es hat keine Freunde mehr, es ist von gegnerischen Ländern umzingelt. Als die Schweiz damals noch ein Igel war, standen die bösen Feinde wenigstens noch 800 Kilometer weit entfernt. Aber heute weht überall ennet unserer Landesgrenzen die EU-Fahne. Unsere Nachbarn … sie gehören ja alle zu Europa. Und was für ein Verhältnis haben wir mit der EU? Nichts als Krach.

Manchmal bewundere ich die damalige Weitsicht des heutigen Bundespräsidenten.

Die sicherheitspolitische Debatte auf Infosperber wird fortgesetzt mit einem Beitrag von Bruno Lezzi. Er war Generalstabsoffizier und von 1984 bis 2009 Redaktor der NZZ für Sicherheits- und Militärpolitik. Lezzi ist Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Sein Beitrag erscheint in den nächsten Tagen.
Zum Dossier «CH: Verteidigung und Sicherheit»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Oswald Sigg war von 1998 bis 2004 Informationschef des VBS und von 2005 bis 2009 als Vizekanzler Sprecher des Bundesrats.

Zum Infosperber-Dossier:

Fliegerabwehrkanone

Die Sicherheitspolitik der Schweiz

Wer und was bedroht die Schweiz? Welche Strategie braucht sie für ihre Sicherheit nach innen und aussen?

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Eine Meinung zu

  • am 2.06.2013 um 18:04 Uhr
    Permalink

    Lieber Oswald Sigg,

    ich kann Ihre nachsichtige Beurteilung unserer Geschichte von SVP-Verteidigungsministern nicht teilen.

    Der ulkige Spruch von der besten Armee der Welt ist nur halb so witzig, wenn wir zurückdenken an die Zeit des kalten Krieges wo wir von der mobilisierbaren Mannschaftsstärke her so etwas wie das Nordkorea inmitten der zivilisierten Welt waren.

    Nach 89 sind wir hingegen so etwas wie ein Failed State geworden, ein Territorium, das nicht einmal garantieren kann, das von seinem Territorium aus nicht Dritte Krieg führen. Nämlich Touristen/Professionelle in Kriegen von
    – PKK
    – Tamil Tigers
    – Kosovaren
    – Komerzielle Söldner
    – Eventuell weitere im MENA-Raum
    (damit will ich nicht zur berechtigten Ziele dieser Bewegungen Stellung nehmen, nur zur Organisation bewaffneter Kämpfe von und der Benutzung unseres Territoriums als Refugium für Kämpfer)

    In der Gegenperspektive von SchweizerInnen als potentiell gefährdete haben unsere Verteidigungs- und AussenministerInnen nahezu nichts unternommen, um den Anspruch unseres Staates, der das Nonproliferationsabkommen unterzeichnet hat, auf NUKLEARE ABRÜSTUNG der ANDEREN einzufordern gegenüber
    – Den USA als grösstem Atomwaffenbesitzer, der von wiederholt von der Berechtigung zum Erstschlag gesprochen hat
    – Aktuell China als schnellstem Aufholer
    – Aktuell der Nummer 4, Israel als immerhin Besitzerin von 200 – 500 (CIA-Schätzungen) Sprengköpfen, die Europa ebenfalls in Erstschlagqualität abdecken.

    Wieso leben wir aussenpolitisch in einem B-Movie?

    Mit freundlichen Grüssen
    Werner T. Meyer

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