Kommentar

Schweizer Widerspruch: Wachsen ohne Zuwanderung

Beat Allenbach © zvg

Beat Allenbach /  Alle wollen Wirtschaftswachstum. Aber die Ansiedlung neuer Unternehmen und neue Arbeitsplätze erfordern weitere Zuwanderer.

Die Schweiz stolpert immer wieder über ihren Erfolg. In den drei Jahrzehnten nach Ende des zweiten Weltkriegs explodierte die Wirtschaft. Mit dem Startvorteil der intakten Fabriken konnte die Schweiz sofort in die kriegsversehrten europäischen Länder liefern, wo es damals an fast allem fehlte. Der Mangel an Arbeitskräften in unserem Land wurde alsbald mit Menschen aus Südeuropa behoben. Die Personalchefs vieler Unternehmen reisten in den Süden, um Arbeitskräfte zu rekrutieren. Die Zahl der in der Schweiz lebenden Ausländer stieg innert 25 Jahren von rund 230’000 im Jahr 1945 auf 1’080’000 (1970) und in den folgenden 40 Jahren um weitere 640’000 auf 1’720’000 Ausländer im Jahr 2010.

Wachsendes Ungehagen

Die Schweiz ist also offenkundig ein Erfolgsmodell, aber sie empfindet sich immer wieder und offenbar zunehmend als Opfer des Erfolgs. Wirtschaftswachstum ist sehr willkommen. Doch die Folgen, mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland, sind es offenbar nicht. Wir Schweizer möchten den Fünfer und das Weggli, aber das gibt es nicht einmal in der Schweiz. Einen Weg, die Einwanderung zu bremsen, gäbe es, aber er scheint wenig beliebt zu sein.

Mit der Personenfreizügigkeit ist die Wirtschaft erneut sprunghaft gewachsen: Seit 2002 sind nach Angaben des Bundesamts für Statistik in der Schweiz 286’300 neue Vollzeitstellen geschaffen worden; das heisst deutlich mehr als 300’000 Stellen, da heute vermehrt Teilzeit gearbeitet wird. Gleichzeitig hat die Zahl der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung in den letzten acht Jahren um 243’000 zugenommen.

Diese Entwicklungen sind eng miteinander verbunden, denn ohne Wachstum gibt es kaum Arbeit für Einwanderer, und ohne zusätzliche ausländische Arbeitskräfte kann sich die Wirtschaft nicht rasch entfalten. Die gesamte Bevölkerung der Schweiz hat in den letzten acht Jahren um 502’000 Personen zugenommen; in dieser Zunahme sind die zusätzlichen 243’000 Ausländer enthalten sowie die neu Eingebürgerten und der Geburtenüberschuss.

Aufgrund verschiedener Umfragen ist das Unbehagen gegenüber der Einwanderung in den letzten Jahren in der Schweiz gewachsen. Gemäss einer in diesem Frühling veröffentlichten Umfrage des «Beobachters» möchten gar zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer die Einwanderung beschränken. Ein Protest gegen das Fremde, ein dumpfes Aufbegehren, war z.B. die Annahme der Minarettverbotsinitiative – ein reines Dampfablassen. Das Ja zur Volksinitiative war ein symbolischer Sieg, doch das Unbehagen und die Probleme im Zusammenhang mit dem weltweit gewalttätigen Islamismus, die wahrscheinlich die Mehrheit der Stimmenden zu einem Ja veranlasst hatten, wurde in keiner Weise angegangen oder einer Lösung näher gebracht. Das war auch gar nicht möglich, da die Angst ihre Wurzel in Ereignissen hat, die im Ausland stattfinden.

Einwanderung stoppen – ein immer erfolgloser Versuch

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) will mit einer Volksinitiative die Einwanderung bremsen, wie die Delegierten am 27. Mai einhellig beschlossen haben; auch andere Bestrebungen mit ähnlicher Zielsetzung sind angekündigt. Die Einwanderung zu beschränken ist ein einleuchtendes Vorhaben, aber nur auf den ersten Blick, und zwar aus folgenden Gründen:

Das Abkommen mit der Europäischen Union (EU) über die Personenfreizügigkeit verunmöglicht es der Schweiz, die Einwanderung aus dem EU-Raum nachhaltig zu steuern; einzig infolge einer sprunghaften jährlichen Zunahme, wäre eine Limitierung möglich. Allerdings könnten Bund und Kantone den Spielraum, den das Freizügigkeitsabkommen zulässt, besser nutzen und arbeitslosen EU-Bürgern in bestimmten Fällen die Aufenthaltsbewilligung nicht erneuern.

Die Zuwanderung aus den nicht EU-Staaten können die Behörden hingegen weiterhin beschränken, doch nur knapp ein Drittel der Einwanderer stammt aus diesen Ländern. Arbeitskräfte können nur einreisen, wenn sie hochqualifiziert sind, 2010 waren das 3900 Personen. Stärker ins Gewicht fallen Menschen, die infolge des Familiennachzugs in die Schweiz kommen. Dabei ist zu beachten, dass der Familiennachzug zu 40 Prozent darauf beruht, dass ein Schweizer oder eine Schweizerin einen Ausländer oder eine Ausländerin aus einem Drittstaat heiratet und danach die Ehepartner in der Schweiz leben dürfen.

Als die Schweiz nach freiem Ermessen die Einwanderung steuern konnte, als es keine EU und keine Personenfreizügigkeit gab, war es gleichwohl praktisch unmöglich, die Einwanderung zu beschränken, solange die Wirtschaft blühte. Trotz einer restriktiven Gesetzgebung, die nach dem Ersten Weltkrieg von Bundesrat und Parlament beschlossen worden war, stieg die Zahl der ausländischen Bevölkerung in den 50er und 60er Jahren sprunghaft an; bereits damals war in der Bevölkerung ein Unbehagen spürbar.

Eine vom Bundesrat im Jahr 1962 eingesetzte Studienkommission wies auf Nachteile hin, sofern unqualifizierte Arbeitnehmer in grosser Zahl ungehindert einreisen könnten, und Mitte der 60er Jahre setzte der Bundesrat pro Betrieb eine Höchstzahl für ausländische Arbeitskräfte fest (Plafonierung). Während des Aufschwungs Ende der 60er Jahre wuchs die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte trotz gesetzlicher Beschränkungen weiter.

Erinnerung an die Schwarzenbach-Initiative

Um der Schwarzenbach-Initiative, welche die Ausländerzahl je Kanton auf 10 Prozent der Bevölkerung herabsetzten wollte, wirksam entgegentreten zu können, legte die Regierung den Höchstbestand der ausländischen Arbeitskräfte für jeden Kanton fest. In der schicksalhaften Volksabstimmung vom 6. Juni 1970 erreichte die Volksinitiative, welche die erzwungene Rückkehr von über 200’000 Ausländern mit sich gebracht hätte, unerwartete 46 Prozent Ja-Stimmen.

Doch die Zahl der Ausländer nahm weiterhin zu, und 1974 sah sich der Bundesrat genötigt, die gesamte ausländische Wohnbevölkerung zu stabilisieren. Das Versprechen wurde (vorübergehend) eingehalten, aber nicht etwa weil der Bundesrat die Einwanderung konsequent gebremst hätte. Es war die Erdölkrise Mitte der 70er Jahre, welche die Wirtschaft in der gesamten industrialisierten Welt empfindlich traf. Allein in der Schweiz gingen rund 340’000 Arbeitsplätze verloren.
Trotzdem blieb die Arbeitslosigkeit der Schweizer tief, denn vor allem Ausländer wurden entlassen und zum Verlassen der Schweiz gedrängt, und Zehntausende Saisonarbeiter erhielten in den darauffolgenden Jahren keinen Arbeitsvertrag und keine Bewilligung. In der Tat, vom Höchststand der ständigen ausländischen Bevölkerung (1’084’326) nahm deren Zahl bis 1979 um 179’989 ab. Die ausländischen Arbeitskräfte, die zuvor als notwendig gegolten hatten, liess man im Stich: Sie hatten die Funktion eines Konjunkturpuffers. Nach dieser Wirtschaftskrise stieg die ausländische Wohnbevölkerung seit 1979 wieder kontinuierlich an.

Wachstum der Wirtschaft heisst Wachstum der Zuwanderung

Erste Erkenntnis: Solange die Wirtschaft wächst ist der «Hunger» der Arbeitgeber und deren Verbände nach Arbeitskräften so gross, dass es den Behörden nicht gelingt, die Einwanderung deutlich zu bremsen – auch wenn sie nach freiem Ermessen entsprechende Beschränkungsmassnahmen erlassen können. Nur ein Einbruch der Wirtschaft vermag die Zahl der Ausländer zu senken. Heute hätte eine Krise eine weniger dramatische Abnahme der ausländischen Bevölkerung zur Folge als in früheren Fällen, denn inzwischen wurde die rechtliche Stellung der ausländischen Arbeitskräfte verbessert.

Haben wir also gar keine Möglichkeit, die Zunahme der ausländischen Bevölkerung zu steuern? «Steuern runter!» heisst auch «Ausländer rein!» Die SVP möchte einerseits die Zuwanderung einschneidend beschränken, andererseits hilft sie tüchtig mit, den bereits sehr günstigen Wirtschaftsstandort Schweiz noch attraktiver zu machen. Die SVP ist an vorderster Front beteiligt, zusammen mit der FDP und der CVP, in Bund, Kantonen und Gemeinden die Steuern zu senken.

Die gleichen Politiker wollen auch keine Korrektur der Unternehmenssteuerreform, die anstelle der seinerzeit vom Bundesrat angekündigten Steuerausfälle von mehreren 100 Millionen jetzt Mindereinnahmen von vielen Milliarden bringen wird.

Das Doppelspiel der SVP: Für Steuerwettbewerb – gegen Zuwanderung

Das Ziel der bürgerlichen Parteien bleibt unverändert: reiche Ausländer, Spitzenmanager und Unternehmen aus dem Ausland und aus anderen Kantonen anziehen. So werden neue Arbeitsplätze geschaffen und gleichzeitig steigt die Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften. Die negativen Folgen des rücksichtslosen Steuerwettbewerbs zwischen Kantonen und Gemeinden muss die breite Bevölkerung tragen: Zahlreiche Einheimisch müssen die Steueroasen Kanton Zug sowie schwyzerische Zürichseegemeinden verlassen, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen oder ihren Wunsch nach eigenen vier Wänden nicht mehr erfüllen können.

Man darf staunen: Die SVP hilft tatkräftig mit, die Voraussetzungen zu schaffen, dass zusätzliche Einwanderer benötigt werden und gleichzeitig schürt sie das Unbehagen in der Bevölkerung über die Anwesenheit der Ausländer. Sie gibt mit einem Fuss Gas, mit dem andern drückt sie kräftig auf die Bremse.

Zweite Erkenntnis: Wer die Einwanderung bremsen möchte, muss den Steuerwettbewerb deutlich mildern.

Überdimensionierte Wirtschaft für ein kleines Volk

Die Schweizer sind sich bewusst geworden, dass die beiden Grossbanken UBS und CS für unser Land eine Nummer zu gross sind und ein Risiko darstellen. Nicht nur theoretisch, denn Bund und Nationalbank mussten 2008 ein 68 Milliarden-Rettungspaket bereitstellen, um die UBS vor dem Untergang zu retten. In der Schweiz haben wir Zehntausende initiative Unternehmer und eine leistungsstarke Wirtschaft, was an sich für die Bevölkerung ein Vorteil ist.

Das Unternehmertum und die schweizerische Wirtschaft sind aber schlicht zu erfolgreich und zu gross für die bescheidene Dimension unseres Landes. Ich sehne mich keineswegs nach einer autarken Schweiz, doch wenn über ein Viertel der Beschäftigten Zugewanderte sind, ist das nicht ein Hinweis, dass unsere Wirtschaft überdimensioniert ist?

Wachstum bremsen – ausgenommen Erfindergeist und Fantasie

Die fast dauend wachsende Wirtschaft, die wachsende Bevölkerung, der wachsende Anspruch nach Wohnraum und Mobilität haben die Schweiz in den letzten 60 Jahren tiefgreifend verändert – wer mit dem Zug von Genf nach St. Gallen fährt und von Basel nach Chiasso, wird möglicherweise ein bisschen erschrecken. Und die Schweiz verändert sich weiterhin: jede Sekunde wird ein Quadratmeter Land verbaut, jeder Tag geht ein Bauernbetrieb ein. Dass es so nicht ewig weitergehen kann, werden sogar Bauunternehmer einsehen. Eine Mehrheit der Schweizer möchte zwar die Einwanderung beschränken, doch gleichwohl scheint diese Mehrheit (noch) nicht bereit zu sein, das Wachstum in allein seinen Aspekten zu überdenken.

Unser Ziel sollte eine nachhaltige Art des Wirtschaftens und des Lebens sein. Damit auch unsere Enkel und deren Enkel noch einen gesunden Lebensraum mit einer gute Lebensqualität vorfinden werden, müssen wir das Wachstum bremsen – ausgenommen sind Erfindergeist und Fantasie.

Dritte Erkenntnis: Wer die Einwanderung bremsen möchte, muss bereit sein, das Wirtschaftswachstum zu zügeln und den Anspruch auf mehr Wohnraum, uneingeschränkte Mobilität sowie den Überfluss-Konsum zu mässigen. Sofern die Bevölkerung der Schweiz infolge der Einwanderung nicht mehr so schnell zunehmen soll wie in den vergangenen Jahren, sind die Unternehmer zu verpflichten, vermehrt in der Schweiz lebende Menschen zu beschäftigen.
Es gibt viele Frauen und Männer, Schweizer und Ausländer, die möglicherweise den höchsten Leistungsansprüchen nicht genügen, oder als vorläufig Aufgenommene noch keine langfristige Aufenthaltsbewilligung besitzen, aber durchaus eine gute Arbeit leisten könnten.

Familiennachzug erschweren – eine würdelose Scheinlösung

Wer jedoch die Zunahme der Ausländer bremsen möchte, indem er den Familiennachzug erschweren oder gar verunmöglichen will, greift nach einer Scheinlösung. Das vom verstorbenen Überfremdungsgegner James Schwarzenbach gepriesene Saisonnierstatut, welches auch vom Gastgewerbe und den Bauern verteidigt wurde, ist im Jahr 2002 abgeschafft worden. Es hatte den Saisonarbeitern verboten, mit der Familie zusammenzuleben.

Die traurigen Erfahrungen vieler Kinder, deren Mutter und Vater gleichzeitig als Saisonniers in der Schweiz arbeiteten, die sich in der Wohnung ihrer Eltern verstecken mussten, ohne die Schule besuchen zu dürfen, haben später auch viele Schweizerinnen und Schweizer empört und gerührt.

Wollen wir bei uns, heute, erneut Menschen arbeiten lassen, die aufgrund eines neuen Gesetzes ihre Ehepartner und Kinder nicht zu sich nehmen dürfen? Das wäre nicht nur unwürdig, sondern auch unvereinbar mit unserer Bundesverfassung, deren Artikel 14 lautet: «Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet.»
Vierte und wichtigste Erkenntnis: Die Schweiz soll nicht mehr ausländische Arbeitskräfte beschäftigen, als sie bereit ist, mit ihren Familien würdig aufzunehmen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Eine Meinung zu

  • am 19.06.2011 um 23:47 Uhr
    Permalink

    Die Gleichung «Wachstum der Wirtschaft = Wachstum der Zuwanderung» greift etwas zu kurz. Wirtschaftswachstum kann auch durch Produktivitätssteigerungen entstehen. Das bedingt allerdings, dass im Inland genügend Fachkräfte mit der notwendigen Qualifikation ausgebildet werden.
    Wer gegen Zuwanderung und zugleich für Wachstum ist, muss für Investitionen in Forschung, Entwicklung und Bildung eintreten. Siehe ausführlicher in meinem Blog:
    http://www.slembeck.ch/blog/?p=1289

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