Schuldspruch gegen Flüchtlingshelferin Anni Lanz
Der Fall «Anni Lanz» schien von Anfang an klar: Die prominente Menschenrechtsaktivistin hatte am 24. Februar dem abgeschobenen Flüchtling Tom* geholfen, zurück in die Schweiz zu reisen. Lanz sass als Beifahrerin in dem Auto, das den kranken und suizidgefährdeten Flüchtling, der keine gültigen Reisedokumente und kein erforderliches Visum vorweisen konnte, über die Grenze in Gondo brachte.
Die Staatsanwaltschaft wollte den Fall mittels Strafbefehl abhandeln und forderte für die Wiederhandlung gegen das Ausländergesetz eine bedingte Geldstrafe von 1500 Franken, eine Busse von 300 Franken und die Übernahme der Verfahrenskosten. Lanz sprach dagegen ein, der Prozess fand am 6. Dezember vor dem Bezirksgericht Brig statt.
Dabei ging es Lanz nicht etwa ums Geld, sondern darum, als Flüchtlingshelferin nicht kriminalisiert zu werden. Vor Gericht wollte sie die Unmenschlichkeit des Schweizer Asylrechts anprangern.
Schuldspruch nach Bedenkzeit
Während der Verhandlung sagte Lanz, sie wisse sehr wohl, dass sie geltendes Recht verletzt habe. Trotzdem fällte Richter Michael Steiner sein Urteil erst nach einer Bedenkzeit von einigen Tagen. Damit trug er dem Umstand Rechnung, dass Lanz nicht aus finanziellem Interesse, sondern aus Menschlichkeit gehandelt hatte. Das weitreichende Plädoyer von Guido Ehrler, dem Anwalt der Aktivistin, gab dem Fall eine neue Dimension – und selbst Staatsanwalt Andreas Seitz bekundete seinen Respekt vor dem jahrzehntelangen Engagement von Lanz.
Damit wurde der Fall, der eigentlich als Bagatelle abgehandelt werden sollte, kompliziert. Im Zentrum stand die Frage: «Darf man Recht brechen, um Leben zu schützen?»
In der Zwischenzeit hat Bezirksrichter Michael Steiner diese Frage mit einem «Nein» beantwortet. Er sprach Anni Lanz wegen «Widerhandlung gegen das Ausländergesetz durch Förderung der rechtswidrigen Einreise in einem leichten Fall» für schuldig. Dafür muss Lanz eine Busse in der Höhe von 800 Franken und die Verfahrenskosten von insgesamt 1400 Franken zahlen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und es ist zurzeit noch unklar, ob Lanz dagegen einsprechen wird. «Ob wir es weiterziehen, muss ich mit den Kolleginnen und Kollegen der Asylbewegung diskutieren», sagt sie auf Anfrage.
«Geringes Verschulden»
Das Gericht beurteilte die Widerhandlung von Anni Lanz aufgrund des geringen Verschuldens und der Tatfolgen sowie dem Umstand, dass Lanz aus rein humanitärem Interesse gehandelt hatte, als Übertretung – und nicht als Vergehen, wie das die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Zwar hob das Gericht die Höhe der Busse leicht an, dafür sprach es sich gegen eine bedingte Strafe aus.
Richter Steiner begründete sein Urteil mit dem sogenannten «Schlepperartikel», welcher auch auf Einzelpersonen Anwendung finde, die «einmalig und aus achtenswerten Gründen einem Ausländer ohne Aufenthaltsrecht die Einreise erleichtern».
Zwangsmassnahmen werden nicht überprüft
Steiner wies auch die Argumentation der Verteidigung ab, wonach Tom unrechtmässig aus der Schweiz ausgewiesen worden sei. «Das Gericht ging davon aus, dass die (…) zwangsweise Überstellung (…) von der Schweiz nach Italien rechtmässig erfolgt war und insbesondere nicht gegen die EMRK verstossen hatte», schreibt Steiner in einer Medienmitteilung.
Am Prozess hatte die Verteidigung eine Überprüfung der Ausschaffung gefordert, weil sich Tom mehrmals in psychiatrischen Kliniken aufgehalten und Suizidversuche begangen hatte. Dabei sei die Anordnung von Zwangsmassnahmen bei heiklem Gesundheitszustand verboten. Im Übrigen ging das Gericht auch nicht auf die Vorwürfe der Verteidigung ein, wonach die Schweiz das zukünftige Wohlergehen von Tom zu wenig genau abgeklärt und ihn noch während laufender Beschwerdefrist ausgeschafft habe.
Weder Notstands– noch Rechtfertigungsgrund
Richter Michael Steiner folgte auch bei der Abwägung von eventuellen Notstands– und Rechtfertigungsgründen der Argumentation der Staatsanwaltschaft. Zwar anerkannte das Gericht, dass Tom an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, sich deswegen wiederholt in psychiatrischen Kliniken in der Schweiz aufgehalten und mehrere Suizidversuche unternommen hatte. Trotzdem sah es Richter Steiner als gegeben an, dass für den Flüchtling keine unmittelbare Lebensgefahr bestanden habe.
Im krassen Gegensatz dazu stehen die Schilderungen von Anni Lanz, die Tom bei eisiger Kälte aus dem Dreck des Bahnhofs Domodossola aufgesammelt hatte. An Toms Körper bemerkte sie Erfrierungen, an seiner Kehle Schnittverletzungen, die er sich selber zugefügt hatte.
Zudem erachtete es Richter Steiner als «möglich und zumutbar», dass Lanz die notwendige medizinische Betreuung und weitere Hilfeleistungen auch in Italien hätte organisieren können. Die Menschenrechts-Aktivistin argumentierte vor Gericht, dass Hilfeleistungen an Sans-Papiers in Italien drastisch bestraft würden und es deshalb unmöglich gewesen sei, Hilfe vor Ort zu organisieren.
«Amnesty International» kritisiert Urteil
«Das Urteil des Walliser Gerichts ist ein Schlag ins Gesicht aller Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für die Rechte von Menschen in Not einsetzen», schreibt «Amnesty International» in einer Mitteilung. Die Schweizer Behörden müssten Menschenhändler und -Schmuggler verfolgen, die Profit aus der Not von Menschen schlagen – nicht Bürgerinnen und Bürger, die allein aus Menschlichkeit handeln.
Weiter weist «Amnesty International» auf das «Dekret Salvini» hin, welches die ohnehin schon prekären Aufnahmebedingungen in Italien weiter verschärft habe. «Die Schweiz muss die jüngste Verschlechterung der Aufnahmebedingungen für besonders verletzliche Asylsuchende in Italien berücksichtigen und die Dublin-Verordnung mit mehr Menschlichkeit und Augenmass anwenden. Wir wollen nicht, dass Menschen ohne Zugang zu der für sie notwendigen Pflege und Unterstützung auf der Strasse landen», sagte Cyrielle Huguenot, Kampagnenverantwortliche «Flucht und Migration» bei Amnesty Schweiz.
* Name geändert
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Infosperber-Artikel zur Thematik:
- Flüchtlingshelferin Anni Lanz: Richter braucht Bedenkzeit
- Einfach wie einen Kehrichtsack auf der Strasse deponiert
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Mit dieser richterlichen Argumentation begibt sich die Schweiz auf die Linie, wie sie vor gut 70 Jahren in einem Teil Europas gegenüber sozial missliebigen Bürgern praktiziert wurde.