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«Zum Recht ausreden zu dürfen, gehört die Pflicht, sich kurz zu fassen»: Karl Popper. © CC, DorianKBandy

«Rechte und Pflichten derer, die von Mitmenschen lernen wollen»

Felix Schindler /  Viele Befürworter und Gegner der Covid-Massnahmen glauben, alleine im Recht zu sein. Allen anderen sei Karl Popper empfohlen.

Sie alle halten sich für vernünftig. Die einen möchten als verantwortungsbewusst angesehen werden, die anderen als kritisch. Die einen wollen den Schaden der Pandemie limitieren, die anderen den Schaden der Massnahmen. Eigentlich beides legitime Anliegen. Trotzdem ist ihre grösste Gemeinsamkeit: die Verachtung für die jeweils anderen. 

Wer wissen will, wer recht hat (oder eher: dass er oder sie zu jenen gehört, die recht haben), wird in diesem Text nichts Nützliches finden. Wer sich verständigen will, hingegen schon. Der britisch-österreichische Philosoph Karl Popper definierte 12 Regeln, die es selbst Dogmatiker:innen und Fundamentalist:innen erlauben sollten, miteinander zu reden. Die 12 Regeln wurden 1994 unter dem bemerkenswerten Titel «Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen» veröffentlicht. Es lohnt sich, sie mehrmals zu lesen.

  • Jeder Mensch hat das Recht auf die wohlwollende Auslegung seiner Worte.
  • Wer andere zu verstehen sucht, dem soll niemand unterstellen, er billige schon deshalb ihr Verhalten.
  • Zum Recht ausreden zu dürfen, gehört die Pflicht, sich kurz zu fassen.
  • Jeder soll im Voraus sagen, unter welchen Umständen er bereit wäre, sich überzeugen zu lassen.
  • Wie immer man die Worte wählt, ist nicht sehr wichtig. Es kommt darauf an, verstanden zu werden.
  • Man soll niemanden beim Wort nehmen, wohl aber das ernst nehmen, was er gemeint hat.
  • Es soll nie um Worte gestritten werden, sondern um die Probleme, die dahinterstehen.
  • Kritik muss immer konkret sein. 
  • Niemand ist ernst zu nehmen, der sich gegen Kritik immunisiert hat.
  • Man soll einen Unterschied machen zwischen Polemik, die das Gesagte umdeutet, und Kritik, die den anderen zu verstehen sucht.
  • Kritik soll man nicht ablehnen, auch nicht nur ertragen, sondern man soll sie suchen. 
  • Jede Kritik ist ernst zu nehmen, selbst die in böser Absicht vorgebrachte: Denn die Entdeckung eines Fehlers kann uns nur nützlich sein.

Dass Poppers Regeln durchaus auf eine gesellschaftliche Krise wie die unsere ausgelegt waren, das legt das Editorial der Zeitschrift «Aufklärung und Kritik» nahe, in der sie veröffentlicht wurden. Der deutsche Philosoph Hans-Joachim Niemann lieferte damals eine beinahe beängstigend präzise Analyse des intellektuellen Schlachtfeldes, auf dem wir uns heute – 27 Jahre später – befinden. Das Schlachtfeld, auf dem es fast unmöglich geworden ist, uns trotz Meinungsverschiedenheiten konstruktiv zu begegnen:

«Freies Denken und rationales Handeln werden heute von drei Seiten zugleich angegriffen oder unterminiert: Auf der materiellen Ebene verdrängen Gewalt oder Gewaltandrohung zunehmend das rationale Ringen um Kompromisse. Auf der geistigen Ebene vergrössert sich die Schar der Relativisten und Nihilisten, die die Suche nach Wahrheit aufgegeben haben und die vernünftige Argumente als Rhetorik und Propaganda betrachten. Die Dritten im Bunde unkritischer Irrationalisten sind jene Dogmatiker und Fundamentalisten, die sich im Besitz der Wahrheit glauben und die sich seit jeher die Ohren gegen jedes bessere Argument verstopften.» 

Wer sowohl das freie Denken als auch das rationale Handeln verteidigen will, der muss sich überlegen: Gelingt uns das eher, wenn wir recht haben und wir jene verhöhnen, die unserer Meinung nach im Unrecht sind? Oder wenn wir uns verständigen?


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

 

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7 Meinungen

  • am 25.03.2021 um 12:19 Uhr
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    Vielen Dank. Dringend nötig.

  • am 25.03.2021 um 12:36 Uhr
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    Das scheint mir einer der allernützlichsten Beiträge zur Pandemie, sowie für alle Kommentarschreibenden und für Politikerinnen und Politiker im Allgemeinen zu sein.
    Danke an Felix Schindler und Karl Popper.

  • am 25.03.2021 um 13:20 Uhr
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    Gute Worte. Danke. Ich vermisse einen Namen eines Mannes, der ein grossartiges Werk geschaffen hat. Sein Name würde hier ergänzend ebenso hinpassen. Marshall Rosenberg. Lit: Die gewaltfreie Kommunikation, eine Sprache des Lebens. Er ist immer noch seiner Zeit voraus, und leider von vielen noch unverstanden. Geschmäht und gehasst von allen, die sich ertappt fühlen durch seine psychologische Betrachtung der menschlichen Bedürfnisse und ihrer oft gewalttätigen Sprache. Seine Seminare waren stets voll, und im Benevol Kurs vom Roten Kreuz begegneten mir seine Sprachtechniken wieder. (Deeskalation, Kommunikation, Einfühlen, Verstehen, Bitten statt Fordern, usw.) Unsere Sprache ist von Gewalt durchzogen, es fängt im denken an. Bestrafen und Belohnen sowie verbale Gewalt sind feste Erziehungsbestandteile in nahezu jeder modernen Gesellschaft. Das blockiert genau das, wovon Popper spricht. Kritik ist dann eine verbal gewalttätige Maske, wenn sich die hinter der Kritik stehenden Bedürfnisse des Kritikers im Dunkeln befinden. Ohne deutliche Selbstoffenbarung wird Kritik zu einem Schuss aus dem Hinterhalt. ( Buchhinweis: Schulz von Thun, miteinander reden) Das konnten wir kürzlich beobachten, als der Präs. Biden den Präs. Putin einen Mörder nannte. Da frage ich mich, wie Regierende vom Volk oder vom Gegenüber etwas erwarten können, wovon sie selbst keine Ahnung haben. Vielleicht sollte man Entscheidungsträger vor Amtsantritt einer Kompetenzprüfung unterziehen.

  • am 25.03.2021 um 14:23 Uhr
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    «Die Dritten im Bunde unkritischer Irrationalisten sind jene Dogmatiker und Fundamentalisten, die sich im Besitz der Wahrheit glauben und die sich seit jeher die Ohren gegen jedes bessere Argument verstopften.» – Dies mag auf gewisse Corona-Kritiker, vielleicht auch auf mich selber zutreffen, bei objektiver Beobachtung der Sachlage muss man diese Geisteshaltung auch bei den «Corona-Hardlinern» feststellen. – Diese Kreise foutieren sich auch über die letzten beiden Regeln von Karl Popper, siehe oben. Bei den Kritikern sind solche Schwächen harmlos, bei jenen die ihre Ansichten per Gewaltmonopol durchsetzen hat das entsprechende Konsequenzen. (Kollateralschäden)

  • am 25.03.2021 um 18:29 Uhr
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    Sehr gut, es fehlt aber eine 13. Spielregel, die Karl Popper angesichts der aktuellen Situation noch anfügen möchte.
    Mir scheint, es sei damals noch üblich gewesen, dass alle ernsthaft geäusserten Stimmen in einem öffentlichen und offenen Diskurs Zugang erhalten. Dass damals «Wortgefechte» lustvoll und offen veranstaltet wurden, dass es um einen Wettbewerb der besten Argumente oder auch der schlagkräftigsten Schlagworte ging. Die Presse konnte und wollte noch die Funktion der 4. Gewalt im Staat erfüllen.
    Das ist heute leider nicht mehr so, es herrscht Zensur.

    Das 3. Postulat: «Zum Recht ausreden zu dürfen, gehört die Pflicht, sich kurz zu fassen.» Geht offenbar davon aus, dass das Recht zu reden unbestritten ist, das ist es heute leider nicht mehr.

    So müsste diese 3. Regel ergänzt werden oder eine weitere Regel zugefügt werden, die das Recht auf gehört zu werden umschreibt.

    Es ist nicht ganz redlich, sich auf Popper zu berufen und dabei den einen zu unterstellen, absolutes Rechthaben zu reklamieren, wenn sie «nur» einen offenen und redlichen Fachdiskurs verlangen.

    Das Recht aus-zu-reden ohne ein Recht, überhaupt zu reden?
    Die Pflicht sich kurz zu fassen, für die, die nie das Wort bekommen, dafür endlose Panik-Mantren für die Beherrschenden?
    Popper ist gut, man sollte auch ihn im Sinne seines 6. Postulats verstehen wollen.

    Was heute fehlt ist leider dieser Zugang zu einem

  • am 25.03.2021 um 20:04 Uhr
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    mich irritiert die Aussage, „Covid-Massnahmen Befürworter und Gegner glauben, alleine im Recht zu sein“

    Ich kann nur für Massnahmen- Gegner aussagen: Wenn man sich das grosse Ganze vor Augen führt, welches die aktuellen Proteste kritisieren, dann betrifft das den Verlust der Menschenrechte. Klar verfolgen Gruppen auch detailliertere Ziele, aber bleiben wir beim grossen Ziel, alle Menschenrechte wieder zurück zu bekommen. Und wieder als Ganzes zusammengefasst, ist das die Freiheit, für sich selbst entscheiden zu dürfen. Testen, Impfen, einsperren, Berufsausübung verbieten, alles soll jeder selber für sich entscheiden dürfen.

    Da ist nun mein Knopf in der Leitung: Wenn ich Freiheit über solche Entscheide fordere, wie soll ich denn gleichzeitig Alleinrecht beanspruchen? Mir ist doch völlig Wurscht, wie der Befürworter seine Test-, Impf- und was auch immer Entscheide fällt. Welches „Recht haben“ beanspruche ich dabei?

  • am 25.03.2021 um 20:15 Uhr
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    Die Voraussetzung sich überhaupt verständigen zu können, wäre ein gemeinsames Verständnis über Bedeutung u. Sinn von «Worten». (wie sieht «Kirschrot» aus ODER wie u. was ist «Intelligenz» ?
    Dass ‹Freund› im Deutschen eine ganz andere Bedeutung u. Sinn hat, als «friend» im engl./US-amerik. haben die allermeisten nicht gelernt, auch nicht SIR Karl.
    Zum Recht ausreden zu dürfen und gehört zu werden, sollte viel mehr die Pflicht der aufrichtigen Rede gehören (parrhesis). (Umfassende Kontexte brauchen eben mehr Redezeit.)
    Die eigentl. Phil. Methode ist der Dialog der Seele mit sich selbst und der gepflegte Dialog mit anderen, im Wechsel.
    Mir ist Qualität beim «Lernen» auch wichtig. (Welches Adjektiv/Eigenschaftswort sollte vor «Lernen» stehen», damit Lernen nicht beliebig wird ?

    Ich bin SIR Karl ob seiner ständigen logischen Widersprüche sehr dankbar, weil daraus der Geübte eher lernen kann, wie konstruktive Verständigung misslingt und „Überedung“ gelingt.
    Seine Beiträge zur Sprachverwahrlosung und zur Libertären Ideologie sind Teil der heutigen mangelnden Verständigung. Der Libertäre Friedrich von Hayek hat ihn aus dem Neuseel. Nichts zum Grossen Philosophen gemacht, zuerst an der LSE (London School of Ecnomics and Political Science) und von da wurde die Queen überredet, ihn zum Ritter zu schlagen.
    Geübten in ‹Dekonstruktion von Texten› empfehle ich ausdrücklich die Werke von ‹F. von Hayek›, L. von Mises u. «SIR Karl» zu lesen, um sich selbst ein ‹kritisches› Bild zu machen.

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