Radio, Musik und «Klassenkampf»
Thomas Läubli kreidet mir nach meinem ersten Beitrag zur kleinen Programmreform von DRS 2 zu SRF 2 Kultur unter anderem «alten Klassenkampf» an, weil ich vom «bürgerlichen Kulturkonsum» spreche. Dazu fällt mir manches ein. Unter anderem frage ich mich, wenn ich mich heute in der Welt umsehe, wie «alt» dieser Klassenkampf ist. Aber das ist hier nicht das Thema.
Ich bleibe hier also ganz bei der Sache «bürgerlicher Kulturkonsum». Und ich rufe dazu den Komponisten und Musiktheoretiker Hartmut Fladt als Zeugen auf, der im DRS-2 «Kontext» aufgetreten ist (»Kontext» vom 28. August 2012 zu Fladts Buch: «Der Musikversteher: Was wir fühlen, wenn wir hören» – vielleicht als Podcast noch greifbar). Eine seiner Kernaussagen ist die Feststellung, dass sich gesellschaftliche Gruppierungen, Schichten, Klassen (´tschuldigung) um ganz bestimmte Arten der Musik versammelt haben und immer wieder versammeln.
Wenn «bürgerlicher Kulturkonsum» zum Problem wird
»Bürgerlicher Kulturkonsum» meint hier also zunächst nichts anderes als jene Musik, um die sich das Bürgertum in seiner Entstehung und revolutionären Machtergreifung bis zum heutigen Establishment gruppiert – und dessen Kanon die alte Mattinate ziemlich gut abdeckte. SRF 2 Kultur tut das bis heute auch noch. Daran denke ich, wenn ich von «bürgerlichem Kulturkonsum» spreche. Er wird für ein Kulturradio dann ein Problem, wenn sich dieser Sender in einen klassen- oder schicht- oder gruppenspezifischen Kulturgarten einsperren lässt, wie zum Beispiel die alte «Mattinata» (und ein Stück weit auch der alte «Apéro»).
Kommt dazu, dass die grossen klassischen Komponisten selber gar nicht diese sozialen Scheuklappen trugen. Hartmut Fladt erinnert daran, dass Joseph Haydn, der bekanntlich seinen Lebensunterhalt von der ungarisch-österreichischen Aristokratie bezog (und mit «Gott, erhalte Franz, den Kaiser» die Melodie der heutigen, bürgerlichen deutschen Nationalhymne produzierte), – dass Joseph Haydn ziemlich revolutionär «Musik für alle» komponieren wollte. Und dass Mozart keine Berührungsängste hatte sondern für «das Volk», «für aller Gattung Leute» komponierte und sich ein Vergnügen daraus machte, mit populärer Musik das gemeine Volk zu erfreuen, zum Beispiel mit einem Singspiel wie «Die Zauberflöte»- Die regelmässigen DRS-2-Hörer wissen das, und somit wohl auch die Hörerinnen von SRF 2 Kultur.
Wiederbelebung durch Grenzüberschreitungen
Hartmut Fladt verweist aber auch auf die Wiederbelebung alter Werke durch musikalische Grenzüberschreitungen. Er spricht von den Bachtrompeten bei den Beatles (»All you need is love») oder von der Popgruppe «Queen», die ungeniert Johann Sebastian Bach zitiert. Jugendliche Rebellen wie die Beatles oder die Queens oder die Stones und etliche andere haben sich freihändig bei ihren (musikalisch) bürgerlich-revolutionären Vorvätern bedient, sie haben die klassischen Elemente umgepolt und sie eingesetzt als Mittel der Kritik am erstarrten bürgerlichen Establishment, das seine eigenen, klassen-übergreifenden Ideale weitgehend aufgegeben hat: Frieden und «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit».»Allons enfants…».
Es gab auch den umgekehrten Weg, vom Jazz oder Pop zurück zur Klassik oder sogar zur zeitgenössischen E-Musik-Improvisation. Jacques Loussiers «Play Bach» hat eine Generation zu Johann Sebastian gebracht und Peter Breiner hat Beatles-Melodien im Stil von Bach arrangiert – «The Beatles go Baroque». Oder, entschieden anspruchsvoller, das Modern Jazz Quartet, das zusammen mit dem Beaux Arts Trio und andern vor über 50 Jahren elektrisierende Aufnahmen produzierte (Third Stream Music).
Einstige Rebellen sind heute «Mainstream»
Heute ist die Mehrzahl der Rebellen weitgehend etabliert, ihre Musik breit akzeptiert. Die Popmusik der Beatles, Queen und vieler anderer ist Teil des «Mainstream» geworden. Jazz ist Teil des etablierten, kommerziellen oder subventionierten Kulturbetriebs oder wieder in die Spätprogramme des Radios und die knapp überlebenden Kellerlokale der Freaks verbannt. Die revolutionäre Sprengkraft von Beethovens 9. Symphonie ist längst für den politischen Alltagsgebrauch als Europahymne vereinnahmt. Und schon gar nicht mehr im allgemeinen Bewusstsein ist die Feststellung, dass Wolfgang Amadeus Mozart nicht nur unendlich schöne Musik geschaffen hat, sondern dass diese Musik – in den grossen Opern ausdrücklich – steht für Humanität, Menschenwürde, für eine emanzipierte Beziehung zwischen Frau und Mann und überhaupt für «das grosse unvollendete bzw. abgebrochene ‚Projekt Aufklärung’». (Ekkehard Krippendorff in: Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 1999)
»Ghöre und lose»
Musik – wie alle Kunst -, soll sie in einer dynamischen Gesellschaft ihre kulturbildende Kraft behalten, muss immer wieder erneuert, sprich: wiederbelebt werden. Neue, eigenständige Interpretationen oder ungewohnte Besetzungen, kurz: ein neu gearbeiteter (adäquater) Zugriff auf das Werk ist eine Möglichkeit, uns auch am frühen Morgen wach zu machen für die Substanz und nicht nur für den Wohlklang. Man kann es auch ganz einfach sagen, wie jüngst die Hörerin im Klassik-Telefon mittags um 13 Uhr: «Das möchte ich ghöre und lose» – hören und zuhören. Was zu Kultur und Bildung gehört, wie sie der deutsche Reformpädagoge Hartmut von Hentig definiert hat: Musik nicht nur hören, Musik bewusst hören.
Das andere ist die Konfrontation, wie sie kürzlich beim SRF 2-Kulturstammtisch stattgefunden hat, beim Gespräch über drei Musikfilme: Stéphanie Argerichs «Bloody Daughter» über die Beziehung zu ihrer Mutter Martha, Beat Lenherrs und Hannes Hugs «Generation Teleboy» über die epochemachende DRS-Big Band, und «Appassionata» über die offenbar etwas gefühlige Beziehung der Pianistin Alena Cherny zur Musik. Wenn dann am Ende des Gesprächs, wie geschehen, die Tonspur der DRS-Big Band einbricht in Chernys kräftige Interpretation von Mozarts Fantasie für Klavier (KV 475), macht das aufhorchen.
Geht es um Kultur oder geht es um Abgrenzung?
Das geht – wenn es zwei Kunstwerke sind, zwei Architekturen aus unterschiedlichen Epochen, die einander in ihrer jeweiligen Qualität bestätigen. Die einander erläutern, im Ähnlichen wie im Verschiedenen, im Gegensätzlichen wie im Gleichen. Und die als Werke vielleicht noch etwas sagen über ihre Entstehungsgeschichte und ihren gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang. Das kann Erkenntnisgewinn in Sekunden sein. Ohne Worte. Und vor allem: es sprengt die Norm, in der das Eine, die «Hochkultur» der Klassik, zur allein selig machenden «Kultur» erklärt wird und folglich alles andere zur minderwertigen Unterhaltung, die allein schon deshalb das Label «Kultur» nicht verdient, weil sich das gemeine Volk diesem Genuss hingibt. Die Frage lautet: Geht es um Kultur, oder geht es in Wirklichkeit um Abgrenzung durch Kunst und Kultur?
Der kleine Kulturkampf zwischen McDonald’s und dem Schauspielhaus ist eine Antwort. Andere sind möglich. Zum Beispiel im Programm eines Kulturradios.
(Fortsetzung folgt)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor war bis Ende 2004 in verschiedenen Funktionen Mitarbeiter der SRG.
Es ist immer etwas seltsam, wenn man über die Suchmaschine auf seinen eigenen Namen stösst. Sie haben meinen Kommentar nicht verstanden. Ich lehne den Begriff «Klassenkampf» in diesem Kontext ab, weil es hier gar nicht darum geht. Die DRS2-Hörer werden vor den Kopf gestossen, weil sie als Zielpublikum nun gezwungen werden, das zu hören, was sonst auch noch auf allen anderen Sendern läuft: Easy Listening, Politgeplapper, Pseudo-Diskussionen und Häppchen-Klassik. Letztere wird uns aufgedrängt, obwohl uns Frau Wappler empfiehlt, ausgerechnet auf Swiss Classic umzuschalten. Es geht nur darum, eine Ideologie durchzustieren, und die dummen Klassikhörer sollen endlich den Mund halten – das Publikum ist völlig egal.
Eine Kulturfunktionärin ohne musikalischen Leistungsausweis demontiert, ohne die Kunden zu fragen, einen Radiosender und zwingt dem Steuerzahler ihren absurden Kulturbegriff, dass alles Kultur ist, auf, so dass nun auch der Kulturplatz zu einem weiteren Polit- und Lifestylemagazin verkommt. Diese Arroganz ist zwar bei privaten Medien weit verbreitet, aber beim Service Public völlig deplaziert.
Ich fordere den Rücktritt von Natalie Wappler. In jedem privaten Unternehmen hätte jemand, der seine Kunden missachtet und deren Ansprüche beleidigt, schon längst den Hut nehmen müssen. Offenbar ist der öffentliche Rundfunk aber eine geschützte Werkstatt.
Wie absurd Ruoffs Meinung ist, zeigen auch seine Beispiele von Queen und Beatles. Das sind Gruppen, die man heute auf allen Kanälen hören kann. Warum diese ausgerechnet auch noch auf SRF2 erklingen und die Klassiker verdrängen sollten, kann uns Herr Ruoff nicht erklären. Wenn er der Meinung ist, Mozart und Haydn seien Beispiele von Crossover, dann sei ihm aus musikhistorischer Sicht gesagt, dass Crossover letztlich ein leerer Begriff ist. Wir finden bei den meisten Komponisten Grenzüberschreitungen in irgendeiner Form. Wenn sich eine Musik aber nur noch durch Grenzüberschreitung definieren kann, ist sie hohl. Originelles braucht keine Etiketten.
Ob jemand mit Breitenwirkung komponiert, ist hier völlig irrelevant. Musik hat für Kenner immer auch experimentellen Charakter. Ich verstehe, dass man als Laie sich selbstzufrieden auf die Schultern klopfen will, indem man behauptet, Musik komme aus dem Bauch heraus und sei Geschmacksache. Für jemanden, der sein Gehör an den Hochschule trainiert hat, ist eine solche Aussage nicht fundiert. Ich rate daher davon ab, sich als Laie über die Musik der Eliten zu äussern. Man kann sich dadurch nur lächerlich machen.
Der Schlüsselbegriff bei mir heisst nicht «Klassenkampf", sondern Bildung. Ich vertrete auch in der Musik einen Bildungsbegriff, wie er den Naturwissenschaften auch von der Allgemeinheit zugeschrieben ist. Dass Eliten bezüglich des Gehörsinns gerne der Arroganz bezichtigt werden, liegt nur daran, dass heute selbst «gebildete» Leute, sich an qualitativ schlechten Einheitsbrei halten. Und dann noch die Chuzpe haben, diesen den gebildeten Musikhörern aufzuzwingen, weil sie sich für etwas Besseres halten.