Parallelwelten oder Wenn Not erfinderisch macht
Nachdem verschiedene Medien während der letzten Wochen und Tage (wieder einmal) die Sozialhilfe thematisiert, u.a. den Fall einer «schrecklich teuren Familie» («Tages-Anzeiger») – die eine Gemeinde zur (Wieder-)Erhöhung des Steuerfusses zwinge – kolportiert und das Schweizer Boulevardblatt fast täglich den «Sozial-Irrsinn» gegeisselt hatte, versuchen die TeilnehmerInnen im inneren «Arena»-Ring am letzten Freitagabend, sich nicht in einen Schlagabtausch über Einzelfälle zu verstricken, bleiben ganz allgemein und ziemlich nett.
Caritas-Direktor Hugo Fasel spöttelt, es sei ja «spannend» und «unterhaltsam» über Einzelfälle zu reden – wahrscheinlich unterhaltsamer als das Leben des Einzelfalls –, am Grundproblem aber ändere sich nichts. «Einzelfälle zeigen etwas Grundsätzliches», insistiert der «Weltwoche»-Journalist Alex Baur zwar, hält sich dann aber doch weitgehend ans Allgemeine. Hat er Angst, es könnte ihm dasselbe passieren wie im schlagzeilenträchtigsten Einzelfall der letzten Jahre – «Carlos». Da gab er, und das ist ihm hoch anzurechnen, nachträglich zu: «Die Jugendanwaltschaft hat sich viel überlegt, auch das Thaiboxen können sie gut begründen, alles ist durchdacht. Es war nicht so zusammengebastelt, wie ich geglaubt hatte. Nach den anfänglichen Zweifeln war mir klar, das Setting für Carlos war gut. Ich hatte mich geirrt.» («Magazin», 3. August 2013)
Vom Allgemeinen …
An diesem Septemberabend hält er dann ganz allgemein fest, es gebe Fälle, «vor allem Familien, die von der Sozialhilfe ungleich viel mehr Geld erhalten als sie mit Arbeit vernünftigerweise verdienen können.» Das kann unterschiedlich interpretiert werden. Es gibt Arbeiten, die zu schlecht bezahlt werden; natürlich könnte man, sieht auch Baur diese Variante, die Löhne hinauftreiben; aber lieber ist ihm die andere, «oder man kann sagen, vielleicht ist die Sozialhilfe doch zu hoch.»
Dass 30-50% der Leute, die Anrecht auf Sozialhilfe haben, sie nicht beanspruchen, weil sie sich schämen würden – worauf Hugo Fasel aufmerksam macht –, nutzt der Publizist für seine Argumentationslinien. Offenbar verhungerten sie nicht, diese Bescheidenen (das sagt er nicht), bei denen die Kampagnen gegen den «Sozialmissbrauch» offensichtlich nachhaltigere Wirkung zeitigten als in den skandalisierten Einzelfällen. Und weil sie «auch nicht im Elend» lebten, folgert er kühn, «sind einfach diese Tarife viel zu hoch.» Vor den möglichen Konsequenzen seiner Denkfigur – a) da sind die paar «Missbrauchsfälle» finanziell ja ganz gut zu verkraften; b) dann könnten ja alle ohne Sozialhilfe leben – schreckt er zurück. Winkt den von der SKOS empfohlenen Grundbedarf von 986 Franken pro Person und Monat (zuzüglich Wohnung, medizinische Grundversorgung und situationsbedingte Leistungen) mit einem «Okay» grosszügig durch. Aber wegen dieser Zusatzleistungen sei die Sozialhilfe zu einer «Vollkaskoversicherung» geworden.
…zum Einzelfall
Jetzt schneidet die Regie auf Marta Marki – im Untertitel als Sozialhilfeempfängerin geoutet –, die in einer der hinteren Reihen mit gemischtem Blick und Gefühl verfolgt, wie da, ganz allgemein, über sie geredet wird. «Die Krippenzulage, die bekommen Sie doch», wird Moderator Jonas Projer ganz konkret und hält der berufstätigen Mutter in Weiterbildung das Mikrofon vor den Mund. Die, vermutlich, TV-Unerfahrene ringt in der «Arena» der Scheinwerferprofis manchmal nach Worten und muss zugeben: «Den subventionierten Platz bekomme ich.» Und der kleine Betrag, den sie für die Kinderkrippe noch zahlen müsste, der werde übernommen.
Das ist das Stichwort für Zusatz-Spezialist Baur: «Die Krippe wird Ihnen sowieso bezahlt, aber die Integrationszulage, das sind noch zweihundert Franken, die man bekommt, wenn man irgendwie noch ein Kürsli macht…» Die alleinerziehende Mutter wehrt sich, sie arbeite auch noch und versuche, sich weiterzubilden, «zu einem Fachausweis», damit sie wieder aus der Sozialhilfe herauskomme. Aber es sei «schwierig, die 200 Franken ‹verhebed ja gar nöd›, das Billet, das kostet mich ja schon allein dieses Geld…, es ist alles miteinander, das einen dann ersticken lässt, weil es unter dem Strich nicht reicht.»
«Ihnen», interveniert der in aktivem Zuhören (noch) nicht wirklich geübte Berater Baur, «geht es am besten, wenn Sie möglichst schnell wieder irgendwie in die Arbeitswelt hineinkommen …» Ihren Einwurf «Ich bin ja in der Arbeitswelt», überhört er. Er hat – wie das Publikum im Studio und zu Hause an den Flach- beziehungsweise den letzten Röhrenbildschirmen – eben gerade gelernt, dass die SKOS unter Existenzsicherung immer auch «Teilhabe und Teilnahme am wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben» versteht, und will dieses Wissen konkret anwenden: «Am sozialen Leben nehmen Sie teil, wenn Sie möglichst schnell wieder in einer Arbeitssituation drin sind.» Jetzt erinnert ihn der Moderator: «Sie hat aber grad gesagt, sie arbeite eigentlich.» Die Frau, um die es geht – und die später sagen wird «Luxus gibt es in meinem Leben nicht, auch für meinen Sohn nicht… Es kostet alles so viel Geld, es fehlt überall» –, murmelt leise, zu leise vielleicht: «Ich arbeite 60 Prozent.» «Dann sind Sie ja auf dem guten Weg.» Lobt Baur. Und jetzt wird das Gespräch wieder ganz allgemein.
Not macht erfinderisch
Keine und keiner fragt konkret nach, nach der Höhe ihres Lohns. Rechnen sie grad durch, ob sie selbst mit 60 Prozent ihres aktuellen Einkommens sozialhilfeberechtigt wären? Überschlägt der eine oder die andere im Studio, wie viel er beziehungsweise sie schon mit der sozialen Not anderer verdient hat? Der «Blick» hat am Morgen der «Arena» getitelt: «Hilfe, die Helfer sind überall». Und sich darüber entrüstet, dass (Einzelfall) ein Sozialbegleiter, «der mit Kindern den Zoo besucht», 135 Franken in der Stunde verdiene. Grad so viel wie ein Hochbau-Polier und mehr als ein Malermeister, der nur 119 Franken für die Stunde verrechnen könne. Die «SonntagsZeitung» wird nachlegen: «Sozialhilfe: 180 Fr pro Stunde für Begleitungen». Die «Auswüchse der Sozialindustrie» scheinen zu bestätigen, dass Not erfinderisch macht. Und wenn es nur die Not der anderen ist.
Eine Debatte über Löhne und Umsätze im «sozialen Geschäft» wäre, als Kontrast zur Diskussion über angemessene beziehungsweise überhöhte Sozialhilfe-Ansätze, durchaus spannend gewesen. Aber zum einen waren offensichtlich keine professionellen HelferInnen als Gäste geladen, zum anderen gab es, womöglich, eine allgemeine Angst vor einer generellen Lohn-Debatte. Die Kritik der Stundenlöhne von SozialhelferInnen dürfte ja nicht Halt machen vor den Ansätzen von JuristInnen, InformatikerInnen, OrganisationsberaterInnen, AnlageberaterInnen sowie LiegenschaftenmaklerInnen – die als AuftragnehmerInnen direkt oder indirekt aus staatlichen (Sozial-)Kassen bezahlt werden – und müsste konsequenterweise zu einer grundsätzlichen Diskussion über gerechte Löhne im Allgemeinen führen.
In der Not frisst der Teufel Fliegen
Am Tag, an dem ich diesen Text zu schreiben beginne, liegt das «Magazin» mit «Luxus»-Beilage, inklusive Zitat des irischen Schriftstellers und Musikers Spike Milligan in unserem Briefkasten: «Mit Geld kann man Glück nicht kaufen, aber es ist eine angenehme Form des Elends.» So wird Not ins Abstrakte verallgemeinert, konkret aber leben wir (das war schon immer so) in ungleichen Welten, die in Zeiten der Globalisierung vermehrt aufeinander treffen, in Parallelwelten, in denen die einen für eine Nacht im Hotel mehr ausgeben als sie anderen für ein Jahr Sozialhilfe zugestehen wollen.
Auch der junge Mann – den es, vermutlich, gibt, der zu Hause bleibt und Sozialhilfe bezieht, statt sich eine Arbeit zu suchen, mit dem alle in der inneren Runde ein «ernstes Wort» (Fasel) reden würden – sieht in Katalogen und Internet, dass andere Leute Uhren sowie Handtaschen kaufen und verschenken können, die weit mehr kosten als das Zehnfache des höchsten Jahreslohns, den er sich je erhoffen kann. Eine Gesellschaft, die Arbeiten derart unterschiedlich einstuft, dass sich die einen mit ihrem Stundenlohn zehn und mehr Arbeitsstunden von anderen kaufen können, die allen und allem einen ökonomisch höchst unterschiedlichen Wert zuschreibt, darf sich nicht wundern, wenn einzelne in der Not erfinderisch werden statt Fliegen zu fressen und sich in die am schlechtesten bezahlten Berufe abschieben zu lassen.
Seit die Parallelwelten (auch) international durchlässig geworden sind, machen ganz gewöhnliche Leute Ferien wie früher KönigInnen und reisen zu Hunderttausenden, ja, Millionen (vor allem aus den reicheren Ländern) um den halben Globus, um, beispielsweise, fünf Tage beim Segeln und Surfen vor brasilianischen beziehungsweise anderen südlichen Küsten zu chillen, sich an einem Bongo-Workshop in einem afrikanischen Dorf aufzutanken oder ganz einfach die Seele in Ländern baumeln zu lassen, wo die Leute zwar ärmer, aber herzlicher seien. Wenn die Herzlichen erfinderisch werden und ihr Glück in parallelen Welten, bei uns beispielsweise, suchen, werden sie als Wirtschaftsflüchtlinge oder in unsere Sozialsysteme Einwandernde diffamiert. Und dann ist Schluss mit dem Reisen in parallele Welten, mindestens in einer Richtung.
Gerechtigkeit statt Parallelwelten
Irgendwann an diesem Abend sagt Alex Baur den bedenkenswerten Satz: «Jede Sozialversicherung konkurrenziert und untergräbt die soziale Solidarität unter den Menschen.» Er hat recht – Sozialhilfe in (zunehmender Zahl von) Einzelfällen ist ein Indiz dafür, dass (ganz allgemein) etwas nicht stimmt. Wären Einkommen, Vermögen, Erwerbs-, Bildungs- und Lebenschancen solidarisch verteilt, es brauchte keine staatliche Umverteilung qua Steuern und Sozialhilfe. Die Grafikerin Manuela Pfrunder hat in ihrem Buch «Neotopia» ausgerechnet, was unbegrenzte Solidarität zwischen Ost und West, Nord und Süd, Zürich und Burundi konkret bedeuten würde: «60 Tage im Jahr leidet der Mensch an Hunger… 14 Jahre und 8 Monate im arbeitsfähigen Alter ist jede einzelne Person arbeitslos… Alle 70 Jahre erhalten wir ein neues Paar Jeans…» Hat er das gemeint? Ganz allgemein? Ganz konkret?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine