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«Brüssel», die populäre Kurzform, wenn die EU-Kommission gemeint ist, erhält mehr Kompetenzen – auch zum Nachteil der Schweiz. © EU

Neue Handelspolitik der EU bedrängt auch die Schweiz

Markus Mugglin /  Die EU will sich handelspolitisch besser schützen. Deshalb wird der Spielraum auch für Schweizer Sonderwünsche enger.

«Für die Schweiz sind dies keine guten Neuigkeiten», warnt die Expertin für Wirtschaftsvölkerrecht Charlotte Sieber-Gasser in einem soeben publizierten Fachartikel unter dem wenig aufschreckenden Titel «Offene strategische Autonomie in der EU-Handelspolitik». Die Warnung gründet auf der am 18. Februar dieses Jahres publizierten Mitteilung «Trade Policy Review – An Open, Sustainable, Assertive Trade Policy», in der die EU-Kommission die neue Handelspolitik der Union darlegt und erläutert. Offen, nachhaltig und durchsetzungsfähig lautet die handelspolitische Ansage.  

Die EU-Kommission erwähnt die Schweiz in der 23 Seiten langen Mitteilung nur in einem einzigen Satz, in welchem auch noch die Türkei adressiert wird: «The EU also looks forward to the modernisation of its trade and economic relationship with Switzerland as well as with Turkey, provided the right conditions are met.» Die EU freue sich auf die Modernisierung ihrer Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit der Schweiz und der Türkei, sofern die richtigen Bedingungen erfüllt sind. Das tönt harmlos, ist es aber trotzdem nicht. Denn zu den sogenannt «richtigen Bedingungen» ist ein institutioneller Rahmen gemeint, dem die Schweiz in den jahrelangen Verhandlungen nicht zustimmen wollte.   

Handelspolitische Wende  

Um die «richtigen Bedingungen» geht es der EU generell in ihrer neuen Handelspolitik. Sie ist auf eine «offene strategische Autonomie» ausgerichtet. Mit «strategischer Autonomie» findet ein Begriffspaar Eingang in die Handelspolitik, das bisher den Bereichen Aussen- und Sicherheitspolitik vorbehalten war, merkt die an den Universitäten Zürich und Luzern lehrende Charlotte Sieber-Gasser in ihrem in der Fachzeitschrift «EUZ» publizierten Artikel an. Das heisst: Die EU will ihre Interessen effektiver durchsetzen und gegen aussen verteidigen.

Durch neue interne und externe Entwicklungen fühlt sie sich dazu gedrängt. EU-intern erwähnt Charlotte Sieber-Gasser die Bedenken bezüglich Menschenrechte, Klimawandel, unfairer Wettbewerb und öffentliche Dienste, die den Abschluss herkömmlicher Freihandelsabkommen zusehends schwieriger machten. Als EU-externe Gründe listet die Handelsexpertin die Auseinandersetzungen USA – China, den US-amerikanischen Trend zu «America first» und die in der Covid-19-Krise offengelegten Schwächen in den internationalen Lieferketten und die Digitalisierung auf.  

Damit es nicht nur bei leeren Parolen bleibt, rüstet sich die EU mit mehreren Druckmitteln aus. Schon vor der Mitteilung vom Februar dieses Jahres hatte sie begonnen, nicht mehr nur zu drohen, in Konfliktsituationen Streitbeilegungsverfahren einzuleiten. Sie mache es jetzt auch, stellt die Handelsexpertin Charlotte Sieber-Gasser fest. Neu gab sich die EU im Februar auch das Mittel von Handelssanktionen, wenn eine Gegenpartei ein Streitbeilegungsverfahren blockiert. Sanktionen werden auch über den Ausschluss beim öffentlichen Beschaffungswesen erwogen. Und als Reaktion auf die durch die Covid-19-Pandemie offengelegten Schwächen will die Union ihre wirtschaftliche Resilienz auch handelspolitisch gegen globale Schocks stärken.

Zu den neuen Grundsätzen und Druckmitteln in der Handelspolitik kommt noch eine neue Kompetenzordnung innerhalb der EU hinzu. Sie verfüge gemäss EuGH neu «über weitläufigere ausschliessliche Kompetenzen in der Aussenhandelspolitik als bisher angenommen», hält Charlotte Sieber-Gasser fest. Die bis vor kurzem weitverbreitete Meinung, dass Handelsabkommen sogenannte «gemischte Abkommen» seien und die Mitgliedstaaten deshalb ein Veto einlegen könnten, sei überholt. 

Neue Kompetenzordnung mit Folgen für die Schweiz

Dass dies nicht nur Theorie ist, zeigt das Brexit-Abkommen mit Grossbritannien. Seitens der EU hat die Kommission das Abkommen in alleiniger Kompetenz ausgehandelt und ratifiziert – und nicht mehr wie im Falle des CETA-Abkommens mit Kanada, das zusätzlich auch von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss.

Was die Briten zu akzeptieren hatten, wird wohl auch für die Schweiz gelten. Charlotte Sieber-Gasser meint deshalb: «Entsprechend stösst die bisherige Politik der Schweiz über die Pflege der nachbarschaftlichen Beziehungen auch gesamteuropäisch Einfluss zu nehmen, an ihre Grenzen.» Und weiter: «Ist die EU ausschliesslich zuständig für die Verhandlungen und den Abschluss neuer Abkommen mit der Schweiz, spielt es weniger eine Rolle, welche Position Deutschland oder Österreich vertritt.»

Die seit dem Verhandlungsabbruch von Ende Mai ausgelöste Hektik an direkten Kontakten mit EU-Mitgliedstaaten dürfte deshalb nur begrenzt Wirkung haben. Der wiederholt erhobene Vorwurf an die Adresse der EU-Kommission, sie funktioniere «technokratisch», wirkt angesichts der neuen Handelspolitik hilflos. Er steht in Widerspruch zur Behauptung, die Realitäten anzuerkennen, was Bundesrat Ignazio Cassis vor seinem Treffen mit dem EU-Kommissionsvizepräsidenten Maros Sefcovic im Interview mit der NZZ (9. November 2021) noch für sich beansprucht hatte.  

Wenn selbst der forsch auftretende Brexiteer Boris Johnson in eine Streitbeilegung mit Schiedsverfahren einwilligte und gleiche Wettbewerbsbedingungen im Brexit-Abkommen anerkannte, warum soll der Schweiz eine Ausnahme gewährt werden? Auch der als Freund der Schweiz gepriesene EU-Parlamentarier Lukas Mandl aus Österreich hat jüngst im «Tagesgespräch» auf Radio SRF und am Europatag der «Europäischen Bewegung Schweiz» klar gemacht, dass auf dem EU-Binnenmarkt auch für die Schweiz die gleichen Regeln inklusive Streitbeilegungsverfahren gelten müssten.    

Drohen Sanktionen?

Bleibt die Frage, was geschieht, sollte die Schweiz trotzdem nicht in ein Streitbeilegungsverfahren einwilligen. Die auf Wirtschaftsvölkerrecht spezialisierte Charlotte Sieber-Gasser warnt: Die EU verfüge mit der neuen Verordnung über die Handelsvergeltung «potenziell schon heute über die erforderliche Rechtsgrundlage, Handelssanktionen gegen die Schweiz zu ergreifen». Insbesondere die in den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen ungelöst gebliebenen Streitfragen flankierende Massnahmen, Staatsbeihilfen und Unionsbürgerrichtlinie könnten betroffen werden. Dagegen könnte die Schweiz wenig tun, solange sie sich nicht auf ein Streitbeilegungsverfahren einlässt.

Wer mit der EU verhandelt oder auch nur einen politischen Dialog führen will, tut gut daran, sich nicht nur mit innenpolitischen Befindlichkeiten zu befassen, sondern auch Änderungen auf EU-Seite ins Kalkül miteinzubeziehen. Sie will im Kampf der Giganten USA – China nicht zerrieben werden, die Handelspolitik auf Nachhaltigkeit ausrichten und sie will ganz besonders den Binnenmarkt besser vor unfairem Verhalten schützen. Für Sonderwünsche bleibt weniger Platz als bisher – auch für die Schweiz. Die EU könnte durch die neue Handelspolitik sogar «bereit bis gar verpflichtet» sein, in bilateralen Streitigkeiten eine Einigung zu erzwingen, mahnt Charlotte Sieber-Gasser zur Vorsicht.

Ob es der Schweiz gefällt oder missfällt. Die EU wandelt sich – dessen muss man sich bewusst sein.     


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Die EU und die Schweiz

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2 Meinungen

  • am 8.12.2021 um 11:28 Uhr
    Permalink

    Solange die EU dank dem bestehenden Freihandelsabkommen mit der Schweiz einen jährlichen Handelsbilanzüberschuss von 20 bis 30 Milliarden Euro aus der Schweiz herausholt, wird Brüssel drohen und schwadronieren, aber auf keinen Fall die Wirtschaftsbeziehungen zur Schweiz abbrechen.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 8.12.2021 um 14:20 Uhr
    Permalink

    Als wir über die Liberalisierung von Parallelimporten von Medikamenten diskutierten, hätten wir gerne auf gewisse Urteile des EUGH zurückgegriffen. Dieser stellte klar die Handelsfreihit über die Freiheit territorialer Interessenvertretung.

    Das erschien aber aus CH-Sicht schon damals inakzeptabel.

    Dass der «freie Markt» alles regeln sollte, also selbst kollektive Dienstleistungen wie diejenige der kantonalen Gebäudeversicherung oder der Basisversicherung im Gesundheitsbereich überstieg aber schon damals unser Verständnis von sozial gerechter Organisation «naturbedingter Monopolsituationen».

    In einem Papier «Solidarität aus Eigennutz» hatte ich damals plädiert «dass der Blitzableiter auf dem Dach des Nachbarn auch mein Haus schützt» und deshalb die kantonalen Gebäudeversichrungsmonopole als im Interesse der Konsumenten stehend begrüsst. Die Prämien der Monopolanstalten in diesem Bereich sind denn auch bloss eine Fraktion der «neoliberalen», EU-kompatibeln Privatassekuranz.

    Auch in der Gesundheitsversicherung wird Prävention auf der Basis diffuser Privatinteressen öffentlich verhindert.

    Die EU ist auf ein paar dogmatische «neoliberale» Grundwerte eingeschworen und jede Abweichung von diesem Dogma ist potentiel von einer wirtschaftspolitischen Sanktionspolitik bedroht.

    Aus meiner Sicht hat die EU-Burokratie die «Grundwerte» Europas weitgehend verloren und ist zum administrativ dominierten Krämerstaat verkommen.

    Wissen die Europäer dass Erasmus mal in Basel gelehrt hat ?

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