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«Nagra angebohrt»: Eine alte Broschüre neu gelesen

Marcos Buser und Walter Wildi /  Zwei prominente Atomkritiker zeigen anhand einer Broschüre aus dem Jahr 1982: Das Atommüll-Problem wurde bis heute konserviert.

Red. Die beiden Geologen Marcos Buser und Walter Wildi gehören seit Jahrzehnten zu den prominentesten Kritikern der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra), dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) und dem zuständigen Bundesamt für Energie (BFE). Näheres über die beiden Autoren findet man hier. Der vorliegende Beitrag erscheint ebenfalls auf dem Blog «Nuclear Waste», den Buser und Wildi gemeinsam betreiben.

Ende Januar 2017 verschickte die unabhängige Plattform «G20, die ausgewählten Bözberg-Gemeinden für das Endlager Atommüll», einem weiten Kreis von Interessenten den Nachdruck einer 1982 erstmals publizierten Broschüre der Interessengemeinschaft pro Fricktal mit dem Titel «Nagra angebohrt» zu. Diese Broschüre entstand in Zusammenhang mit dem Kristallin-Programm der Nagra und der Absicht der Genossenschaft, eine der geplanten 12 Tiefbohrungen in Hornussen auszuführen.

Das Tiefbohrprogramm der Nagra hätte ein Grundpfeiler des sogenannten «Gewähr-Projektes» sein sollen, das innerhalb von sechs Jahren (1979 – 1985) den vom Parlament im Bundesbeschluss vom 6. Oktober 1978 geforderten Nachweis der «dauernden, sicheren Entsorgung und Endlagerung» erbringen sollte.

Wie bekannt, wurde die entsprechende Dokumentation zum sogenannten «Entsorgungsnachweis» erst 2002 von der Nagra eingereicht (17 Jahre später) und 2006 vom Bundesrat akzeptiert (21 Jahre später). Dieser «Nachweis» beruhte nun allerdings auf einem Tongestein; denn das Kristallin (Granit, Gneis) als Wirtgestein erwies sich als derart fatale Fehleinschätzung, dass das «Gewähr»-Projekt in dem Fiasko endete, das kritische Sachverständige längst prophezeit hatten.

Ein kurzer Rückblick in die damalige Zeit

Wie auch beim heutigen Standortsuchprozess – dem Sachplan geologische Tiefenlager – standen schon damals die Interessen beim Ausbau der Atomenergie im Vordergrund der Überlegungen von Bund und Stromwirtschaft. Denn vergessen wir nicht: Parallel zur Erarbeitung des Sachplankonzepts liefen im letzten Jahrzehnt ja umfangreiche Untersuchungen für den Ersatzneubau der Atomkraftwerke Beznau, Mühleberg und Gösgen, die erst im Zuge der europäischen Stromschwemme, dem Preiszerfall auf dem Strommarkt und dem schweren Unfall in Fukushima de facto eingestellt wurden.

Doch blenden wir nochmals zurück: Zu Beginn der siebziger Jahre begann sich in Europa wie in den USA eine zunehmend mächtige Opposition gegen die Nutzung der Atomenergie zu bilden. Ein erster Erfolg gelang dieser Opposition mit der Besetzung des Baugeländes des geplanten AKW Whyl bei Freiburg (D) im Februar 1975, die zur Aufgabe dieses Projektes führte. Die Besetzung des Geländes des geplanten AKW Kaiseraugst folgte bereits im April 1975.

Im Juni 1975 lancierten die gemässigten atomkritischen Kräfte ihre Atomschutzinitiative «zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen», welche die Konzessionspraxis von Atomkraftwerken in der Bundesverfassung ergänzen sollte. Dann, ab 1977, kam es rund um das geplante AKW Graben bzw. das im Bau stehende AKW Gösgen zu zunehmenden Konflikten.

Eines der zentralen Argumente gegen den Bau neuer AKW war das ungelöste Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle. Diese Entwicklungen übten grossen Druck auf Bundesrat und Parlament aus und führten schliesslich zur allseitig akzeptierten dringenden Revision des veralteten Atomgesetzes von 1959 und dem weiter oben erwähnten «Gewähr»-Passus.

Das erfolglose, auf kleiner Flamme gehaltene Standortsuchprogramm für schwach- und mittelradioaktive Abfälle in Anhydritgesteinen des Tafeljuras und der Alpen löste die Branche ab dem Jahr 1978 durch ein gross angekündigtes 200-Millionen-Franken schweres Forschungsprogramm ab, welches die – von Bundesbehörden und Atomindustrie – ersehnte Gewähr «für die dauernde sichere Entsorgung und Endlagerung» radioaktiver Abfälle aller Kategorien innerhalb von nur gerade sieben Jahren erbringen sollte.

Als Lagergestein für die hochaktiven Abfälle wählten die Verantwortlichen der Nagra – nach dem Vorbild der Schweden – das kristalline Grundgebirge der Nordschweiz aus. Den in Betrieb stehenden, im Bau oder in fortgeschrittener Planung befindlichen Werken machten die zuständigen Bundesbehörden die Auflage, diese «Gewähr» bis zum Jahr 1985 zu erbringen, andernfalls die Werke den Betrieb einstellen müssten.

Am 24. Juni 1980 ersuchte die Nagra beim Bund um die Bewilligung von 12 Probebohrungen im Rahmen des erwähnten Forschungsprojektes (siehe Grafik unten) – 1700 Seiten in 42-facher Ausführung insgesamt oder «rund eine Tonne technische Unterlagen». Eine wahrhaft gewichtige Angelegenheit, die auch schwer auf dem Fricktal zu lasten begann und zu ausgeprägtem Widerstand führte.

Das Sondier-Programm der Nagra (Nagra informiert 1980, Nr. 2, S. 7): Die Standorte für die 12 Tiefbohrungen, welche die Nagra als unteilbares Ganzes betrachtete.

Die Broschüre der IG pro Fricktal

Die Interessengemeinschaft pro Fricktal konstituierte sich in dieser Zeit als Bürgerforum zur Wahrnehmung der Interessen der Bürger der Talschaft. Deren Mitglieder setzten sich nicht nur gegen Projekte der Atomwirtschaft ein, sondern verfolgten auch regionale Interessen im Verkehrs-, Bildungs- und Familienbereich. Die Pläne der Nagra im oberen Fricktal lösten damals grosse Betroffenheit aus und führten letztendlich Mitglieder der IG pro Fricktal dazu, eine Broschüre zu diesen Ereignissen zusammenzustellen und im April 1982 zu veröffentlichen.

Die Broschüre zeichnet in einem grossen Bogen die Situation um die Entsorgung der radioaktiven Abfälle aus der Sicht der betroffenen Bevölkerung im Fricktal nach. Zunächst erinnern die Autoren an den «Weg der Nagra ins Fricktal», der zunächst mit den Untersuchungen der 1970er Jahre an Anhydritgesteinen im Aargauischen Tafeljura begann.

Danach geben sie einen Überblick über die Probleme der Wiederaufarbeitung, des Transports und der Nasslager für Brennelemente, bevor sie wieder auf die Geschichte und den Leidensweg des Fricktals in Sachen Atommüll zurückkommen. Von den Plänen der Atomwirtschaft erfährt die Bevölkerung des Fricktals – und insbesondere jene von Hornussen – durchs Mittagsradio (S.19): «Am Nachmittag flatterte die entsprechende Mitteilung in ihre Briefkästen» und «Mit umgekehrten Vorzeichen verlief das entsprechende Geschäft in Kaisten».

Die Autoren bemängeln die Informationspraxis der Genossenschaft, die sie als «völlig undurchsichtig» bezeichnen und die «weitgehende Betroffenheit» bei der Bevölkerung auslöst. Diese Praxis ist eine Konstante bei der weiteren Information der Bevölkerung. «Erst unter dem Druck der Ereignisse wurden dann – auf Anregung der Gemeindebehörden oder einzelner Anwohner – Orientierungsabende für die Bevölkerung durchgeführt» (S. 20). «Sehr eigentümlich entwickelte sich die zweite Informationsrunde in Hornussen: Ein der Nagra nicht genehmer Experte wurde auf Druck der Atommüllfirma einfach wieder ausgeladen.»

Einer der beiden Autoren dieses Artikels mag sich sehr genau an diese Ausladung erinnern. «Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Nagra verdichtete sich, als vermehrt offene und ungelöste, wenn nicht gar unlösbare Probleme der Atommüllbeseitigung ruchbar wurden» (S. 20), konstatiert die Broschüre und stellt verschiedene Materialien und Statements von Stromwirtschaft, Behörden und Wissenschaftlern zusammen.

Eine davon ist die «Lego-Karte» der Stromwirtschaft (siehe Bild oben), die ein Endlager vom Typus Salzbergwerk Asse darstellt, in das ein gelber Legostein aufgeklebt ist. Ein Teil des Textes wird in der Broschüre aufgeführt: «Die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist technisch gelöst, die Realisierung ist auch in der Schweiz möglich. Sie wird zur Zeit aber noch durch politische Widerstände verzögert.» Das Sozialarchiv Zürich archivierte diese aussagekräftige Schulungs- und Propagandakarte der Atomwirtschaft.

Aber auch das Hearing der Schweizerischen Energie-Stiftung im Januar 1979 – vor der Abstimmung der «Eidgenössischen Volksinitiative zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen» – war der Broschüre nicht entgangen: Zur Frage der Lösung des Atommüllproblems hatte der damalige Direktor des Bundesamts für Energie folgende Aussage gemacht, welche die Broschüre (S. 22) aufnahm:

«Wir sind in der Tat in einer Zwischenphase, in der wir in der Schweiz zwar Abfälle produziert erhalten, aber noch keine definitive Lösung für deren Beseitigung besitzen. Wir können deshalb die Atomkraftwerke nur aus dem Grunde weiterbetreiben, weil die Sicherheitsbehörden der Überzeugung sind, dass auch in der Schweiz eine Lösung gefunden werden kann. Diese Lösung ist bis jetzt noch nicht gefunden, weil die Nagra nicht in der Lage war, Probebohrungen zu machen.»

Die Suche dauert seit 39 Jahren bis heute an. Und so geht es weiter bei der Aufdeckung der Manipulation um die Entsorgung atomarer Abfälle. «Die ‚Gewähr’ wird zur Farce», heisst ein weiteres Kapitel der Broschüre, das die systematische Aushöhlung des Bundesbeschlusses von 1978 aufzeigt. Um zu folgern: «Die ständigen Verletzungen der eigenen Gesetze durch die verantwortlichen Nagra und Bundesbehörden lassen für die Zukunft nicht viel Gutes erahnen. Denn es steht jetzt schon fest, dass das Projekt ‚Gewähr’ in erster Linie dazu benützt werden soll, den Betrieb der bestehenden Atomkraftwerke aufrechtzuerhalten und den Bau weiterer Atommeiler zu ermöglichen» (S. 29).

Danach geht die Broschüre auf die Widersprüchlichkeit von Expertenmeinungen ein (S. 30-32), bevor sie sich den Widersprüchen der Aussagen der Nagra annimmt, insbesondere zu den Kriterien der Standortwahl. Dazu wird nicht nur ein lesenswertes Zitat eines Professors zitiert, der eine manipulierte Standortwahl mit einem Wettschiessen auf eine blanke Wand vergleicht, bei der man erst nach Abgabe der Schüsse die Zielscheiben um die Einschussstellen malen würde.

Auch die Nagra wird dazu zitiert: «Die Nagra will aber eben die Kriterien nicht vorher erarbeiten und sagt dies auch deutlich (Mai 1980), dass nämlich schon das erste Bohrloch ein Forschungsprogramm mit entsprechenden Kriterien ‚über den Haufen werden könnte‘. Also werden bei der NAGRA die Kriterien ‚den beim Bohren gewonnenen Erkenntnissen angepasst’ » (S. 36). Und so folgern die Autoren, dass das Vorgehen der Nagra erwiesenermassen grundsätzlich unwissenschaftlich sei: «Dass der Bund dies zulässt, ist skandalös.» (S. 36).

Das nächste Kapitel ist den Terminen gewidmet, bei dem die Autoren feststellen, dass diesbezüglich nur Verwirrung herrsche (S. 37). Was bis heute eine Konstante ist. Das folgende Kapitel ist der Frage gewidmet, wie es die Atomindustrie schafft, den Schacht zum Endlager zu bekommen (S. 38-40).

Zwei weitere Kapitel widmen sich der Transformation des «nationalen Sachzwangs» zur «nationalen Aufgabe» (S. 41-45), um danach die Alibiübung der Einspracheverfahren aufzudecken (S. 46-47). Schliesslich legen die Autoren die Konsequenzen des Endlagers für die betroffenen Regionen plastisch dar (S. 48-51), bevor sie eine Synthese ihrer Erkenntnisse im Sinne eines Aufrufs niederlegen (S. 52-53). Wer diesen Aufruf heute nach immerhin 36 Jahren liest, der fühlt sich in die heutige Situation versetzt.

Lügenkultur auf dem Prüfstand

Die kleine Broschüre ist ein Zeitdokument von grossem inhaltlichen Wert. Die Autoren zeigen mit einfachen Worten und einfachen Beispielen die Lügenkultur auf, die bereits zu dieser Zeit in der Endlagerungsdebatte herrschte. Denn der Begriff der Lügenkultur hat sich mittlerweile in der Wissenschaft etabliert und wird als die Befähigung oder das Talent verstanden, Sachverhalte zu verschleiern, zu vertuschen, zu verdrehen oder zu verleugnen.

Und diese Lügenkultur ist fest in dieser Industrie etabliert, wie ein Blick auf die Entwicklung des Atomprogramms der letzten Jahrzehnte zeigt, sich aber auch mit Blick auf die Sachplanprozesse erschliesst. Es sind immer die gleichen Mechanismen, die zur Täuschung angewendet werden: Optimistische Prognosen, phänomenale Planungen und Projekte mit absolut phantastischen Zeitplänen, dünne methodische Vorgehensweisen, laufende Anpassung von Programmen, Zeitplänen, Zielen und Vorgehensweisen, alles mit der grosser PR-Kelle angerührt, Versprechen, die nie eingehalten werden, und die von immer neuen Versprechen abgelöst und übertüncht werden.

Natürlich hat die Atomindustrie aus den vergangenen Niederlagen der letzten Jahrzehnte ein klein wenig gelernt. Nicht viel, aber immerhin: Es werden heute keine plumpen Werbe-Postkarten mit aufgeklebten gelben Legosteinen mehr verteilt. Die Propaganda ist professioneller geworden, aber nicht minder durchschaubar. Die Aktionen der Nagra und ihres leitenden Personals sind durchsichtig und fassbar geblieben.

In vielen grundsätzlichen Formen erinnern die in der Broschüre beschriebenen Handlungen denen, die auch im Sachplanverfahren wiederholt werden: Manipulationen an Planungen und Terminen, grossspurige Versprechungen, die nicht eingehalten werden, ein dauerhaftes Lavieren zwischen Positionen, das Ducken und der Opportunismus vieler Experten, die Komplizität der staatlichen Instanzen bei der Deckung dieser Missstände, und schliesslich alle Formen der Repression gegen jene, die dieser Lügenkultur entgegentreten: Von der Diffamierung über den Ausschluss von Andersdenkenden bis hin zu Anklagen via Bundesanwaltschaft, die angesichts deren Absurdität eingestellt werden müssen. Das Sammelsurium dieser Beispiele zeigt jedenfalls etwas sehr eindrücklich auf: Lügen haben kurze Beine. Das Sprichwort trifft den Kern der Sache sehr genau.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

siehe oben

Zum Infosperber-Dossier:

Atomfass

Atommüll Jahrtausende «entsorgen»

Weltweit werden sichere Lagerstätten gesucht. Künftige Generationen sollen damit nichts zu tun haben.

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Eine Meinung zu

  • am 13.02.2018 um 06:41 Uhr
    Permalink

    Guten Morgen, besten Dank für den Artikel. Die Wortkombination „Lügenkultur“ gefällt mir und trifft genau den heutigen Zeitgeist. Dass sich daraus eine „Lügenpresse“ ableitet, liegt auf der Hand. Interessanterweise haben PR Leute einen Ehrenkodex nach dem sie sich richten (wollen/sollen/dürfen). https://prsuisse.ch/de/pr-der-schweiz/pr-wissen/berufsethik, da meine Enkel Märchen lieben, werde ich ihnen das mal vorlesen.

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