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Fremdbestimmter Frontalunterricht mit vorgegebenem Lerninhalt © algogenius/Flickr/CC

Mit Zwangsvorgaben scheitert das Lernen

Jürgmeier /  Schülerinnen und Schüler müssen mit bestimmen können, was sie wie lernen sollen. Plädoyer für eine radikale Umkehr der Lehrkultur.

Die Klage ist bekannt: Ein Kampf um Ruhe und Aufmerksamkeit der Lernenden, um Respekt gegenüber Menschen und Infrastruktur prägt den schulischen Alltag. Didaktische Verführungskünste, chemische Motivationsschübe und Sanktionsandrohungen sollen Lernende zu Bildung sowie Respekt gegenüber anderen beziehungsweise anderem führen. Diesem Kampf liegen eine ganze Reihe ungelöster und vielleicht sogar unlösbarer Konflikte zugrunde.

Fixierte Tische und Lehrpläne
Als ich im Rahmen einer von mir geleiteten Weiterbildung von Lehrpersonen in Berufsfachschulen meine Irritation über das klassische Frontalunterrichtssetting formulierte, entschuldigte sich der Verantwortliche, das sei halt die Normalbestuhlung, und erzählte mir von einem neuen Schulhaus, in dem die Tische in dieser Reih-und-Glied-Stellung sogar am Boden festgeschraubt seien, ganz wie früher, nur mit Computerzugang statt Tintenfass.
Die fixierten Tische sind Symbol dafür, dass die Lernenden in der Schule starren Infrastrukturen, Logistiken und Lehrplänen unterworfen werden.
Für den Architekturprofessor Peter Hübner sind «die hallenden Flure und die daran aufgereihten, standardisierten Klassenzimmer» die architektonischen Erziehungsmerkmale eines Schulhauses. «Da geht man hin», sagte er in der NZZ, «weil man beordert wird. Das steht im Gegensatz zur zeitgemässen Auffassung von Lernen.»

Die Schule ist aus Sicht der Lernenden durch vorbestimmte Strukturen, Regelungen und Materie gewordene Erwachsenenvorstellungen geprägt. Sie wird nicht als eigener Raum wahrgenommen; auch wenn in vielen Leitbildern von «unserer Schule» die Rede ist, die Lernenden werden es kaum je so empfinden. Deshalb wird das Schulhaus von ihnen (wie der öffentliche Raum ganz generell) benutzt, aber mit wenig Sorgfalt; Vandalismus liesse sich übrigens auch als Versuch verstehen, sich diesen fremden Raum doch noch anzueignen.

Alles perfekt wenn nur die Schüler nicht wären…
Wenn nach den Ferien – in denen das Schulhaus geputzt, die Infrastruktur repariert und poliert, neue Stundenpläne ausgeklügelt, aktualisierte Unterlagen kopiert worden sind – die Lernenden die herausgeputzten Zimmer gezwungenermassen stürmen, mag manche und mancher heimlich seufzen: «Es würde alles so perfekt funktionieren, wenn nur diese Schülerinnen und Schüler nicht wären.» Architektur, Lehr-, Stoff- und Stundenpläne rechnen nicht wirklich mit den Lernenden. Weil sie immer auch Besseres, Lustvolleres oder Belastenderes zu tun hätten, sabotieren die Schülerinnen beziehungsweise Schüler die perfekte Schule, spielen die ihnen zugedachte Rolle in diesem gut gemeinten beziehungsweise durchdachten pädagogischen Stück nur mit halbem Kopf und Herzen. Damit kränken sie nicht selten auch die Eitelkeit der Lehrpersonen, die sich unvorsichtigerweise die Verantwortung für die Motivation der Lernenden haben aufbürden lassen.

Vom Recht auf Bildung zum Zwang zur Bildung
Die Volksschule ist ein kulturelles Paradox – sie macht aus dem Recht auf Bildung eine Zwangsveranstaltung, so wie die Demokratie gefährdet ist, das Stimm- und Wahlrecht aller Bürgerinnen beziehungsweise Bürger zur staatspolitischen Pflicht verkommen zu lassen. Ihren Kundinnen und Kunden, wie Lernende heute auch schon mal genannt werden, verordnet die Schule, was diese konsumieren sollen. Als würde uns im Shopping-Center befohlen, zwei Kilo Bohnen und drei Biohemden zu kaufen.
Lehrpersonen werden zu Stalkerinnen und Stalkern, die sich den Lernenden mit ihrem Stoff aufdrängen. Oder können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass ein begeisterter Theaterbesucher sich über ein Stück freut, das nach dem ersten Akt beendet wird, dass ein Fussballfan froh ist, wenn die Spielerinnen nach der ersten Halbzeit in der Garderobe bleiben oder ein Patient darauf hofft, dass die Zahnärztin die Behandlung nach genau 45 Minuten mit dem Hinweis abbricht, sie mache da in einer Woche weiter?

Mit Listen und Bussen an den Bildungstrog treiben
Die Schule verordnet, was nicht verordnet werden kann – das Lernen. Das Einzige, was eingefordert werden könnte, ist die Gebärde des Lernens, das äusserliche So-tun-als-ob, der innere Lernprozess aber entzieht sich jedem Marschbefehl. Daran ändert auch die selbst in der Erwachsenenbildung mit Absenzenkontrollen durchgesetzte Präsenz der Lernenden nichts.
Die Absenzenliste entspringt einer ähnlichen Denkfigur wie die Berliner Mauer – Menschen sollen zu ihrem eigenen Glück gezwungen und vor fremden Verlockungen geschützt werden. Die Berliner Mauer sollte Menschen daran hindern, aus dem «besten aller Staaten» auszureisen; die Absenzenliste soll die Lernenden an dem Ort festhalten, der ihnen die beste aller möglichen Zukünfte verspricht. Aber eine Schule, die Lernende mit Listen und Bussen an den Bildungstrog zu treiben versucht, verrät, dass sie nicht (mehr) an sich glaubt.

«Erziehung muss gegen den Strich bürsten»
All dem zugrunde liegt letztlich ein Feindbild Schülerin beziehungsweise Schüler, die Unterstellung, der oder die würde freiwillig nie zum Lernenden, müsse in seinem eigenen langfristigen Interesse dazu genötigt werden. Oder wie es der deutsche Pädagoge Bernhard Bueb in seinem Bestseller «Lob der Disziplin» schreibt: «Erziehung ist nur erfolgreich, wenn sie die zum Egoismus neigende menschliche Natur gegen den Strich bürstet.» Damit reduziert er die Trigonometrie von Bildung – in der Lernende und Lehrende gleichermassen Verantwortung für das Dritte, den Inhalt, übernehmen – auf den Kampf zwischen Über-Ich=Lehrperson und Es=SchülerIn.

Die Gefahr, dass Menschen die an sie herangetragenen Erwartungen beziehungsweise Vorurteile erfüllen, ist bekannt. Jugendliche, die mit Notendruck oder Bussen zu ihrem Erfolg gezwungen werden sollen, bestätigen häufig das Feindbild der sich verweigernden Schülerin beziehungsweise des widerspenstigen Schülers. Lernende werden in einem Umfeld, das ihre Motivation zur Sache der Lehrpersonen macht, zu (selbst schädigenden) Konsumverweigernden und damit zu Gegenspielerinnen oder -spielern der aufdringlichen Verkäuferinnen und Verkäufer, also der Lehrpersonen.

Verhängnisvolle Symbiose von Stoff und Lehrperson
Die Schule vermischt Sach- und Beziehungsebene, macht den Bildungsinhalt zum Objekt eines Autoritätskonfliktes. Wo die Schule Stoff und allenfalls sogar Motivation der Lernenden zur «Chefsache», das heisst zum Auftrag der Lehrperson macht, beginnt sich der Widerstand gegen den Stoff beziehungsweise die Anforderung zu lernen gegen die Lehrperson zu richten und umgekehrt. Das heisst, die Symbiose von Stoff und Lehrperson führt aufgrund des Autoritätskonfliktes – und der ist in der Pubertätsphase äusserst virulent – tendenziell zu einer Zurückweisung des Stoffs. Im Kontext von Schulpflicht und schulischen Machtverhältnissen müssen Minderleistungen, Unzuverlässigkeiten sowie Unflätigkeiten von Lernenden gegenüber Lehrpersonen auch als Autoritätskonflikt interpretiert werden.

Selektion statt Bildung
Die Schule ist nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie Bildungsort, sondern auch und womöglich vor allem eine Selektionsanstalt. Der Bewertungskontext Schule unterwirft alle und alles dem Massstab von RichtigoderFalsch, GutoderSchlecht, EinsVierSechs; damit wird das, was als das eigentliche Ziel von Schule gesehen wird, behindert – das Lernen. Der Philosoph Hans Saner sieht in der Note eher einen «Feind des Bildungsgedankens als ihren Förderer», und es ist zu vermuten, dass Bewertungen, wenn überhaupt, nur für die Erfolgreichen unterstützend, für alle anderen aber tendenziell entmutigend sind.

Wir wissen, dass so genannt intrinsische Ziele – Ziele, die einem inneren Interesse entsprechen – zu deutlich nachhaltigerer Motivation führen als extrinsische Ziele – die ausschliesslich auf äussere Anerkennung, Noten, Erhöhung des Lohnes, Lob von Eltern usw. abzielen. Trotzdem fällt es Lernenden, wenn dazu aufgefordert, sehr schwer, konkrete intrinsische Ziele selbständig zu formulieren; zum einen, weil es in gewisser Weise paradox ist, von «Abkommandierten» intrinsisch motivierte Neugier auf Welt zu erwarten; zum anderen, weil sie, vermutlich, der Botschaft misstrauen. Zu Recht, in der aktuellen Bildungslandschaft ist die Vorgabe, sich Ziele aufgrund eigener Interessen zu setzen, zwiespältig – letztlich zählen die handfesten Prüfungsresultate, auch wenn die Lernenden dabei nichts oder zumindest nichts gelernt haben, wofür sie sich selbst interessieren.

Schule verhindert, was sie zu fördern vorgibt – Bildung und Kooperation. Schule ist in erster Linie Konkurrenz, hier werden Menschen für künftige Laufbahnen und Abstürze «aussortiert». Die Diffamierung der Erfolgreichen als «Streberinnen» beziehungsweise «Streber» muss in diesem Kontext auch als Widerstand gedeutet werden, als Versuch, der schulischen Ordnung ein eigenes Bewertungssystem entgegenzusetzen, das einen vor dauernder Entwertung und Demütigung schützt. Im Übrigen bleibt wegen des verhinderten gemeinsamen Erfolgs einer Klasse nur das gemeinsame Scheitern oder Verweigern als solidarischer Akt der Lernenden.

Schule versus Konzept «Mann»
Dem Kampf um Ruhe, Aufmerksamkeit und Respekt im Schulzimmer zugrunde liegt auch der Konflikt zwischen dem Grandiositätskonzept Mann und der Schule. Es wird ja in der öffentlichen Debatte immer wieder beklagt, insbesondere Buben machten in der Schule Probleme beziehungsweise würden durch die heutige Schule benachteiligt. Der Autor verschiedener pädagogischer Bücher Remo Largo postuliert, nicht die Kompetenz, sondern das Verhalten lasse Schüler schlechter abschneiden als Schülerinnen: «Aber es darf doch nicht sein, dass die heutige Pädagogik die Buben ausgrenzt, weil sie nicht so pflegeleicht sind wie Mädchen.»

Wer die Anforderungen der Schule erfüllt, ist «pflegeleicht», und die Pflegeleichten, so die Geschlechterzuschreibung, das sind die Mädchen; Buben aber, so die Aussage im Subtext, sind anders, spannender, sagen Lehrpersonen häufig, während sie sich gleichzeitig über die Störenfriede beklagen.

«Ein junger Mann», inszenierte der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl vor einer paar Jahren in einer «Club»-Sendung männliche Herrlichkeit, «schreibt keinen Aufsatz, sondern das erste Kapitel eines Romans». Umso bitterer die Ankunft in den Niederungen des real existierenden Alltags. Solange Lernende geprüft und bewertet werden, ist die Schule für viele (auch) ein Ort der Demütigung und der Niederlage. «Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin», sagt ein so genannter School-Shooter in einer Dokumentation, die der TV-Sender «arte» ausstrahlte. So gross Erfolg und Bewunderung beim «Freeriden» auch sein, so cool Kolleginnen und Kollegen einen auch finden mögen – in der Schule kann jeder und jede zur Versagerin beziehungsweise zum Versager werden, ist jede und jeder dem (vernichtenden) Urteil der Lehrperson ausgeliefert.
Opfer unterschiedlicher Geschlechter-Rollen
Die tendenziell unterschiedlichen Reaktionen von Mädchen beziehungsweise Buben auf diese Situation müssen (auch) als Teil der Vergeschlechtlichung gesehen werden. Während Mädchen und Frauen sich bemühen, bessere (Anpassungs-)Leistungen zu erbringen, rebellieren Buben, versuchen, wie ein Mann, erlittene oder befürchtete Verletzungen durch Abwertung der Schule zu verdrängen und ungeschehen zu machen. Schule ist eh scheisse. Selbst erfolgreiche Männer betonen nicht selten und fast stolz, sie seien keine «Helden» in der Schule gewesen. Der Höhenbergsteiger und ehemalige Chefarzt des Zürcher Stadtspitals Triemli Oswald Oelz macht, trotz schulischer Erfolge, klar, was für einen Mann wirklich zählt: «Sich habilitieren, das ist ja ganz nett, aber den Everest besteigen – das ist eine ganz andere Dimension!», das ist männliche Initiation: «Zeigen, dass man en Siebesiech isch, dass man alle Schwierigkeiten überwinden kann.»

Die Lernsituation hat ganz generell und für alle auch etwas Kränkendes, sie konfrontiert uns mit unseren Unwissenheiten, Grenzen und Beschränktheiten. Lernen setzt das Eingeständnis voraus, nicht (alles) zu wissen, bei der Erschliessung von Welten auf Unterstützung und Hilfe anderer angewiesen zu sein. Das aber ist eine radikale Bedrohung des Konzepts «Mann», das alles unter Kontrolle hat, keine Grenzen kennt und kein Nein akzeptiert. Widerstand, Leistungsschwäche, Disziplinprobleme sowie aggressives Verhalten müssen auch als Versuch interpretiert werden, in Momenten der Ohnmacht und Verzweiflung Männlichkeit zu (re)konstruieren. Es ist also nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie das System «Schule», das die Knaben benachteiligt beziehungsweise die Mädchen bevorzugt, sondern das Konzept «Mann», das Buben im Umgang mit der Kränkung «Lernen» ein selbst schädigendes Verhalten abverlangt, sie daran hindert, weiblich konnotierte Unterstützung sowie Hilfe anzunehmen und so ihr volles Leistungspotenzial auszuschöpfen.

Die Alternative: Schule als Verhandlungsraum
Unsere Schule verschwendet im täglichen Kräfte raubenden Kampf um Ruhe, Aufmerksamkeit und Respekt Zeit, viel Lebenszeit – von Lernenden und von Lehrpersonen. Die Schule in den skizzierten Spannungs- und Konfliktfeldern hat als Bildungsort nur eine Chance, wenn sie zum Verhandlungsraum wird, der alle Betroffenen beteiligt und zu Mit-Verantwortlichen macht. Verhandlungskultur bewegt sich jenseits von unterwerfender Verordnungskultur, entmündigender Betreuungskultur und gleichgültigem Laissez-faire. In Verhandlungskulturen können Lernende sich nicht mehr in motzende Gemütlichkeiten verabschieden oder am Ende eines Gesprächs mit Lehrbetrieb und Schule murmeln: «Ich helfe dann auch mit.» Es sind die anderen, die ihm beziehungsweise ihr helfen, aber in erster Linie ist sie, die lernende Person, aktiv – weil sie es will, weil sie sich, mit allen Konsequenzen, für ein eigenes Ziel entscheidet.

Der Stoff darf nicht Sache der Lehrpersonen sein
Lernen, Erkenntnis- und Kompetenzgewinne können nur das Resultat eines erfolgreichen Verhandlungsprozesses sein, jenseits vom alten Spiel zwischen «Du musst», «Du hast mir nichts vorzuschreiben» oder «Wenn’s sein muss». Denn, so der US-amerikanische Begründer der gewaltfreien Kommunikation Marshall B. Rosenberg: «Ich kann ein Angebot machen, ob die Schüler es annehmen oder nicht, liegt nicht in meiner Macht.» Lernen setzt ein «Ich will» der lernenden Person voraus, unterstützt durch ermutigende, aber realistische Empfehlungen von Lehrpersonen, die ihre Hilfe, wie jeder Trainer oder jede Trainerin, an Bedingungen knüpfen. «Ich kann nur mit dir arbeiten, wenn …» Der oder die Lernende muss vom Objekt zum Subjekt des Lernprozesses werden, das «Ich will lernen» darf nicht länger Strafaufgabe sein, sondern muss echtes Bedürfnis von Lernenden werden.
Das bedeutet auch, formulieren und einfordern können, was sie wollen und was sie zur Erreichung ihrer Ziele von anderen brauchen. Das heisst, zu mündigen Konsumentinnen und Konsumenten von Bildungsleistungen werden, die sich weder vorschreiben noch aufschwatzen lassen, was sie «einkaufen» sollen.
Der Stoff darf nicht länger Sache der Lehrpersonen bleiben, er muss zum gemeinsamen Dritten von Lernenden und Lehrenden werden. Das entlastet die Lehrpersonen, setzt allerdings voraus, dass sie Lernenden Lernbereitschaft sowie Lernfähigkeit zutrauen und zumuten, aber an ihren Schülerinnen und Schülern ernsthaft interessiert bleiben. Verhandlungskultur, die keine Unterwerfenden und keine Unterworfenen kennt, bedeutet auch, bereit zu sein, Konflikte – und die wird es zwischen Lehrenden und Lernenden immer geben -, auszutragen, mit Respekt, hartnäckiger Anteilnahme und gewaltfrei, mit dem allseitigen Mut zum offenen Ausgang. Verhandeln heisst auch, nicht zu schnell reagieren, sondern zuerst zurückzufragen, zu verstehen, warum der oder die andere etwas will beziehungsweise nicht will, um gemeinsam mit ihr oder ihm neue kreative, vielleicht sogar Win-Win-Lösungen entwickeln zu können.

Verhandeln als gewaltfreie Konfliktlösung
Verhandeln ist aber auch, so Frank R. Pfetscher, «die einzige Form, ohne Anwendung von Gewalt, Lösungen für gegensätzliche Interessen zu finden.» Und gerade da ist die Schule alltäglich als Praxis und Modell gefragt. Wer im Klassenzimmer mit seinen multiplen Konfliktachsen erlebt, wie Formen des gegenseitigen Respekts, des individuellen Eigensinns und des gemeinsamen Lernens entwickelt werden, Integration unterschiedlichster sozialer und kultureller Gruppen konkret praktiziert wird, sucht auch ausserhalb und im späteren Leben den gewaltfreien Weg aus scheinbar unlösbaren Konfliktsituationen.

Eine das Lernen unterstützende Klassenkultur kann nur das Resultat von erfolgreichen Verhandlungen zwischen allen Beteiligten sein. Wer nach der Lehrperson ruft, die ihre Klasse «im Griff hat», vergisst, dass so eine Lerngruppe sich nie «selbst in den Griff» bekommen kann, das heisst, nie hilfreiche Formen des sozialen Umgangs miteinander zu entwickeln vermag. Wer Lernende schon einmal gegenseitige Erwartungen hat formulieren lassen, weiss, sie stellen im Allgemeinen einen ziemlich umfassenden Verhaltenskatalog auf, der den Leitbildern vieler Schulen nahe kommt.
Von Lehrpersonen begleitete Gruppen
Die Umsetzung ist für Lernende ebenso schwierig wie für uns; aber Gruppen, die, von Lehrpersonen auf diesem Weg begleitet, nicht geleitet, irgendwann einmal solche Leitsätze als Haltung verinnerlichen, werden solchen Werten weit nachhaltiger nachleben als Klassen, die im Würgegriff von Sanktionsandrohungen zu Anstand und vermeintlichem Respekt genötigt werden. Allerdings – diese Pflege der Beziehungsebene braucht Zeit, Zeit, die der Sachebene, das heisst dem überfrachteten Stoffplan abgerungen werden muss, allerdings mit der erfreulichen Aussicht, dass die nachhaltige Pflege der Beziehungsebene dazu führen könnte, dass sich am Ende ein grösserer Teil der Lernenden grössere Teile des Lehrplans angeeignet hat als heute.

Die Schule selbst verhandeln
Solche Verhandlungen sind ansatzweise, bei transparent gemacht Rahmenbedingungen und mit ein wenig Mut von Lehrpersonen auch in bereits gebauten Schulhäusern sowie mit längst geschriebenen Lehrplänen denkbar; trotzdem müsste die Schule insgesamt verhandelt werden, damit sich die Lernenden (und die Lehrpersonen) nicht für immer mit dem Vorgefundenen zufrieden geben müssen und die ohne sie konzipierte, aber perfekte Schule nur noch zu stören vermögen, sondern die Schule mit anderen aushandeln und immer wieder entwickeln können. Das gilt für die Schule als Gebäude genauso wie für die Schule als Bildungsplan.

Über die bauliche Hülle sagt der bereits erwähnte Peter Hübner: «Die Schule muss den Kindern Heimat bieten und darf keine Darstellung von Macht sein … Man muss von Anfang an alle Beteiligten an Bord nehmen: Schulleitung, Lehrer und Schüler. Dann entstehen unglaublich anregende ‹Landschaften› wie in alten Dörfern und Städten. Etwas, das im tiefsten Sinne anrührt und zum Lernen einlädt. Die Schüler sehnen sich, nach den Ferien wieder in die Schule zu kommen …» Was er zum Vorgehen bezüglich der «Hardware» sagt, kann uneingeschränkt für die «Software», die Lehrpläne, übernommen werden: «Wir fragen die Kinder: Was ist das Wichtigste in der Schule? Nach und nach erkennen sie, dass sie selbst es sind. Dann erörtern wir Möglichkeiten und Bedürfnisse.»
Bildungsinhalte gemeinsam erarbeiten
Wer fragt die Lernenden, welche Ziele ihrer Meinung nach in das Curriculum gehören? Wie sähen von Schülerinnen und Schülern mit-verfasste Lehrpläne aus? Wenn die Schule wirklich unsere Schule werden soll, müssen auch Bildungsinhalte und ihre Umsetzung zur Verhandlungssache aller Beteiligten werden. Einige mögen einwenden – Lernende könnten ja gar nicht wissen, was sie lernen wollten, weil das, was sie lernen müssten, für sie eine terra incognita sei. Aber stellen Kinder nicht schon seit Jahrhunderten Fragen, deren Antworten ganze Bibliotheken füllen? Was geht Bildungszielen anderes voraus als Fragen?
Im Übrigen bedeutet «zwischen den Beteiligten aushandeln» nicht, durch die Lernenden allein bestimmen zu lassen. Und wer wollte behaupten, Schülerinnen und Schüler, die ernsthaft in Verhandlungen einbezogen werden, würden sich von Lehrpersonen nichts sagen lassen? Würden sich nicht wie Bergsteigerinnen und Bergsteiger verhalten, die sich von der Bergführerin oder dem Bergführer beraten lassen, über welche Route sie den ihnen unbekannten Gipfel am besten stürmen könnten.

Damit sie unsere Schule wird
Wenn die Schule ganzheitlich zur Verhandlungssache wird, könnte sie doch noch zu einer Bildungsinstitution, zu unserer Schule werden. Vorausgesetzt, dieses «Wir» meint auch die Hauptpersonen, die Lernenden, als Handlungsfähige. Dann könnte der Kampf der Lehrenden mit den Lernenden um Ruhe, Aufmerksamkeit und Respekt zum anhaltenden gemeinsamen Bemühen um ein in allen Dimensionen unterstützendes Lernumfeld werden.

Jürgmeier hielt dieses Referat im Rahmen der Tagung «Wie du mir, so ich dir – Vom guten Umgang in der Schule» der Fachgruppe Schulsozialarbeit Chur am 14. September 2011.


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Eine Meinung zu

  • am 19.03.2012 um 21:06 Uhr
    Permalink

    Mit grossem Gewinn habe ich den Artikel von Jürgmeier gelesen.
    Sie schreiben „Lernen setzt ein ‚Ich will‘ der lernenden Person voraus.“ Kinder und Jugendliche sind neugierig, wissensbegierig und können zu selbstverantwortlichem, selbstorganisierten, individualisierten Lernen hingeführt werden. Aufgabe der Lehrpersonen ist die pädagogisch-didaktische Begleitung, die Anteilnahme an der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen.

    Die Schweizerische Stiftung für audiovisuelle Bildungsangebote (SSAB) hat ein Positionspapier verfasst, welches diese Aspekte mit Blick auf die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in den Vordergrund rückt. Diese neuen Technologien ermöglichen und fordern neue Bildungskonzepte. Zu fragen ist, wie weit sich die Bildungsinhalte, Wertorientierungen, methodisch-didaktische Ansätze und die Organisation von Lehren und Lernen verändern. Sie finden unser Papier unter „Bildungstrends als Folge neuer Informations- und Kommunikationstechnologien“ hier: http://www.educationalmedia.ch/ergebnis-dokumente/ .

    Wo ich mit Ihnen nicht einig gehe, ist in der Einschätzung der Absichten behördlicher Stellen oder auch der Lehrpersonen. Sie unterstellen mindestens indirekt in ihrem Artikel, dass es so etwas wie einen heimlichen Lehrplan gibt, mit der Absicht, die Schülerinnen und Schüler zu disziplinieren und die Schule als Selektionsinstrument einzusetzen. Ich sehe es anders: Alle wollen eigentlich das Beste für die Schülerinnen und Schüler, aber viele verhaften im alten, nicht reflektierten Denken und Handeln, überliefert aus dem 19. Jahrhundert. Allgemein traut man den Kindern und Jugendlichen zu wenig zu, glaubt, sie mit Disziplin und Noten zu Leistungen – nützlich für ihr späteres Leben – zwingen zu müssen, und erreicht genau das Gegenteil. Insbesondere bei Knaben, die bis ins Erwachsenenalter stolz auf ihre Rebellion als Jugendliche sind und, wie sie schreiben, gern betonen, „sie seien keine ‚Helden‘ in der Schule gewesen“. Fleiss gilt schon fast als weiblich und ist den Mädchen vorbehalten. Sie haben das sehr gut erfasst und beschrieben.

    Es gibt aber viele Lehrerinnen und Lehrer, die in ihrem Unterricht die Schülerinnen und Schüler ins Zentrum stellen und neuartige Wege gehen, z.B. die Primarschule Schlatt, wo Schülerpartizipation sehr wichtig ist, hier: http://www.projekt-sls.ch/Documents/projekt-sls.ch/Schlatt.pdf oder der Schülerclub der Primarschule Nordstrasse in Zürich, hier: http://www.projekt-sls.ch/Documents/projekt-sls.ch/Nordstrasse.pdf. Ich könnte zahlreiche weitere aufzählen. Diese hier nenne ich, weil sie am Samstag, 17.3.2012 an einem Anlass „Schulen lernen von Schulen“ (http://www.projekt-sls.ch/de/Materialien_Downloads/ ) der Pädagogischen Hochschule Zürich vorgestellt wurden.

    Im Programm „Schule macht Schule“, welches im Rahmen der Didacta Schweiz Basel vom 24.-26.10.2012 stattfinden wird, werden sich Pionierschulen präsentieren können. Das Programm ist in Vorbereitung und wird im Internet über die Site der Bildungsmesse publiziert werden, hier: http://www.didacta.ch/de-CH/Besucher/UeberDieDidacta.aspx

    Gender-Aspekte sind besonders bei den naturwissenschatlich-technischen Fächern ein wichtiges Thema. Zurzeit führen wir hierzu Internet-Diskussionen durch. Ich würde mich freuen, Sie zu lesen, und zwar hier: http://forum.imedias.ch . Weitere Informationen zu den Internet-Diskussionen finden Sie hier.http://www.educationalmedia.ch/diskussio/

    Dr. Hanna Muralt Müller, alt Vizekanzlerin, Delegierte für das SSAB-Netzwerk

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