Mehr Kunstleben in Graubünden
Es ist eine Gesetzmässigkeit, die kaum weiter auffällt und selten der Rede wert ist. Sie besagt, dass jedes Kunstwerk seinen definierten Standort hat. Meistens ist es eine Wand in einem Museum, aber längst haben sich die Kunstwerke in den Raum hinaus bewegt, zum Beispiel mit einer Plastik, die in einem Museumsraum oder in der urbanen Öffentlichkeit aufgestellt ist; Environment und Installation sind Teil der Entwicklung; auch Performance und Land Art. Als Standort kann auch eine Höhle infrage kommen (Lascaux), ein Sakralraum, eine Hausmauer oder ein Eisenbahnwaggon als Ort für Graffiti.
Auch ein T-Shirt oder eine Plakatwand ist möglich. Die alte Landschaftsmalerei ist durch Tourismusplakate und -prospekte mit Bergseen und einem ewig blauen Himmel (anders als bei John Constable) substituiert worden. Seitdem das Kunstwerk durch eine populäre Ikonografie ersetzt wurde, kommt auch die menschliche Haut als Bildort hinzu.
Kunstwerke waren bisher stationär positioniert, dann lernten sie laufen. Es ist schon hundert Jahre her. Das Kino hat sich unter die visuellen Künste begeben. Meistens wird der Film als erzählte Handlung verstanden. Dabei kommt ihm als Bildmedium die weit grössere Bedeutung zu, wenn man an Einstellung, Bildschnitt, Nahaufnahme und Totale, Setting, Travelling und so weiter denkt.
Heute genügt es nicht mehr, wenn die Bilder nur laufen, sie müssen auch zirkulieren. Nach wie vor entsteht in der überlieferten Form Kunst für Museen, Kunsthandel und private Sammlungen, aber es hat eine Verlagerung stattgefunden, und wir stehen abermals an einem Punkt, wo die Frage auftaucht, wie wir mit einer neuen Generation von Bildern – beziehungsweise mit der visuellen Welt schlechthin – umgehen. Das Museum hat seine klassische Aufgabe teilweise abgetreten an andere Distributionsstellen. Bilder zirkulieren in den digitalen Medien und Endgeräten und werden zum Beispiel aus den Ferien über Smartphones an die Daheimgebliebenen gesendet.
Immer häufiger, nicht nur bei wichtigen Fussball-Übertragungen, werden im urbanen Raum überdimensionierte Screens aufgestellt für Nachrichten, Börsenkurse und Werbung für Unterwäsche oder politische Parolen. Der Stadtraum ist in eine Bildfläche verwandelt worden.
Das Begehen einer Ausstellung als Thema
Wenn die Kunst einen festen Ort hat, dann bedeutet dies, dass in den meisten Fällen die Menschen sich zu ihr auf den Weg begeben müssen. Auch dies ist ein Punkt, der kaum je eine explizite Erörterung findet, obwohl der ganze Kunsttourismus ein deutliches Exempel dafür abgibt. Die Nike von Samothrake oder «Mona Lisa» von Leonardo da Vinci sind nur im Louvre in Paris zu besichtigen, und nur, wer sich körperlich dorthin aufmacht, wird sie sehen. Alles andere sind Replika oder Reproduktionen.
Dass der Museums- oder Ausstellungsbesuch mit einem Gang von Werk zu Werk verbunden ist, wird ebenfalls selten einer Thematisierung für würdig erachtet worden. In Modest Mussorgskis Komposition «Bilder einer Ausstellung» sind die einzelnen Stücke eigentlich in musikalischer Sprache interpretierte Bildbetrachtungen. Ein Intermezzo von ein paar Takten leitet von einem sonoren Kunstwerk zum anderen über.
Genau diesen Sachverhalt des Begehens einer Ausstellung hat das Bündner Kunstmuseum in Chur mit seiner Ausstellung «Solo Walks» jetzt aufgegriffen. Auch in den neuen Museumsräumen erfolgt in einem Rundgang durch die Räume ein Übergang von einem Werk zum nächsten und müssen sich die Besucher dabei fortlaufend neu orientieren. Gehen ist im Übrigen eine existenzielle Erfahrung, wenn nur kein Rundgang damit verbunden ist, sondern ein fortschreitender Lebensweg und insofern ein Lebenslauf.
Dass das Gehen eine Kunst der Wahrnehmung ist, bei der es darum geht, aus den Schritten einen Ablauf, einen Kontext, einen zusammenhängenden Eindruck der zurückgelegten Wegstrecke herzustellen, soll nur nebenbei bemerkt werden. Nicht anders erfolgt im Film aus der Aufeinanderfolge von 24 Bildern in einer Sekunde eine Bewegung oder, besser gesagt, wegen der Trägheit des Auges die Illusion einer Bewegung.
Erweiterung des Bündner Kunstmuseums
Schon der englische, die meiste Zeit in den USA aktive Fotograf Eadweard Muybridge (1830–1904) hatte durch mehrere an verschiedenen Standorten aufgestellte Kameras Bewegungssequenzen aufgenommen und in Einzelaufnahmen zerlegt. Er nannte seine Methode Chronofotografie und wurde durch sie zum Experimentalvorläufer des Films.
Muybridge ist in den «Solo Walks» in Chur vertreten, wie man erwarten konnte. Dominierend platziert aber ist in der Ausstellung – und Ikonografie zum Thema – Alberto Giacomettis gerade voraus schreitender «L’Homme qui marche» (1960). Wer will, kann Giacomettis Marschierenden Joseph Beuys gegenüberstellen, der fast in Lebensgrösse auf einem Lichtdruck entschlossenen Schritts in den Ausstellungsraum zu stürmen scheint («La Rivoluzione Siamo Noi», 1972).
27 Fotografien, die Carl Seelig von Robert Walser auf seinen «Wanderungen» mit dem Dichter während dessen Zeit von 1937 bis 1954 in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau aufgenommen hat, sind zu sehen, daneben liegt die Erstausgabe von Walsers Erzählung «Der Spaziergang» (1917); Zeichnungen von Henri Michaux unter Einfluss von Meskalin; eine Auswahl der Zeichnungen aus «Paris sans fin» (1958–1965) von Alberto Giacometti aus der Ausgabe von 1969: das Atelier und das Paris des Künstlers, Cafés, Strassen, ein nomadisierender Streifzug durch die Stadt.
Auf dem Fussboden ausgebreitet sind Werke von Carl Andre und Richard Long un ersetzen den Fussboden. Bei Francis Alÿs (1959) gerät in einem fünfminütigen Video dagegen der zurückgelegte Weg zu einem Irrweg: «Paradox of Praxis (Sometimes Making Something Leads to Nothing)». Der Künstler war 1997 mit einem Eisblock unterwegs, den er solange durch Mexico City stiess und schleppte, bis er verdunstet war.
Francis Alÿs, Paradox of Praxis I (Video 1997): Mit einem Eisblock durch Mexico City
Das Gehen ist ein Universalthema. Das Leben ist Bewegung. Wer geht, kommt sich näher oder, wie es Friedrich Nietzsche in «Also sprach Zarathustra» sagte: «Man erlebt endlich nur noch sich selber.»
Sammlung mit Profil
Doch zurück nach Chur. «Solo Walks» ist die Ausstellung, die Direktor Stephan Kunz zur Eröffnung des Erweiterungsbaus des Bündner Kunstmuseums veranstaltet hat. Der neue Baukörper der katalanischen Architekten Fabrizio Barozzi und Alberto Veiga, ein Kubus mit klaren Linien und Strukturen, ist vor wenigen Tagen in Betrieb genommen worden. Er weist in zwei Untergeschossen und einem Obergeschoss ideale Ausstellungsräume auf, wie man sie sich kaum besser vorstellen kann, mit Oberlicht in den tiefer gelegenen Stockwerken. Unterirdisch ist der Neubau mit der renovierten Villa Planta, dem bisherigen Churer Museum, verbunden. Der frühere Anbau für Wechselausstellungen ist beseitigt worden.
Die Sammlung des Bündner Kunstmuseums ist von ausgesuchter Qualität. Der Akzent liegt auf der Kunst von Graubünden, ohne den geringsten Hauch von Provinzialität zu verbreiten. Angelika Kaufmann und Alberto Giacometti bilden die Schwerpunkte. Mit Ernst Ludwig Kirchner sowie Hermann Scherer, Albert Müller und anderen Vertretern der Künstlergruppe «Rot-Blau» kommen bedeutende Exponenten hinzu, mit Lenz Klotz und Mathias Specha sind weitere Künstlerpersönlichkeiten aus Graubünden vertreten.
In der Villa sind Augusto Giacometti sowie sein Vetter Giovanni Giacometti, der Vater von Alberto Giacoametti, mit bedeutenden Werken vertreten, des Weiteren Giovanni Segantini. Das Bündner Kunstmuseum will ausserdem dem Bruder Albertos, Diego Giacometti, der durch seine skulpturartigen Möbel bekannt geworden ist, vermehrt Aufmerksamkeit angedeihen lassen. Dies alles ergibt ein für Churer und Bündner Verhältnisse aussergewöhnlich ansprechendes Sammlungsprofil.
Zum Schluss – als letzte Bemerkung – sei noch nachgeschoben, dass es einen Katalog in Form eines Lesebuchs zur Ausstellung gibt mit einer breiten Auswahl von Texten von Jean-Jacques Rousseau bis zum norwegischen Schriftsteller Thomas Espedal zum Thema «Gehen».
Die Ausstellung «Solo Walks» dauert bis 6. November 2016.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.