Mattmark-Geschichte als Kapitel in einem Roman
In ihrem neusten Roman «Wegen Wersai» malt die Schriftstellerin Dagmar Schifferli ein beklemmendes Bild einer Schweizer Durchschnitts-Familie in den 1960er Jahren: Fremdenfeindlichkeit, repressive Erziehungsmethoden und Doppelmoral dominieren, eindrücklich erzählt aus der Sicht des 12-jährigen Mädchens Katharina, das die Lügen der Erwachsenen durchschaut und seiner Pflegemutter hartnäckig widerspricht, wenn diese mit fremdenfeindlichen Sprüchen über die italienischen Gastarbeiter wettert.
Bundesrat Bonvins Interessenkonflikt
In der Schule sitzt Katharina neben dem Gastarbeitersohn Lorenzo, dem «Tschingg», worüber ihr Vater gar nicht erfreut ist. Es ist die Zeit im Vorfeld der Abstimmung zur ausländerfeindlichen Schwarzenbach-Initiative, die 1970 vom Volk abgelehnt wurde. In den Kantonen Bern, Freiburg, Luzern, Nidwalden, Obwalden, Schwyz, Solothurn und Uri wurde sie jedoch angenommen.
Am Morgen des 31. August 1965 bleibt der Stuhl von Lorenzo leer. Katharina macht sich grosse Sorgen, weil am Vortag der Allalin-Gletscher auf die Baubaracken von Mattmark im Wallis gestürzt ist und weil zwei Onkel von Lorenzo dort oben arbeiteten.
Der Roman schildert, wie der Walliser Bundesrat Roger Bonvin in der Tagesschau vom 30. August auftritt: «Der Bundesrat steht aufrecht da, sagt, kein Mensch habe erwartet, dass sich ein derartiger Gletscherabbruch ereignen könnte. Niemand konnte das voraussehen. Niemand, absolut niemand.»
Während die Pflegemutter den Aussagen von Bonvin sofort vertraut, weil der «selbst ein Walliser ist» und «sich hier ja auskennen» müsse, klärt Frau Simonis, Katharinas Lehrerin, die SchülerInnen über dessen Interessenkonflikt auf: Bonvin habe nämlich vorher selbst bei der betroffenen Baufirma gearbeitet, und zwar als Ingenieur.
«Sie hätten ja zu Hause bleiben können»
Im Kontrast zur kritischen Lehrerin steht die herzlose Pflegemutter, die über die italienischen Gastarbeiter herfährt, welche Kritik an den Mattmark-Verantwortlichen übten: «Sie hätten ja zu Hause bleiben können, wenn es ihnen hier nicht passt.»
Am Nachmittag informiert die Lehrerin über die Mattmark-Katastrophe, in der 88 Bauarbeiter – darunter 56 Italiener – den Tod fanden. Plötzlich öffnet sich die Schulzimmertüre und Lorenzo kommt herein. Seine beiden Onkel sind am Leben. Die Erleichterung ist gross, besonders bei Katharina.
Auf dem Heimweg sieht Katharina, «dass jemand ‚Italiener raus‘ auf die Bretterwand neben der Migros geschrieben hat. In roten grossen Buchstaben, sodass man es schon von weit weg lesen kann».
Bundesrat Bonvin legte falsche Fährte
Wie Infosperber vor drei Jahren berichtete, haben Bundesrat Bonvin und der ETH-Professor Gerold Schnitter mit ihren Schutzbehauptungen jene falsche Fährte gelegt, die schliesslich zum skandalösen Freispruch aller Verantwortlichen führte. Ein Fehlurteil, wie sich aufgrund von Infosperber-Recherchen heraustellte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Vielen Dank, dass Sie meine Aufmerksamkeit ein weiteres Mal auf dieses Stück «Schweiz» gelenkt haben. Es umfasst derart viele grundlegende existenzielle Facetten, dass man sich wünschte, es würde – da absolut real gehalten, gerne anstelle von Max Frischs Andorra usw. – an unseren Schulen (für Kinder) und in unseren Massenmedien (für die Erwachsenen) gelehrt.
An diesem Lehrstück können u.a. solche Fragen abgearbeitet werden wie:
Was bekommen wir zu sehen/zu hören bzw. was nehmen wir wahr?
Was geht folglich in unsere Gedankenwelt ein?
Welche Meinung (und damit welches ‹Selbstverständnis›) «bildet» folglich im ‹Volk› (und damit demokratie- bzw. politik-relevant) heraus?
Mit welchen anderen Meinungen werden wir im Kollegenkreis auf Ablehnung stossen?
Welche Gefühle werden wir gegenüber den Ausländern (damals Italiener) herausbilden?
Was hat das alles mit unserer Ausländerfeindlichkeit, mit Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung zu tun?
Oder vielleicht gleich lieber diese Frage: Was sagt das über meine vorgegebenen ethischen/moralisches Werte aus, wenn ich mich mit diesen Fragen nicht beschäftigen will und nicht möchte, dass sie mir und unseren Kindern gestellt werden?