Lassen Sie sich scheiden_Die Schiwoff-Affäre 8_10
Red. Am 19. Dezember 1956 wurde der VPOD-Sekretär Victor Schiwoff verhaftet, später «wegen unwahrer Behauptungen gegen die Interessen der Schweiz zu einem Monat bedingt verurteilt» (Historisches Lexikon der Schweiz), sowohl aus der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaft VPOD ausgeschlossen. Sechzig Jahre danach publizieren wir auszugsweise die ihn betreffenden Fichengeschichten aus dem Buch «Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss – Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg» von Jürgmeier als Serie.
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- Hier finden Sie alle Folgen der Serie «Die Schiwoff-Affäre – vor 60 Jahren»
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«Jetzt musste ich also an die Säcke» (Elsi S.)
Auch Elsi S. – von 1950 bis Mitte der Achtzigerjahre, im Gegensatz zu ihrem Mann ohne klandestinen Unterbruch, Mitglied der PdA – war seit März 1956 stellenlos. Er habe das Arbeitsverhältnis mit Frau S. auf den 29. Februar aufgelöst, diktierte Ernst W., Inhaber eines gleichnamigen Treuhandbüros, am 24. Januar einem Beamten der Bundesanwaltschaft. Nachdem er «erst vor Weihnachten 1955» von einem prominenten Kunden – der mit der Neuen Zürcher Zeitung vor seinen erschrockenen Augen herumgefuchtelt haben muss – erfahren habe, dass sich die Eheleute S. «raffiniert getarnt kommunistisch betätigten». Ende der Neunzigerjahre schreibt Elsi S. dem Berichterstatter allerdings, sie habe die Stelle bei W. anfangs 1956 gekündigt, um S. bei verschiedenen Auftragsarbeiten zu helfen. Sie vermutet, der Schreck über die Angriffe in der ehrwürdigen Neuen Zürcher Zeitung auf den «PdA-Mann S.» sei W., der sie neuen Kunden immer stolz als «meine Mitarbeiterin, Frau Dr. S.» vorgestellt habe, gehörig durch die Hirnrinde gefahren. Nur so sei ihr die «ungeheuerliche Aussage bei der Polizei» erklärlich. «Ihr Mann kaufe viele Zeitungen verschiedener politischer Richtungen», hielt der eifrige Polizeibeamte fest, was W. im Gespräch mit Elsi S. erfahren haben wollte, und der Staatsschützer fügte dem Dossier S. bei: «Die ihn interessierenden Artikel schneide er dann heraus, lege sie zu Vergleichszwecken zusammen und könne dann so seine Schlüsse daraus ziehen. Sie habe sich gewundert, dass ihr Mann deswegen noch nie verhaftet worden sei», gab W. an. Möglich, so Elsi S., dass sie ihm einmal erzählt habe, sie läsen verschiedenste Zeitungen. «Das ist unumgänglich, wenn man sich ein Bild seiner Zeit machen will. Aber den Rest hat der arme Mann erfunden.» W. habe wahrscheinlich ganz einfach «Schiss» bekommen, notiert Elsi S. 1996, «und das nach einem fast zehnjährigen Arbeitsverhältnis!», einem guten.
Im Januar 1957 sei ihr sofort klar gewesen, dass S.‘ gewerkschaftliche Karriere für längere Zeit «im Eimer» war. «Jetzt musste also ich an die Säcke.» Das habe ihr keine Angst gemacht, sie sei jung, gesund und kräftig gewesen, mit guter Ausbildung und entsprechenden Zeugnissen. Aber erst drei Monate später, am 1. April 1957, fand sie eine gut bezahlte Stelle bei einem Kunden von W., einem Bijouterie-Fabrikanten, der ihr, im Gegensatz zu anderen Arbeitgebern, das «Wenn Sie sich von Ihrem Mann scheiden lassen – gerne» ersparte und sich auch von W.s aufgeregten Warnungen nicht beeindrucken liess, sich offensichtlich schon mehr als ein Jahrzehnt vor Einführung des Frauenstimmrechtes eine Frau als Wesen mit eigener Gesinnung vorzustellen vermochte. Im Übrigen sei ihrem neuen Chef ihr Können wichtiger gewesen «als meine oder meines Mannes politische Einstellung».
Kolleg*innen sammeln 3000 Franken
Die drei vorausgehenden Monate aber vermochten sich die S. nur knapp über Wasser zu halten – mit gelegentlichen Hilfsarbeiten bei Leuten, die die Courage hatten, S. zu beschäftigen, den «russischen Spion», wie er in einem Tessiner Grotto noch Jahrzehnte später von einer Schulfreundin seiner Frau tituliert wird. Auch ihre Familie – «Vater selbstverständlich ausgenommen» – habe sich verständnisvoll und hilfsbereit gezeigt. «Eine ehemalige Haushälterin unseres Elternhauses schickte mir sogar ein Nötli, obwohl sie selber nicht auf Rosen gebettet war!» Am wichtigsten, materiell und moralisch, sei aber die finanzielle Hilfe von Vics Kollegen gewesen.
Während sich ein gut befreundetes Paar «offiziell» von ihnen distanzierte, andere Bekannte einfach nichts mehr von sich hören liessen, hätten schon in den ersten Januartagen des Jahres 1957 einfache Gewerkschafter vor ihrer Tür gestanden. «Ich sass ja dann immer zu Hause und habe Zeitungen gelesen», lacht S. und strahlt, als er sich an diese Sympathiekundgebungen erinnert. «Das war phantastisch, umwerfend schön.» Er holt einen Zettel, auf dem er damals mit Schreibmaschine und Tabulator unter dem Titel «Solidaritäts-Aktionen» verbucht hatte, was ihm persönlich in die Hand gedrückt wurde. Als hätte er geahnt, dass sich Jahrzehnte später kaum mehr jemand solch handfesten Beistand vorstellen kann.
«24.1.57: Fr. 490.– Geschäftsleitung Sektion Luftverkehr VPOD
26.1.57: Fr. 115.– Sammlung VBZ Grp. Irchel
4.2.57: Fr. 620.– Sammlung Dep. IV Sekt. Luftverkehr VPOD
8.2.57: Fr. 35.– Sammlung Grp. Bordbuffet Sekt. Luftverkehr VPOD
10.2.57: Fr. 56.50 Sammlung Grp. I Flugbetrieb Sekt. Luftverkehr VPOD
14.2.57: Fr. 181.50 Sammlung Grp. Start Sekt. Luftverkehr VPOD
14.2.57: Fr. 142.– Sammlung Techn. Dienst Cointrin Genf, Sekt. Luftverkehr VPOD
24.2.57: Fr. 500.– Geschäftsleitung der Sekt. Luftverkehr VPOD
1.3.57: Fr. 76.– Sammlung Werft Sekt. Luftv. VPOD
2.3.57: Fr. 460.– Sammlung Grp. Autobus Oerlikon VBZ/VPOD
4.3.57: Fr. 88.– Sammlung Grp. Mot. werkst. Sekt. Luftverkehr VPOD»
Dank dieser Gelder mussten S. und seine Frau «in keiner Art und Weise leiden». Schliesslich habe er auch vorher nur sechshundert Franken im Monat verdient. Die Kollegen hätten ihm mit ihren rund dreitausend Franken die Existenz für ein halbes Jahr geschenkt. Ganz wichtig war S., dass da nicht einer allein bezahlt hatte. Die hätten Sammlungen durchgeführt, «und jeder hat unterschrieben, zwei oder drei Franken bezahlt». Diese Solidarität habe ihn damals getragen. «Das waren Tausende, nicht Hunderte. Ich habe Briefe bekommen von Leuten, von denen ich es nicht erwartet habe. Die haben mir geschrieben und Mut gemacht. Wir stehen zu dir. Und dann diese materielle Hilfe, nicht gezielt von irgendeinem Kommunisten, sondern von Leuten von der Basis – das kam ganz spontan.»
Genau das konnten sich die pensionsgetriebenen Maulwürfe nicht vorstellen. Am 25. Februar rapportierte Detektiv Peterhans, dessen Name erstaunlicherweise in den Akten nicht abgedeckt ist, «es wurde uns gemeldet, in den Zürcher Tramdepots werde für den gewesenen Sekretär des Flugplatz-Personals, für S., Victor, eine Geldsammlung durchgeführt. Die PdA-ler hätten dies ganz geheim und so hintenherum tun wollen, man habe es dann aber doch bemerkt. Der Personalverband distanziere sich von dieser Hilfsaktion, und ausser den PdA-lern wüssten die übrigen Strassenbahner überhaupt nichts davon.»
Sie konnten, wollten sich nicht vorstellen, dass in diesen Zeiten auch Leute für einen Kommunisten ins dünne Portemonnaie griffen, die seine Gesinnung nicht teilten – linke und rechte Sozialdemokraten, biedere Gewerkschafter, Büezer, die, so S., «ebensogut im Landesring oder irgendwo sein konnten». Einfach weil sie erlebt hatten, dass S., der Sekretär, für sie eingestanden. Die Solidarität der einfachen Gewerkschaftsmitglieder habe ihm den Glauben erhalten, sonst, wenn sich dieser «abgrundtiefe Hass» der Gewerkschaftsführung «nach unten fortgepflanzt hätte», vermutet er, «wäre ich in ein ganz tiefes Loch gefallen» …
Der SMUV droht
Diesen Gewerkschaftsspitzenhass bekam er noch einmal zu spüren. Im Herbst 1957 … fand er … eine Stelle als Hilfsmaler bei einer Genossenschaft. Aber kaum hatte er die anfängliche Angst – auf schwankenden Leitern, den Farbkübel in der zittrigen Hand, sechs Stockwerke über schrumpfenden Zürcher Beinchen und zusammenschnurrenden TouristInnenköpfchen – einigermassen überwunden, zog ihn der Geschäftsführer, ein Gewerkschafter, eines Abends diskret beiseite. Eine unangenehme Nachricht, leider, er müsse ihm kündigen, der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiter-Verband (SMUV) habe ihnen gedroht, «wenn ihr den S. weiter beschäftigt, entziehen wir euch sämtliche Aufträge». S. wurde abgefunden, mit dem ausstehenden Handlangerlohn. Die bereits eingezahlten Gewerkschaftsbeiträge wurden ihm auf Franken und Rappen in die Hand gezählt. Ein Strich werde gemacht, wurde ihm beschieden – «Damit bist du nie Mitglied bei uns gewesen» –, es dürfe nicht bekannt werden, dass er, kaum aus dem VPOD ausgeschlossen, von einer anderen Gewerkschaft aufgenommen worden sei. Das Mitgliedbüchlein, Spurentilgung, «erwarte ich von dir zurück», habe der Kollege an seine Solidarität appelliert. Aber er habe es heute noch. «Ich wollte ein Beweisstück für die Geschichte, die ich dir da erzähle», grinst S. Der von den eigenen Kollegen weiter nach links getrieben wurde, endlich bei einem stadtbekannten Buchhändler und Kommunisten ein Auskommen fand und drei Jahre später als Redaktor beim Vorwärts zu zeichnen begann.
Reden für einen Gewerkschaftspräsidenten & Sozialdemokraten
Schliesslich konnte er bei seinen erfolglosen Stellenbewerbungen den rechtschaffenen Gewerkschaftspräsidenten und sozialdemokratischen Nationalrat nicht als Referenz verraten, dem er von 1957 an für lange Jahre die Reden schrieb. Der habe ihm jeweils telefoniert oder kleine Billette zukommen lassen – «Lieber Victor, kannst du mir helfen, ich erwarte dich in meinem Büro» –, «der hat mich ins Herz geschlossen. Ganz sentimental.» Obwohl er die Kommunisten im Allgemeinen für «Gangster» gehalten, habe der Gewerkschaftspräsident und Nationalrat ihn, S., gern gehabt und sich vom Kommunisten im Besonderen die Reden schreiben lassen. Wie die Kalten Krieger immer behauptet und es selbst nicht geglaubt hatten. «Jetzt darf ich es sagen. Jetzt ist er tot.» Die Doppel der kommunistisch verfassten und sozialdemokratisch gehaltenen Reden liegen noch, fein säuberlich geordnet, in S.‘ Hängeregistern. «Grad letzthin habe ich eine Quittung gefunden. Über dreihundert Franken. Das war damals die Hälfte eines Monatslohns. Für seine Hauptrede an einem Kongress. 25 Seiten habe ich geschrieben, und er hat sie brav abgelesen, Wort für Wort, ohne eine Korrektur. Die Kommentare waren begeistert.» Da habe er schon ein wenig schmunzeln müssen, lacht S. stolz. «Der wusste gar nicht, was er erzählte. Ich war vorsichtig, aber manchmal hat er schon Dinge gesagt, die ein braver Sozialdemokrat und Gewerkschafter nicht sagen würde.» Er habe das nie jemandem erzählt, solange er noch lebte, er habe ihn nicht blamieren, ihm nicht schaden wollen – «das wäre für die bürgerliche Presse ein schönes Fressen gewesen».
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- Der nächste Teil der Serie «Die Schiwoff-Affäre – vor 60 Jahren» erscheint in wenigen Tagen.
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Victor S.: Victor Schiwoff, geboren am 22. November 1924 in Meiringen. Der Vater war Russe, die Mutter Polin; beide schlossen ihr Medizinstudium in Zürich ab. Kurz vor Matura-Abschluss wurde Victor Schiwoff vom Militär einberufen – 300 Aktivdiensttage. 1945 als jüngstes Parteimitglied bei der Gründung der Partei der Arbeit dabei. 1946 den Matura-Abschluss nachgeholt. 1947 bis 1951 Studium mit Abschluss als Dr. rer. pol. Nach verschiedenen Tätigkeiten 1954 erste Arbeiten für den VPOD, u.a. die Studie zum 50-Jahr-Jubiläum «Das Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht des Arbeitnehmers im öffentlichen Dienst», 1955 Wahl zum Sekretär der VPOD-Sektion Luftverkehr, 1956 die sogenannte «Schiwoff-Affäre», mit Ausschluss aus VPOD. Nach einer kurzen Zeit der Stellenlosigkeit verschiedene Arbeiten, u.a. als Hilfsmaler und Packer in einer Buchhandlung. 1960 bis 1971 Redaktor beim «Vorwärts» in Genf, wo er als Mitglied der PdA in den Gemeinderat von Meyrin und in den Grossrat des Kantons Genf gewählt wurde. 1971 bis zu seiner Pensionierung 1989 Zentralsekretär VPOD, in Zürich. Am 5. April 2006 gestorben.
Elsi S.: Elsi Schiwoff, geborene Wettstein. Am 3. Januar 1925 in Meilen geboren. Ausbildung: Handelsmatura in Neuenburg, Latein-Matur in Zürich, Diplom für französische Sprache und Zivilisation an der Sorbonne in Paris. Tätigkeit als Verwaltungsangestellte in Treuhandbüros, Wohn-Bau-Genossenschaft und Gewerkschaft GBI. Politisches Engagement: hauptsächlich in Genf-Cointrin. Am 20. März 2004 gestorben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Das Buch «Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss – Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg» von Jürgmeier ist 2002 im Chronos-Verlag, Zürich, erschienen.
Ist doch schön, wie es den Schiwoffs niemals schlecht gegangen ist. Andererseits: Schiwoff hat viele Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre einfach über seine politischen Vorlieben und Beziehungen belogen – sollten die das einfach hinnehmen und ihn so weitermachen lassen?
Er war vermutlich weder ein großer Kommunist noch ein großer Spion, aber ein großer (und absolut selbstgefällig-reueloser) Schwindler. Einer, der es normal und richtig findet, unehrlich zu sein. Sozusagen das, was Bernie Madoff für die New Yorker Kapitalistenszene war.
Übrigens: Schiwoff hat vermutlich keine wichtigen Schweizer Interna an den Ostblock weitergegeben. Es fragt sich aber, wie weit er SP-Interna an die konkurrierende PdA weitergegeben hat. Das dürften sich damals auch die SP-Granden gefragt haben. Nun war Schiwoffs grundsätzliche Einstellung bis zu seinem Tod die, nur das zuzugeben, was die anderen schwarz auf weiß belegen konnten. Die Frage wird sich also wohl nicht mehr klären lassen.