La Suisse existe. Aber wie?
Leere Säle, eine Veranstaltung mit drei Zuhörern (wie, als Beispiel, von der «Südostschweiz» kürzlich frustriert beschrieben), Podiumsdiskussionen vor gähnend leeren Stuhlreihen und ein häufig schlecht informiertes Restpublikum, aus dem meist nur gerade noch Verbandsvertreter substanzielle Fragen an die Kandidatinnen und Kandidaten stellen: Wahl-«Kampf» 2011 in der demokratischsten Gesellschaft aller Zeiten und aller Welten.
Anlass für eine gezielte Provokation: Vielleicht sollten wir die Demokratie auf Bundesebene mangels Nachfrage abschaffen. Vielleicht sollten wir wirklich offen – und nicht verdeckt wie bis anhin – zum Führerprinzip zurückkehren, allerdings nicht in personalisierter, sondern in modernisierter Form. Zum Teil passiert das ja schon, bloss bleibt es weitgehend unbemerkt.
Unbemerkt?
Beispiel: Die Nationalbank regiert sich seit jeher selbst. In ruhigen Zeiten fällt das nicht auf. In unruhigen schon. Was ein dreiköpfiges Präsidium unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit und jedes Regierungs- und Parlamentseinflusses beschliesst, hat existenzielle und verbindliche Bedeutung für das Land und jeden einzelnen Bürger. Es gibt keinerlei demokratische Kontrolle – und das ist gut so. Es läuft ja auch ganz gut.
Die UBSCSnestlénovartisrocheusw AG regiert sich gleichfalls weitestgehend selbst und es läuft, aller inneren und äusseren Widrigkeiten zum Trotz, gleichfalls ganz flott. Als Swissair und UBS mit enormen staatlichen Summen flottgemacht werden mussten, wurde das in kleinsten Zirkeln entschieden. Die demokratische Absegnung folgte erst hinterher und nur pro forma. Zu ändern war nichts. Die Demokratie wurde vorübergehend einfach ausser Kraft gesetzt. Die Fälle häufen sich. Das Bankgeheimnis, jahrzehntelang nicht zu hinterfragende Staatsdoktrin, wurde ohne demokratischen Beschluss über Nacht einfach fallen gelassen, weil eine Grossbank es so beschloss.
Global versus lokal
Diese Entwicklung – die Zweiteilung der Schweiz: hier die global agierende Schweiz AG, die den Nationalstaat nicht mehr braucht, ihn im Gegenteil als Belastung empfindet, dort die erdenschwere Schweizerische Eidgenossenschaft – wird sich weiter verschärfen. Die zwei Schweizen führen immer stärker ein Eigenleben. Und sie finden immer weniger Berührungspunkte zueinander.
Auf Bundesebene haben wir partiell tatsächlich wieder Verhältnisse, wie sie der Berner Staatsrechtler Karl Ludwig von Haller 1816 in einem Werk mit dem umständlichen Titel «Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlich geselligen Zustands der Chimäre der künstlich bürgerlichen entgegengesetzt» beschrieb. In dem international beachteten Werk, das einer ganzen Epoche den Namen gab: der Restauration, verwirft Haller die Idee von Gewaltenteilung und Volkssouveränität auf höchster Staatsebene und setzt der Demokratie den «natürlich begründeten» Staat entgegen, in dem der Mächtigere zum Wohl aller herrschen soll.
Unbemerkt haben wir uns in vielen Bereichen auf Bundesebene der Hallerschen Vorstellung wieder angenähert: die Mächtigeren sollen herrschen. Das tun sie auch. Die schweizerische Elite – ein zahlenmässig eng zu fassender Begriff – hat sich von der Hallerschen Definition nie wirklich verabschiedet, nur hat sie früher ihr Verhältnis zur Macht besser kaschiert. Heute ist solche Verwedelung von offensichtlichen Realitäten weder zweckdienlich noch nötig. Man muss sich dabei nicht immer nur auf UBS und CS beschränken, die faktische Staaten im Staat sind und deren Bilanzsumme die Wirtschaftsleistung des ganzen Landes um ein Vielfaches übersteigen, mit unausgesprochenen Konsequenzen auf alle demokratischen Institutionen des Staates.
Man könnte es wissen, so man es denn wissen wollte…
Aber so dramatisch ist das gar nicht, höchstens ziemlich verlogen. Denn insgesamt ist die andere Schweiz: die Schweizerische Eidgenossenschaft, dank ihrer föderalen, von unten gewachsenen Strukturen auf Kantons-, vor allem aber auf Gemeindeebene, durchaus solide verwaltet und in sich stabil. Auf diesen Ebenen ist die Demokratie noch weitgehend intakt und überschaubar, obwohl bei Abstimmungen in Gemeindeversammlungen die Bürgerbeteiligung im Landesdurchschnitt unter 10 Prozent liegt.
Auf Bundesebene ist die Durchschaubarkeit der Entscheidungsprozesse hingegen verloren gegangen. Das ist auch der tiefere Grund für die Absenz der Bürger. Die Endabstimmungen, wo eine Minderheit der Bevölkerung zu komplexesten Vorlagen jeweils noch Ja oder Nein sagen darf, ändern an dem Befund in Wahrheit nur wenig.
Der Bürger ist überfordert
Eine Wahlbeteiligung unter 50 Prozent seit vielen Jahren ist nicht ein Zeichen der Zufriedenheit der Bürger, sondern ein Zeichen ihrer totalen Überforderung durch den immer hektischeren Entscheidungsdruck. Jedenfalls gibt es auf Bundesebene keine wirklich noch funktionierende direkte Demokratie mehr. Es herrscht der Mächtigere, und das bisweilen absolut.
Wahrscheinlich erleben wir derzeit eine Art «Belgisierung» der Schweiz, das Schwinden des Nationalstaats und seiner Bedeutung: Belgien kommt schon lange mit einer provisorischen Bundesregierung fürs Nötigste zurecht. Die zwei Landesteile Wallonien und Flandern organisieren sich bis ins Kleinste selbst – und durchaus erfolgreich. Belgien zählt zu den 15 wirtschaftlich kompetitivsten Staaten der Welt. Dies funktioniert allerdings nur, weil der Nationalstaat Belgien, oder das, was davon noch übrig bleibt, eng in die EU eingebunden ist. Sonst könnten sich die Belgier ihren Sonderweg nicht erlauben.
Die Schweiz als Passiv-Mitglied der EU
Und die Schweiz? Könnte sie sich die schleichende Auflösung bundesstaatlicher Verbindlichkeit erlauben ohne zugleich verdecktes Passiv-Mitglied der EU zu sein? Früher einmal war die Schweizer Armee ein wesentliches und integrierendes Element des Nationalstaats. Heute interessiert die Armee kaum noch – bis auf deren Kosten. Dies ist ein sichtbares Beispiel für fundamentale Veränderungen innerhalb weniger Jahre, die wichtige Institutionen des Bundesstaates in Frage stellen. Deren Bindefähigkeit lässt unübersehbar nach.
Die Veränderungen, die wir derzeit um uns herum erleben, haben tektonische Ausmasse mit Langfristwirkung. Unseren Medien kann man das aber kaum entnehmen. Und wenn, beziehen sich tiefergehenden Analysen, die auch Institutionen des Staates als solche hinterfragen, fast ausschliesslich auf ausländische Beispiele, bloss nicht auf unsere – vermeintliche – Alpenfestung selbst.
Dass gängige Argument, den Schweizern gehe es eben insgesamt zu gut, um sich mit den Niederungen der grösseren Politik ernsthaft auseinanderzusetzen, schwächelt. Auch Gutverdiener spüren, wie es langsam eng wird. Sonst hätte eine Angstpartei wie die SVP nicht weit ins bisher als «bürgerlich» bezeichnete Lager hinein ein unverändertes Wählerpotential von 30 Prozent plus, auch und gerade in Wörld Cläss Züri, wo man das ja nicht zwingend erwarten müsste, und wo der allergrösste Teil unserer Medien produziert und kontrolliert wird.
La Suisse existe. Aber anders, als sich das die meisten Schweizer ausmalen. Weil ihnen niemand die unbequeme Wahrheit sagt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine