Kommentar
kontertext: Weiss, Mann – normal?
Die Kulturwissenschaftlerin Silvia Henke hat im Infosperber vom 27. September gefragt, wie treffend und erhellend die Kategorie «weisser Mann» sein könnte. Als älterer Mann kann ich zur Erörterung der Frage etwas beitragen, schon weil ich, pädagogisch gesehen, ein Fossil bin. Ich habe in Basel ein bürgerlich-elitäres, humanistisches Gymnasium besucht, das damals noch eine «reine» (!) Männerschule war. Es gab «intra muros» nur Schüler und Lehrer, und die kamen aus der weissen Schweizer Mittel- und Oberschicht. Auf die zwei, drei Sonderlinge von angepassten Unterschichtskindern war die Schule stolz. Nichtweisse gab es nicht.
Wir sind wir
Das war keine schlechte Schule. Die Lehrer, oft originelle Käuze, waren begeisterte Pädagogen und leidenschaftliche Liebhaber ihrer Fächer. Die humanistische Tradition war solide verankert, Körperstrafen etwa waren verpönt. Das Weltbild, das vermittelt wurde, war vollkommen eurozentristisch. Nicht-europäische Völker kamen nur vage am Rande ferner Zeiten als Feinde vor. Und das 20. Jahrhundert, in dem diese Fremden etwas näherkamen, wurde im Geschichtsunterricht schlicht nicht behandelt. Nicht-europäisches Denken lernten wir nicht kennen. Für uns war so selbstverständlich, dass wir es nicht einmal wussten: Wir waren die Menschheit. Andere als wir gab es nicht. Wir waren Wirklichkeit und Mass aller Dinge. Wenn Daniela Janser in der WoZ oder Silvia Henke im Infosperber davon schreiben, der weisse Mann empfinde sich als «unmarkiert» und label-frei, so kann ich das unmittelbar nachvollziehen.
Natürlich ist auch die Labelfreiheit ein Label, das des Anderen bedarf – aber das Andere wurde nicht ins pädagogische Programm aufgenommen. Einmal flippte ein Lehrer aus und schrie sich in einem antikommunistischen Hassdiskurs heiser, weil er bemerkt hatte, dass die Landkarte, mit der er unterrichten sollte, in einem «Volkseigenen Betrieb», in der DDR also, hergestellt war. Wir Schüler verstanden nichts, ahnten aber, dass es da noch etwas «anderes» gab.
Und dann geschah zu unseren Zeiten Unerhörtes. Nach Jahrhunderten betrat die erste Frau die Schule. Als Lehrerin, als Latein- und Griechischlehrerin sogar. Bezeichnenderweise hatten wir alle nicht die geringste Ahnung davon und nicht den geringsten Spürsinn dafür, dass das ein Paradigmenwechsel war. «Lehrer schelle», sich also möglichst undiszipliniert verhalten, das war das Programm der Schüler, bis – bis die Lehrerin eines Tages vor der Klasse in Tränen ausbrach. Warum genau, ist mir nicht mehr erinnerlich, aber den Schock kann ich bis heute nachempfinden: Das war der Einbruch des Weiblichen ins Männerbewusstsein.
Tempi passati? Natürlich gibt es das Humanistische Gymnasium, das ich besucht habe, nicht mehr. Die Schule – nach wie vor eine Eliteschule – ist heute internationalisiert, das Abitur kann dort auf Englisch absolviert werden, und der Schulleiter muss den stresserzeugenden Übereifer der Schüler und vor allem der Schülerinnen bremsen. Wenn ich aber die Forderungen nach Zucht und Ordnung von rechter Seite höre, wenn ich am TV sehe, dass Bundesrätin Sommaruga es für einen Tabubruch hält, wenn ein Jugendlicher seiner Lehrerin die Hand nicht geben will, so frage ich mich doch, ob meine Schulzeit so weit weg ist und ob pädagogische Fortschritte nicht ebenso gut rückgängig gemacht werden können wie fast jeder Fortschritt.
Frauen retten
Zurück zur Kategorie «weisser Mann». Weiss ist der Mann nur aufgrund der kolonialen Vergangenheit. Und die scheint immer heftiger nachzuwirken, je mehr die Reaktionsperiode, in der wir leben, Gestalt annimmt. «Weisse Männer retten braune Frauen vor braunen Männern», konstatierte die feministische Wissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak schon 1988. In ihrem berühmten Aufsatz «Can the Subaltern Speak?» erzählt sie, wie die Engländer den grausamen Brauch der Witwenverbrennung in Indien dazu benutzten, um ihre Kolonialherrschaft über das Land zu legitimieren.
Auch der Krieg in Afghanistan wurde u.a. mit Frauenrechten legitimiert. Heute, 15 Jahre nach dem Militäreinsatz, zieht die taz Bilanz: «Die Mär von der Frauenbefreiung» lautet ihr Titel. Unnötig anzufügen, wie wichtig das Motiv der Frauenrettung in der Islamophobie, auch in der Schweiz, ist. Und die Resultate haben ebenfalls ihre Tradition: Schon zu englischen Kolonialzeiten erschwerte die Instrumentalisierung der Frauenrechte durch die Engländer der indischen internen Opposition das Leben. Auch heute und auch bei uns haben es Frauen, Lesben, Schwule, Queer-Personen schwerer, in ihren Communities für die Freiheit der Lebensführung einzutreten, wenn die Forderung nach dieser Freiheit vom islamophoben Teil der Mehrheitsgesellschaft erhoben wird.
Der Vater der Mutter aller Probleme
«Schweizer verlieren Jobs, weil weniger Migranten kommen», so titelte Blick am 5. Oktober. Und wenn mehr Migranten kommen? Dann nehmen sie «uns» erst recht die Jobs weg. Flüchtlinge können es nie recht machen. Fest steht nur: Sie sind für Regen und Schönwetter verantwortlich. Oder, wie Horst Seehofer sagte, Migration sei «die Mutter aller Probleme».
Die etablierte Weltwirtschaft und die herrschende Politik verhindern die Beseitigung der Fluchtursachen und die Respektierung der physischen Integrität von Flüchtlingen. Gleichzeitig aber wird in den reichen Ländern seit langem über nichts so intensiv gesprochen wie über Migration. Dringliche Themen – wie Klima, Umwelt, Krieg, Armut, Hunger, Rechtsradikalismus, Demokratie – verschwinden hinter dem Migrations-Diskurs.
Die obsessive Beschäftigung mit Flucht bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Misere ist sehr wohl ein Erbe der Kolonialzeit. Der weisse Mann braucht den Anderen als Objekt der Ausbeutung und der Abgrenzung, aber der Andere muss unter Kontrolle und Herrschaft des weissen Mannes bleiben. «Subalterne», wie Spivak sagen würde, müssen Objekte bleiben, gelegentlich übrigens durchaus auch Objekte der Fürsorge und des paternalistischen Wohlwollens. Bis in die alltägliche Berichterstattung unserer honorigen Medien hinein wird zwar ständig über Migration gesprochen, die Flüchtlinge selbst aber erhalten fast nie eine eigene Stimme. Um noch einmal Spivak zu zitieren: Es ist klar, «dass die Subalternen zu ignorieren heute wohl oder übel bedeutet, das imperialistische Projekt weiterzuführen.»
Natürlich sind das alles nur Belege dafür, dass die Kategorie «weisser Mann» sinnvoll sein kann. Wirkliche Analysen der Kategorie sind das nicht. Auch die Gefahr der Naturalisierung der Kategorie, des Rückfalls in die primitive Auffassung, weisser Mann zu sein, sei angeboren, soll nicht verleugnet werden. Weiteres Nachdenken und Forschen wäre dringlich, wird aber verhindert, wenn die Gender-Lehrstühle, wie in Basel beabsichtigt, mit anderen Forschungsgebieten zusammengeworfen, im Klartext: beseitigt werden.
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- Zu Gayatri Chakravorty Spivaks bahnbrechender Essay «Can the Subaltern Speak» ist hier ein aufschlussreicher Aufsatz von Annika Nickenig zu finden: «Das wilde Denken».
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
- Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium Deutsch, Französisch, Geschichte. Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».
Hervorragender Artikel, beinahe ein Essay, der empirische Erfahrungen weiter denkt. Kluge Definition von «Weiss», die sich genau dort anbindet, wo sie virulent war: im Kolonialismus.
Ein Essay, wie er auch in der ZEIT oder im Spiegel stehen könnte.
Felix Schneider stellt die Frage: «Was taugt die Kategorie weißer Mann» und kommt zu dem Schluss: «Natürlich sind das alles nur Belege dafür, dass die Kategorie «weisser Mann» sinnvoll sein kann.»
Schneiders Aufenthalt in einem Elitegymnasiums hat ihm offensichtlich nicht zu der Erkenntnis verholfen, was unter einer «Kategorie» oder unter einem «weißen Mann» zu verstehen ist?!
Dass Schneider uns Anekdoten statt Erkenntnisse vermitteln muss, dass erschließt sich auch aus diesem seinem Eingeständnis: «Wirkliche Analysen der Kategorie sind das nicht.»
"Weißer Mann» ist keine Kategorie, sondern ein im Geschäftsinteresse aufgeblasenes, pejorativ verstandenes Schlag-Wort, das den Eindruck erwecken soll, gesellschaftlich relevant zu sein.
Als gelernter Genderist ahnt Schneider vielleicht aber, dass ein Schlagwort weder «sinnvoll», geschweige denn ein Thema sein kann:
DEN «weißen Mann» nämlich gibt es nicht!
Es handelt sich auch bei dieser Wortschöpfung um eine von Feministen bevorzugte Psychologisierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die ihrerseits wissenschaftlich nur politisch-ökonomisch, historisch und soziologisch verstanden werden können.
Nein, nicht die ‹Migration› ist die ‹Mutter› (!) aller Probleme, sondern das Patriarchat. Wichtig ist auch: das ‹Patriarchat› ist nicht die Gesamtheit der (weissen) Männer, sondern ein System. Ein System, dass sich seit Jahrhunderten wie ein Krebs durch fast alle Gesellschaften gewuchert hat und fast nicht mehr auszurotten ist.
Aber es gibt zunehmend auch (weisse) Männer, die erkennen, dass das System Patriarchat den wahren Fortschritt der Gesellschaft verhindert und uns nicht mehr weiterbringt.
Wie in vielen Ländern wird auch in den USA im Moment kräftig daran gearbeitet, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, aber das kann nur ein Stolperstein sein auf dem Weg zur endgültigen Befreiung vom System Patriarchat.