Kommentar
kontertext: Fast eine Weihnachtsgeschichte – nur umgekehrt
Dass die Schweiz vor gut 150 Jahren selber Armutsflüchtlinge in grosser Zahl produzierte, ist grundsätzlich bekannt. Kaum aber, dass sie dabei massenweise eigene Bürger zwangsausschaffte. Das war quasi erst vorgestern, und unsere Urgrosseltern hätten darunter sein können.
Vor kurzem fiel mir bei einer Haushaltsauflösung eine kleine Schrift in die Hände, die am Beispiel der Aargauer Gemeinde Rothrist diese Vorgänge in den 1850er Jahren akribisch aufarbeitet (Alfred Schriber-Wyss, Die Rothrister Auswanderung von 1855, Zofingen 1994). Im Spitzenjahr 1855, so zeigt die Schrift, waren über 300 Rothrister gezwungen auszuwandern, weil sie hier keine Lebensgrundlage mehr hatten. Das waren jeder Achte – oder 13 Prozent der Bevölkerung. Hungerflüchtlinge, heute Wirtschaftsflüchtlinge genannt.
Wo lagen die Gründe? Zur Krise der Textilindustrie Ende der 1830er Jahre kam im Aargau ab den 1840er Jahren eine Agrarkrise mit mehreren Missernten hinzu. 1847 waren bereits 7,6 Prozent der Gesamtbevölkerung von Rothrist armengenössig, was bedeutete, dass sie zwangsweise in die Armen-Arbeitsanstalt eingewiesen wurden.
Das Regime in der Armen-Arbeitsanstalt
Ziel der Anstalt war es, die Armen einerseits zu versorgen und unter Kontrolle zu halten und sie andrerseits die entstehenden Kosten abarbeiten zu lassen. Die Idee, dass Sozialfürsorge selbsttragend sein soll, erwies sich bald als Illusion. Zu viele Insassen waren aufgrund von Krankheit, Alter und Gebrechlichkeit gar nicht in der Lage, die geforderte Arbeitsleistung zu erbringen.
Das Regime in der Anstalt war streng. Alle Insassen mussten eine Einheitskleidung aus dem gleichen Stoff tragen, was erniedrigend war und an Gefängnisse erinnert. Betteln und Kartenspielen waren strengstens untersagt. Die Schlafstuben waren nach Geschlechtern getrennt, was auch bedeutete, dass Familien so auseinandergerissen wurden. Ein Privatleben war nicht mehr möglich. Wer armengenössig wurde, verlor zudem seine bürgerlichen Rechte und blieb zeitlebens stigmatisiert.
Die Defizite der Armen-Arbeitsanstalt waren einigen Rothrister Bürgern ein Dorn im Auge, weil sie Steuererhöhungen befürchteten. Sie lancierten deshalb eine «Petition der 80» mit einer Reihe von teils absurden Sparbefehlen an den Gemeinderat.
Organisierte Massenauswanderung – mit Zwangsrekrutierungen
Da die Defizite nicht verschwanden, entschied sich der Gemeinderat für radikalere Massnahmen. Er erliess zuerst einen Aufruf zur freiwilligen Auswanderung, und da diesem zu wenig Erfolg beschieden war, erstellte er kurzerhand eine Liste mit Zwangsrekrutierungen von Armengenössigen, die der Gemeinde zur Last fielen und die man deshalb loswerden wollte. Wer die Ausreise verweigerte, wurde polizeilich vorgeführt. So kamen schliesslich 309 Personen zusammen, die am 27. Februar 1855 unter der Ägide einer kommerziellen Ausreiseagentur auf den Weg nach Le Havre geschickt und von dort weiter nach New Orleans verschifft wurden. Es war ein Abschied für immer.
Für das Auswanderungsvorhaben hatte der Gemeinderat den Betrag von Fr. 50’000 ins Budget gestellt, was von der Gemeindeversammlung einstimmig (!) abgesegnet wurde. 46 Tage dauerte die Überfahrt auf einem Segelschiff; das war billiger als der Transport mit einem schnelleren Motorschiff. 55 Prozent der Zwangsausgewanderten waren unter 20 Jahren, was zeigt, dass vor allem auch kinderreiche Familien betroffen waren.
Die Rothrister Zwangsauswanderung bildet keinen Einzelfall. Ein ähnliches Vorgehen ist in vielen Schweizer Gemeinden belegt, auch wenn es Unterschiede im Detail gibt. So stellte etwa der Kanton Glarus jeweils einen behördlichen Expeditionsleiter, der die Auswandernden bis zum Zielort begleitete. Im Falle von Rothrist begnügten sich die Behördenvertreter mit einer Begleitung bis Le Havre – wohl vor allem um sicherzustellen, dass wirklich alle an Bord gingen. Der Autor der hier zitierten Schrift erhebt deshalb gegen die Rothrister Behörde – neben dem Grundskandalon der Zwangsauswanderung eigener Bürger – auch den Vorwurf der mangelnden Vor- und Fürsorge.
Die Armen bekämpfen statt die Armut
Die Moral der Geschichte liegt auf der Hand. Und sie ist alles andere als weihnächtlich. Es geht nicht nur um die erstaunliche Umkehrung, dass wir in der Schweiz innert weniger Generationen vom Auswanderungsland aus nackter Not zum Abschottungsland aus schierem Überfluss geworden sind. Beim Lesen dieser Rothrister-Schrift wird man auf Schritt und Tritt auch an die heutige «Sozialpolitik» von rechts erinnert. Es wird überdeutlich, dass diese im Prinzip genau dahin zurück will, ins 19. Jahrhundert – bestenfalls. Armutsbetroffene verlieren ihren Anspruch auf ein geschütztes Privatleben. Armut ist selbstverschuldet und soll möglichst ohne staatliche Hilfe ausgelöffelt werden.
Armutsbetroffene werden unter den Generalverdacht des Missbrauchs gestellt. Arme, Alkis und Obdachlose sollen zumindest im öffentlichen Leben nicht sichtbar sein. Weg mit ihnen an den Bahnhöfen und Haltestellen, fordern rechte «Sozialpolitiker» regelmässig. Parkbänke werden in vielen Städten für teures Geld so umgemodelt, dass man darauf nicht mehr liegend nächtigen kann. Kurz, das rechte Credo lautet: Die Armen bekämpfen statt die Armut.
Welche Art von Migration?
Zwischen 1816 und 1913 sind mehr als 400’000 Schweizerinnen und Schweizer nach Übersee ausgewandert, die meisten von ihnen in die USA. Nicht jede dieser Auswanderungen war armutsgetrieben, aber klar der Grossteil. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl hat die Schweiz deutlich mehr Auswanderer «produziert» als andere europäische Länder vergleichbarer Grösse wie etwa Belgien oder Holland. Eine Beschönigung der Schweizer Emigration stellt zweifellos die Aussage von Langzeitbundesrat Giuseppe Motta (Finanz- und Aussenminister 1912-1940) dar, der 1931 behauptete: «Unsere Auswanderung ist nie zur Massenauswanderung geworden; sie ist stets eine Qualitätsauswanderung geblieben.»
Natürlich zogen Engadiner Zuckerbäcker oder Käser aus dem Berner Oberland, Künstler aus dem Tessin, Banker und Industrielle aus Genf, Zürich, Basel und Bern auch aus freien Stücken in die weite Welt hinaus – und kehrten nicht selten als «gemachte Leute» in die Heimat zurück. Das allerdings relativiert in keiner Weise das grobe Unrecht, das mit den Zwangsauswanderungen von Schweizer Bürgern im 19. Jahrhundert geschehen ist. Heute aber lauern die Gefahren für neues Unrecht in den gegenläufigen Migrationsbewegungen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Alfred Schlienger, Theater- und Filmkritiker, u.a. für die NZZ; ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule; Mitbegründer der Bürgerplattform Rettet-Basel!; lebt in Basel.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
Danke für diesen bewegenden Beitrag.
Benno Glauser (Paraguay)
Phuu! Habe ich ein Glück, im 21. Jhd. zu leben. Aber Halt! Kennen Sie das Drama der Älteren in der Sozialhilfe? Die Ausgesteuerten 50+Arbeitnehmer, die arbeiten wollen aber niemand mehr haben will. In den nächsten Jahren kommt es aus, wie die Schweiz mit ihren Ausgesteuerten Sozialhilfeempfängern umgeht. Armen-Anstalt wäre dann 2. Arbeitsmarkt. Auswanderungspflicht geht nicht mehr, da auch das Ausland keine verarmten CH abnimmt (es sei denn mit viel Penionskassengeld & diesen Verzehr will der Bund ja auch strafbar machen). Wie wäre es, wenn die Gemeinden endlich die Verursacher, den heiligen unantastbaren Arbeitsmarkt, via Mikrotransfersteuer für die sozialen Schäden zur Kasse bitten? Oder das Grundeinkommen einführen. Nein? Dann wenigstens mal Mindestlöhne in allen Branchen und Berufen einführen. Um Gottes Willen tut was. Sonst werden bald ähnliche Zustände, wie vor 150 Jahren anwachsen.
Das wäre auch etwas für den Geschichtsunterricht der Volksschule, nein, das gehört in den Geschichtsunterricht: weniger über Pfahlbauern, mehr neuere und vor allem objektive und kritische Zeitgeschichte. Wie sonst sollen heutige Stimmbügerinnen und -bürger überhaupt beurteilen können, wohin gewisse Wege führen? Ein Schelm, der Böses dabei denkt, warum solcherlei nicht Allgemeinwissen ist.