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Walter Leimgruber, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen, gibt Auskunft. © SRF

«Konkrete Lösungen statt abstrakte Zahlen»

Jürg Müller-Muralt /  Migrationsdruck (2): Wie gross Einwanderung sein darf, ist keine Frage von Zahlen, sondern eine des gesellschaftlichen Konsenses.

Heute ist der Ausländeranteil in der Schweiz höher denn je, er liegt bei über einem Fünftel der Wohnbevölkerung (rund 23 Prozent). 2012 hat die ausländische Wohnbevölkerung insgesamt um drei Prozent oder knapp 53’000 Personen zugenommen. Der Zuwachs der ausländischen Wohnbevölkerung ist hauptsächlich auf die erleichterte Zuwanderung aus den EU-Ländern dank der Personenfreizügigkeit zurückzuführen (plus 4,1 Prozent, wie schon 2011). Am meisten Leute wanderten aus Portugal und Deutschland ein. Die Einwanderung aus Ländern ausserhalb der EU hat nur geringfügig um 0,9 Prozent zugenommen.

Starke Einwanderung ist nichts Neues

Einen vergleichsweise hohen Ausländeranteil hat die Schweiz schon lange. Bereits 1910 lag der Anteil der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung bei 15 Prozent. Dieser Wert wurde, nach einem Rückgang während der beiden Weltkriege, 1980 wieder erreicht. Der hohe Ausländeranteil ist nicht zuletzt eine Folge der restriktiven Einbürgerungspraxis in der Schweiz. Bei starker Zuwanderung aus Ländern der EU kann der Bundesrat unter gewissen Bedingungen die Ventilklausel aktivieren, also die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen beschränken. Für die EU-Oststaaten hat er dies bereits im letzten Jahr getan. Doch die Einschränkung der Personenfreizügigkeit ist umstritten, sie wird von vielen EU-Ländern als Affront betrachtet. Ob die Ventilklausel für alle EU-Staaten zur Anwendung kommt, entscheidet der Bundesrat wahrscheinlich noch im laufenden Monat.

Nicht nur bei der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung steigen die Zahlen, sondern auch bei den Asylsuchenden: im Jahr 2012 um satte 27 Prozent auf 28’631 Personen. Die Bundesbehörden reagieren mit verschiedenen Massnahmen; in erster Linie sollen die Asylverfahren stark beschleunigt werden. Gegen das von Bundesrat und Parlament verabschiedete Paket mit den dringlichen Massnahmen im Asylbereich wurde das Referendum ergriffen, am 9. Juni 2013 kommt es deshalb zur Volksabstimmung.

Zahlen sind der falsche Ansatz

Migration ist nichts Neues in der Geschichte, doch die Wanderungsbewegungen sind heute besonders intensiv. Wie gross die Zuwanderung sein darf, sei keine Frage von Zahlen, sondern eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses, sagt Walter Leimgruber, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen, im folgenden Interview. Leimgruber ist ordentlicher Professor und Leiter des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel.

Herr Leimgruber, in der Schweiz leben über acht Millionen Menschen, rund 1,8 Millionen davon sind Migrantinnen und Migranten. Sind wir zu viele im Land?

Walter Leimgruber: Es gibt keine Berechnungsgrundlage, aufgrund der man festlegen kann, ob zu viele, zu wenige oder genau die richtige Anzahl Menschen in einem Land leben. Wie viele Migranten eine Gesellschaft tatsächlich verträgt, ist primär eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses.

Welche Rolle spielte die Migration in der Geschichte der Schweiz?

Die Schweiz ist historisch gesehen kein Einwanderungsland. Aber Migration ist nichts Neues. Es gab immer soziale Gruppen, die umherzogen und weite Distanzen zurücklegten. Im Mittelalter etwa Handwerker, Händler und Gelehrte. Die Schweiz war zudem lange ein Auswanderungsland, insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert, als die Armut die Menschen zur Auswanderung zwang.

Migration hat es also immer gegeben. Wieso erleben viele die Gegenwart als so dramatisch?

Es ist sicher die Intensität der Migration. Wir finden uns aber auch deshalb nicht mit der Migration ab, weil wir das Bild einer immobilen, stabilen Gesellschaft in uns tragen. Diese Vorstellung hat sich erst im 19. Jahrhundert mit der Bildung der Nationalstaaten herauskristallisiert. Es ist die Vorstellung, jeder Mensch habe einen natürlichen Ort, wo er verwurzelt ist und lebt. Mit der Wirklichkeit hatte das seit je kaum etwas zu tun. Vor allem bis zum Ersten Weltkrieg hat man die Landesgrenzen gar nicht als solche wahrgenommen, der Austausch jeglicher Art über die Grenzen war etwas sehr Selbstverständliches.

Trotz allem: Die starke Zuwanderung löst Ängste in weiten Teilen der Bevölkerung aus. Was sagen Sie als Präsident der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen diesen Leuten?

Die Ängste sind insofern begründet, als die Migration und die Mobilität eine grosse Herausforderung darstellen, für die Gesellschaft als Ganzes, insbesondere aber auch für einzelne Gruppen. Stichworte sind dabei die Angst um den Arbeitsplatz, um bezahlbaren Wohnraum, aber auch die Globalisierung. Alte Gewissheiten oder Überzeugungen wie jene, dass es wirtschaftlich immer nur aufwärts geht und der Wohlstand stetig zunimmt, brechen weg.

Gibt es aus diesem Grund heute so viel Ablehnung gegenüber den Deutschen? Eigentlich sind die Deutschen doch Immigranten, die uns in vieler Hinsicht nahe stehen.

Diese Ablehnung ist wirklich sehr bemerkenswert. Es gibt dafür einmal historische Gründe. Wir hatten im Laufe der Jahrhunderte sehr viele politische Auseinandersetzungen, angefangen bei der Loslösung der Eidgenossenschaft vom Deutschen Reich bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Die Schweizer legten immer grossen Wert darauf, sich abzugrenzen, und nicht als Deutsche wahrgenommen zu werden. Heute sind es vor allem Mentalitätsunterschiede. Die Deutschen denken, dass sie sich in der (deutsch)schweizerischen Gesellschaft völlig problemlos bewegen könnten, weil beide die gleiche Sprache sprechen. Aber gerade da liegt oft der Haken: Die Deutschen sind viel direkter in ihrer Ausdrucksweise. Sie verstehen zum Beispiel häufig nicht, dass ein «Ja, aber» eines Schweizers eigentlich «Nein» bedeutet. Da braucht es einfach sehr viel Kommunikation.

Zwei Initiativen zur Migration sind hängig, die Einwanderungsinitiative der SVP und die der Vereinigung Ecopop. Sehen Sie da Lösungsansätze?

Die beiden Initiativen beruhen auf Annahmen von bestimmten Grössenordnungen, die man aber quantitativ nicht belegen kann, weder als richtig noch als falsch. Es gibt Gebiete auf der Welt, die viel dichter besiedelt sind als die Schweiz und gut funktionieren, und solche, die dünn besiedelt sind und sehr schlecht funktionieren. Diese Initiativen sind der falsche Ansatz. Wir sollten nicht mit quantitativen Vorgaben operieren, sondern schauen, wo konkret uns der Schuh drückt, und für diese Probleme massgeschneiderte Lösungen finden, die von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen werden.

(Dieser Text erschien zuerst in der «Schweizer Revue» Nr. 2 / April 2013 (Zeitschrift für die Auslandschweizer)


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