Sperberauge
Klatschen ist gut, aber…
Dieser Film ist deutlich vor der Corona-Krise gedreht worden. Aber er wird weit über sie hinaus Bedeutung haben. Und heute schauen wir ihn natürlich mit geschärften Augen. Er sollte in allen Abschlussklassen aller Schulen gezeigt werden. Und wer sich für die personelle Situation in der Spitalpflege auch nur ein wenig interessiert, müsste ihn ebenso gesehen haben. Früher oder später können wir alle auf diese Institutionen angewiesen sein, in denen es um Leben und Tod geht. Und wenn wir nicht in einen noch schärferen Pflegenotstand hineinschlittern wollen, dann ist es jetzt höchste Zeit zu handeln.
Glück und Belastung
Keine Sorge, die Dokumentation „Pflege – Zwischen Frust und Leidenschaft“ von Cédric Louis skandalisiert in keiner Weise. Und sie ist auch kein simpler Werbespot für Pflegeberufe. Eher im Gegenteil. Der Film des Westschweizer Fernsehens zeigt die grossen Belastungen, denen man in diesem Arbeitsfeld ausgesetzt ist. Aber er dokumentiert auch die Glücksgefühle, die überdurchschnittliche Motivation, Menschlichkeit und Kompetenz, die es dafür braucht. In kluger Vielfalt lernen wir die verschiedensten Fachkräfte in ihrem Berufsalltag kennen, hautnah, differenziert, realistisch – und immer wieder sehr berührend.
Da ist die 27-jährige Agnès Chapalay, die sich frisch von der Ausbildung und mit viel Herzblut auf der Neonatologie so bewegend um die Frühgeburten kümmert. Oder Carmen Catalioto Cuche, seit über zehn Jahren auf der Intensivstation tätig, die sich als Co-Präsidentin auch in einem Berufsverband engagiert, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Maryline Bovero ist mit zahlreichen Zusatzausbildungen zu einer Expertin für Kinder-Onkologie geworden. Und seit 32 Jahren betreut die unverwüstlich optimistische Yanima Lahssini Patienten in der geriatrischen Notaufnahme.
Mangelware Zeit
12-Stunden-Tage sind die Norm. Da hat nicht viel Privatleben daneben Platz. Und zum Druck am Arbeitsplatz kommt auch manche Partnerschaft an ihre Belastungsgrenzen. Man muss sich mit der Allgegenwärtigkeit des Todes abfinden. „Je älter ich werde, umso empfindlicher werde ich“, sagt eine Fachkraft. Und das Wichtigste in diesem Beruf: Es geht immer um Beziehungen zum Patienten, um den Aufbau von Vertrauen – und das braucht Zeit.
Genau Zeit aber wurde in der ökonomistischen Durchrationalisierung der Spitalbetriebe in den letzten Jahren immer mehr zur Mangelware. Und dieser Zeitmangel hat sehr direkte Folgen für die Pflege. „Ich will keine Pflegefachfrau sein, die keine Zeit hat“, meint eine, die vorzeitig aus dem Beruf ausgestiegen ist. Mehr als 46 Prozent der Pflegefachkräfte wollen den Beruf vorzeitig aufgeben, oft weil sie den Verlust der menschlichen Seite ihres Berufs unter dem permanenten Zeitdruck nicht mehr aushalten. Das ist eine unglaubliche Verschleuderung von Ressourcen.
Für eine starke Pflege
Aktuell ist eine Initiative für eine starke Pflege, die diese Verhältnisse verbessern will, im Parlament hängig. Jährlich werden zurzeit nur 43 Prozent des eigentlichen Bedarfs ausgebildet. Und bis ins Jahr 2030 werden 65’000 zusätzliche Pflegende benötigt. Carmen Catalioto Cuche sagt es so: „Wenn es so weiter geht, weiss ich nicht, wer uns 2030 noch pflegen wird.“
Es ist höchste Zeit zu handeln.
Und das Schweizer Fernsehen darf man für diese eindrückliche Reportage uneingeschränkt loben. Sie ist hier einsehbar.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Alfred Schlienger, Theater- und Filmkritiker, u.a. für die «Republik»; ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule; Mitbegründer der Bürgerplattform Rettet-Basel!; lebt in Basel.