Keine Demokratie ohne verlässliche Zahlen!
Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!» Man kennt den Spruch und hört ihn oft – leider. Die andere «Wahrheit» nämlich ist: Ohne Statistik kann es keine moderne Demokratie geben. Denn für unendlich viele demokratische Entscheidungen, auf Gemeindeebene, auf Kantonsebene und erst recht auf Bundesebene, braucht es Informationen – Informationen zur Entwicklung der Bevölkerung, Informationen zum Auf und Ab der realen Wirtschaft, Informationen zur Finanzwirtschaft, und vieles mehr. Wie etwa sähe die Gesundheitspolitik aus, wenn wir keine Kenntnisse über die Entwicklung der Gesundheitskosten hätten, wie und wo sie anfallen, oder keine Informationen zu den Krankenkassen, was sie einnehmen, wofür sie wie viel wem zahlen, den Ärzten, den Spitälern, der Pharmaindustrie?
Der Schweizer Historiker Hans Ulrich Jost, emeritierter Professor der Universität Lausanne, hat sich im Rahmen eines grösseren Forschungsprojektes eingehend mit der Entwicklung der Statistik in der Schweiz befasst. Daraus ist ein Buch geworden, das für politisch interessierte Zeitgenossen äusserst informativ und gesellschaftspolitisch aufschlussreich ist. Ist uns etwa bewusst, dass vor allem von Unternehmerseite immer wieder Opposition gegen statistische Erhebungen gemacht wurde, weil die Unternehmer die zu erwartenden Resultate fürchteten? Ist uns bewusst, wie etwa um die Zusammensetzung des Warenkorbes zur Berechnung des Lebenskosten-Indexes zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und zwischen den Parteien gefeilscht wurde?
Besonders interessant ist auch etwa zu erfahren, wie die Gemeinden und Kantone die Entwicklung einer möglichst unabhängigen Statistik auf Bundeseben behinderten, weil die Kenner der Materie natürlich wussten, wie statistische Ergebnisse die Politik beeinflussen konnten und können. Zum Beispiel die Steuerpolitik. Und wer hätte etwa geglaubt, dass erst im Jahr 1850 in der Bevölkerungsstatistik auch die Frauen und Kinder mitgezählt wurden?
Die Schweiz, ein statistisches Entwicklungsland
Heute scheint es ganz selbstverständlich, dass statistische Erhebungen politisch unabhängig und mit standardisierten Methoden erfolgen müssen. Hans Ulrich Jost macht allerdings mit vielen und detaillierten Fakten darauf aufmerksam, dass das bis zum heutigen Tag keine Selbstverständlichkeit ist und dass die Schweiz bis kurz vor der Jahrtausendwende ein eigentliches Statistik-Entwicklungsland war. Die Kriminalstatistik etwa war selbst im Jahr 2015, so Hans Ulrich Jost, noch nicht einwandfrei!
Längere Ausführungen finden sich in Josts Untersuchung auch zur – um Jahre hinterherhinkenden – Anpassung der schweizerischen Statistik an die Statistik im internationalen Bereich. Was wäre ein Vergleich des Bruttoinlandproduktes BIP verschiedener Länder, wenn die Basis der Berechnung unterschiedlich wäre? Zwar arbeiteten etliche Schweizer Wissenschaftler und Statistik-Spezialisten auch in internationalen Gremien mit, allerdings ohne dass die Schweiz als Land da mithalten konnte.
Hans Ulrich Josts Buch «Von Zahlen, Politik und Macht» ist nicht immer ganz einfach zu lesen. Nicht weil die Themen zu kompliziert oder schlecht erklärt werden, sondern weil der Autor – der wissenschaftlich-historischen Forschung geschuldet – oft auch namentlich und detailliert auf die einzelnen Akteure der Entwicklung der schweizerischen Statistik eingeht – dem Forschungsauftrag entsprechend eben eingehen musste. Der Wissenschaftler muss, um eine Entwicklung aufzuzeigen, mit Fakten arbeiten, und weil die Fakten – wann wurde was wie erhoben und/oder wann wurde was absichtlich nicht erhoben – eben immer mit Personen, mit Politikern, Beamten oder auch Wissenschaftlern, zu tun haben, müssen auch diese Personen mit in einen Bericht. Hätte das Buch nicht ein Historiker und Soziologe geschrieben, sondern ein Politiker oder ein Journalist, einfach um aufzuzeigen, welch bedeutende Rolle die Statistik in der demokratischen Entscheidungsfindung gespielt hat und auch heute spielt, es wäre natürlich kürzer und angriffiger geworden – aber auch anfechtbarer.
Wissen ist Macht
Wissen ist Macht, man weiss es. Wer über statistische Informationen verfügt, verfügt in der politischen Auseinandersetzung über mehr Macht. Vor allem von Seite der Privatwirtschaft wurde deshalb die unter staatlicher Kontrolle stehende Statistik – im echten Sinne eines Service public – immer wieder ausgebremst. Man wollte und will noch immer lieber eigene statistische Erhebungen durchführen, um sie dann der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – oder eben auch nicht. Oder man mischt die Resultate von (staatlichen) statistischen Erhebungen mit Resultaten eigener Erhebungen, ohne klare Quellenangabe, wie es etwa die Economiesuisse auf ihrer Website gelegentlich macht. Womit man wieder bei der Statistik wäre, der man nur glauben darf, wenn man sie selber gefälscht hat…
Ist eine umfassende Statistik heute eine Selbstverständlichkeit?
Nein, leider nicht. Auch im Jahr 2015 wird noch um die Statistik gefeilscht, und wie! Dazu wörtlich aus dem Buch von Hans Ulrich Jost:
«Bei der Auswahl der Themen, das heisst bei der Festlegung, welche gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereiche sichtbar gemacht werden sollen, spielen noch immer Machtbeziehungen und partikuläre Interessen eine nicht unwesentliche Rolle. Zudem wird das Bundesamt für Statistik erneut aus parteipolitischen Gründen massiv in Frage gestellt. So forderte im August 2015 der Fraktionschef der SVP, Adrian Amstutz, unterstützt vom Schweizerischen Gewerbeverband, die Halbierung des Personals und des Budgets des Bundesamtes für Statistik, mit entsprechender Streichung eines grossen Teils der statistischen Arbeiten. Eines der vorgebrachten Argumente lautete, dass, abgesehen von den hohen Kosten, die BFS-Umfragen die Wirtschaft über Gebühr belasten würden. In dieselbe Richtung zielen zwei vom Nationalrat angenommene Motionen, die verlangen, dass Klein- und Mittelbetriebe von den BFS-Umfragen entlastet werden sollen. Bei der Attacke der SVP geht es wohl auch darum, gesellschaftspolitisch relevante Erhebungen des BFS, die der Partei nicht behagen, zu eliminieren. Es geht um einen schon früher praktizierten Kampf um gesellschaftspolitische Deutungshoheit. Zudem scheint der SVP jedes Mittel recht, um im Wahlkampf Aufmerksamkeit zu erregen. Dass sie dabei selber nicht selten Statistiken manipuliert und als Schlagwort in ihre Propaganda einbaut, gehört zur zwiespältigen Politik dieser Partei.»
Der «Föderalismus» der Statistik kostet!
Was im Buch von Professor Hans Ulrich Jost nicht spezifisch artikuliert wird, dem Leser und der Leserin aber natürlich auffällt: Was für ein Aufwand wurde da und wird da noch immer betrieben, um die Statistik nicht zu sehr zu standardisieren! An jedem Stammtisch wird unter «Brüssel» vor allem ein «Bürokratie-Monster» verstanden und es wird kritisiert, welche Unsummen von Geld da verzehrt werden. Und wie da versucht wird, ganz Europa zu vereinheitlichen, zu standardisieren. Was aber unser lieber Föderalismus kostet, wo man selbst statistische Erhebungen nach einheitlicher Methode nicht akzeptieren wollte, sondern wo jede Gemeinde, jeder Kanton seine eigenen Erhebungen durchführen wollte, das ist kein Thema! Es ist, so denkt man sich beim Lesen manchmal, schon fast ein Wunder, dass wir in der Schweiz immerhin schon einheitliche Strom-Anschlüsse von 220 Volt haben und dass die 220-Volt-Stecker vereinheitlicht sind – wo doch zum Beispiel Italien und Deutschland, beides Mitglieder der EU, noch immer nicht die gleichen Stecker haben.
Schön, dass wenigstens in der Statistik Zahlen aus verschiedenen Gemeinden, Kantonen und Ländern mehr und mehr vergleichbar werden. Die Wissenschaftler und die Journalisten sind dafür dankbar. Dass manche Politiker und Unternehmer das nicht so gerne sehen, nehmen wir zur Kenntnis. Und nach der Lektüre von Hans Ulrich Josts Buch wissen wir jetzt auch, warum das so ist!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Die Kritik der Unternehmer an den statistischen Erhebungen hat weniger mit den Resultaten zu tun, sondern vielmehr mit dem enormen Aufwand, den die Unternehmen leisten müssen, um die Daten für die Statistiker aufzubereiten. Damit der Bundesrat beispielsweise seine Agrarstatistiken führen kann, sind alle Gemeinden verpflichtet, eine Ackerbaustelle zu unterhalten, welche u.a. den Bauern beim Ausfüllen der Formulare zu Handen der Statistikämter hilft.
Verlässliche Daten sind wichtig für die Politik, doch darf der dafür notwendige Aufwand nicht unterschätzt werden.