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General Ulrich Wille: Mein ganzes Herz ist auf der Seite Deutschlands. © ArchPhotopr

Kein Zufall: die Schweizer Oberstenaffäre von 1916

Hans Ulrich Jost /  Im Ersten Weltkrieg lieferten zwei Obersten den Militärattachés der Mittelmächte in Bern dechiffrierte russische Depeschen.

Am 28. und 29. Februar 1916 fand in Zürich ein Prozess des Divisionsgerichts gegen die Obersten Friedrich Moritz von Wattenwyl und Karl Egli statt. Die beiden für die Nachrichtensektion des Generalstabs verantwortlichen Offiziere hatten seit Kriegsbeginn systematisch den deutschen und österreichischen Militärattachés das Nachrichtenbulletin des Generalstabes zukommen lassen. Sie hatten ausserdem zuhanden der deutschen Dienststellen russische Depeschen entziffert, deren Entschlüsselung den Deutschen nicht gelungen war. Trotz der schlimmen Verfehlungen sprach das Gericht die beiden Offiziere frei. Sie wurden schliesslich, um die aufgewühlte Öffentlichkeit zu beruhigen, disziplinarisch mit zwanzig Tagen Arrest bestraft und zur Disposition gestellt.

Wie sich heute auf Grundlage der historischen Forschung zeigt, war diese Affäre der oberflächliche Ausdruck einer moralischen und politischen Verlotterung, die damals weite Kreise der höheren Gesellschaft erfasst hatte. Es ging zum einen um die extrem deutschfreundliche Haltung gewisser politischer und militärischer Kreise, aber auch um ein Neutralitätsverständnis höherer Offiziere, das die offizielle politische Doktrin Lügen strafte. Die Affäre zeigt auch, dass die Armeeführung sich wie eine Parallelregierung aufführte und dem im Innern zerstrittenen Bundesrat mit Arroganz die Stirne bot.

Es lohnt sich, um die gesellschaftspolitische Dimension der Oberstenaffäre zu verstehen, diese in ihrem gesamten Ablauf zu erfassen.

Nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit Deutschland

Die Oberst von Wattenwyl unterstellte Nachrichtensektion des Armeestabes hatte zu Beginn des Krieges den militäruntauglichen Dr. André Langié zum Entziffern von verschlüsselten Depeschen eingestellt. Langié, dessen Vater aus Polen geflohen und 1869 in Les Planches (VD) eingebürgert worden war, beherrschte eine grosse Zahl von Sprachen und erwies sich als ein äusserst begabter Kryptograf. Im Laufe seiner Arbeit stellte er fest, dass er mehrheitlich russische Meldungen zu dechiffrieren hatte, die für die Schweizer Armee überhaupt nicht von Interesse waren. Als er auf sein Verlangen auch einige deutsche Depeschen bearbeitete, bemerkte er, dass seine eigene Nachrichtensektion offenbar direkt mit den deutschen Stellen zusammenarbeitete und diesen Informationen über die den Zentralmächten feindlichen Streitkräfte übermittelte.

Langié, der für das Deutsche Reich wenig Sympathie empfand, äusserte seine Bedenken gegenüber Vertrauenspersonen in Lausanne, wobei auch Eduard Secrétan von der Gazette de Lausanne und Albert Bonnard vom Journal de Genève davon erfuhren. Möglich ist auch, dass andere Informanten die neutralitätswidrige Tätigkeit der Nachrichtensektion verbreiteten. Im Laufe des Dezembers 1915 waren jedenfalls zusehends mehr Leute über diese Sache informiert.

Der Vorsteher des Militärdepartements, Bundesrat Camille Decoppet, konnte diesen sich anbahnenden Skandal nicht übersehen. Er traf Langié zu einer Unterredung und erhielt von ihm am 8. Dezember 1915 einen schriftlichen Bericht. Drei Tage später sprachen der französische Gesandte bei Bundespräsident Guiseppe Motta, und der Militärattaché bei Bundesrat Decoppet vor. Nun sah sich Decoppet, Chef des Militärdepartements, gezwungen, einzuschreiten. Er schrieb am 14. Dezember 1915 an General Wille, dass die im Generalstab herrschende «Unkenntnis unserer Neutralitätspflichten eine rasche energische Intervention» erfodere.

General Willes Vertuschungsmanöver

In einem langen Schreiben an Decoppet, datiert vom 18. Dezember 1915, versuchte Wille die Sache herunterzuspielen. Dabei versicherte er dem Bundesrat, dass auf keinen Fall das besagte Bulletin weitergegeben worden sei. Er kündigte zudem an, dass die Militärattachés sich in Zukunft direkt an ihn oder an den Generalstabschef zu wenden hätten. Direkte Kontakte zu andern Offizieren sollten untersagt werden.

Im weitern versetzte Wille die beiden Obersten, die, wie er betonte, sich nur einer «groben Taktlosigkleit» schuldig gemacht hätten, auf andere Dienststellen. Von Wattenwyl übernahm ein Brigadekommando der 2. Division, und Egli das Kommando der Fortifikation Hauenstein. Dies glich eher einer Beförderung denn einer Bestrafuung. An seine Frau Clara schrieb Wille am 19. Dezember 1915 selbsgefällig, er habe «eben etwas Schlimmes wieder in Ordnung gebracht», und «Sprecher und die Herren» könnten «dankbar sein, wenn ich es schon nicht für sie, sondern für unser Ansehen getan habe».

Da die Affäre in der Öffentlichkeit, vor allem in der welschen Presse, immer heftigere Kommentare auslöste, versuchte Wille mit allen Mitteln, die Vorfälle zu vertuschen. Er forderte am 11.Januar 1916 in einem langen persönlichen Schreiben Bundesrat Decoppet auf, entsprechend vorzugehen. «Die Sache totzuschweigen», schrieb er, sei «einfache Bürgerpflicht».

Am Schluss des Schreibens betonte Wille noch, dass er sich «niemals zu irgendeiner Parteilichkeit zugunsten irgendeines unserer Nachbarn werde hinreissen lassen». Dabei hatte Wille beispielsweise im Sommer 1915 an der jurassischen Grenze zwei deutsche Offiziere zum Essen eingeladen und mit ihnen auf der Dorfstrasse, in Anwesenheit von Fotografen, paradiert. In privaten Äusserungen liess er seiner Bewunderung Deutschlands freien Lauf. So schrieb er etwa am 1.September 1914 seiner Frau Clara : «Jetzt wird vollendet, was damals [1870] eingeleitet worden ist: Die Suprematie Deutschlands, das heisst deutschen Wesens über die ganze Welt. Mein ganzes Herz ist auf der Seite Deutschlands.»

Der Druck der öffentlichen Meinung

Die von der Oberstenaffäre ausgelöste öffentliche Erregung brachte den Bundesrat immer mehr in eine heikle Lage. Am 11. Januar 1916 orientierte Decoppet schliesslich den Gesamtbundesrat. In der anschliessenden Diskussion meinte Bundesrat Felix Calonder, die «Entzifferung der russischen Depeschen» sei «eine reine Kriegshilfe». Der Bundesrat beschloss, Wille aufzufordern, eine administrative Untersuchung einzuleiten.

Wille beauftragte darauf Major Max Huber, Stellvertreter des Oberauditors, die Untersuchung durchzuführen. Bei der Befragung von Oberst Egli gab dieser zwar den Verkehr mit den Militärattachés zu, leugnete aber, russische Depeschen zuhanden Deutschlands bearbeitet zu haben. Doch nach der ordentlichen Befragung gab er im persönlichen, «kameradschaftlichen» Gespräch mit Huber diesen Tatbestand zu. Dieses «kameradschaftliche» Geständnis konnte jedoch nicht weiter verwendet werden. Die Unverfrorenheit der Obersten hatte Huber deprimiert ; er schrieb in seinen Erinnerungen: «Als ich spätnachts vom Bundeshaus über die Kirchenfeldbrücke ging, hatte die in der Tiefe ziehende Aare eine unheimliche Anziehungskraft für mich.»

Wille hingegen hoffte noch immer, die Affäre vertuschen zu können. Als dennoch ein Prozess absehbar war, schrieb er am 11. Januar 1916 an seine Frau Clara: «Gott gebe, dass dabei dem Ankläger arge Übertreibungen nachgewiesen werden können und die beiden Angeschuldigten sich gehörig herauslügen können. Dann ist es mir vielleicht möglich, auf meinem Wollen, die Sache nieder zu schlagen und die ganze Wahrheit nie hervortreten zu lassen, zu beharren.»

Einen Tag nachdem der Bundesrat beschlossen hatte, die Obersten vor ein Gericht zu stellen, glaubte Wille immer noch, die Affäre unter Kontrolle zu haben. Selbstsicher schrieb er am 20. Januar 1916 seiner Frau Clara: «…ich bin jetzt der Meister der Situation. Wie immer ist mir auch in dieser Sache der Zufall mächtig und immer im richtigen Moment zu Hilfe gekommen.» Zwei Tage später versuchte er erneut, Bundesrat Decoppet für ein massives Eingreifen gegen die Presse zu gewinnen.

Der ebenfalls äusserst deutschfreundliche Bundesrat Arthur Hoffmann versicherte in der Zwischenzeit dem deutschen Gesandten Romberg, dass im weiteren Verfahren darauf geachtet würde, die Militärattachés auf keinen Fall blosszustellen.

Verquere Gerichtsverhandlung

An den Gerichtsverhandlungen vom 28. und 29. Februar 1916 wurde in erster Linie über die Neutralität gesprochen. Oberst Egli ging in die Offensive und behauptete, der Nachrichtendienst könne nicht ohne Neutralitäsverletzungen operieren. «Der ganze Nachrichtendienst ist gegen die Neutralität», war seine Schlussfolgerung. Der als Zeuge geladene Generalstabschef von Sprecher verfolgte dieselbe Strategie. In einer langen Rede voller Widersprüche versuchte er die Neutralitätspflichten zu relativieren und damit Egli zu entlasten.

Dass in höheren Militärkreisen die Neutralität nicht ernstgenommen wurde, war Major Max Huber schon anlässlich seiner Untersuchungen aufgefallen. In seinen Erinnerungen schrieb er, «dass in gewissen militärischen Kreisen – auch bei uns – die Wurstigkeit, ja Verachtung gegenüber völkerrechtlichen Vorschriften als Beweis militärischen Denkens betrachtet» werde.

Am Prozess verfolgte der Verteidiger von Oberst Egli, Oberst Heinrich Bolli, eine einfache, aber wirkungsvolle Strategie. Er versuchte einerseits den einzigen Belastungszeugen, André Langié, blosszustellen und zu diskreditieren, und anderseits die militärischen Verdienste Eglis in höchsten Tönen zu loben. Heinrich Bolli, Schaffhauser Ständerat und hochstehendes Mitglied der freisinnigen Partei, hat später auch zugunsten des deutschen Nachrichtendienstes gearbeitet. Nachdem die Verbindung über die Militärattachés nicht mehr voll ausgenützt werden konnte, organisierte Guido Haag, ein Agent des deutschen Nachrichtendienstes, die Beschaffung von Nachrichten in der Schweiz. Bolli soll, gemäss den Aussagen von Haag, einer der wichtigen Informanten seines Netzes gewesen sein.

Das Gericht befand, dass trotz Neutralitätsverletzung die Angeklagten in Bezug auf ein gerichtlich zu bestrafendes Vorgehen nicht schuldig seien. Von Landesverrat war von vornherein nicht die Rede, weil die den Achsemächten übergebenen Informationen nicht die Schweizer Armee betrafen. Übrig blieb nur die danach von Wille verhängte disziplinarische Strafe von 20 Tagen Arrest. Da die beiden Obersten zugleich zur Disposition gestellt wurden, fand ihre militärische Karriere ein Ende.

In der Frühjahrssession der Bundesversammlung kam es zu einer grossen Debatte, bei der u.a. die Abberufung des Generalstabschefs beantragt wurde. Der Nationalrat verwarf diesen Antrag mit 154 zu 3 Stimmen. In einer längeren Rede stellte sich Bundesrat Hoffmann uneingeschränkt hinter von Sprecher.

Die Affäre in historischen Perspektive

Oberflächlich gesehen war damit die Oberstenaffäre erledigt. Im Hintergrund spielte sich jedoch weiter ein Kampf um die aussenpolitische Stellung der Schweiz ab. Die Ausrichtung auf das deutsche Reich war schon Jahre vor dem Ersten Weltkrieg offensichtlich. Als dann 1912 der deutsche Kaiser die Schweiz besucht und das von Wille geleitete «Kaisermanöver» beobachtete, sah man in Deutschland die Schweizer Armee als Flankendeckung der südöstlichen Front der Achsenmächte. Im Hintergrund des Oberstenprozesses stand immer noch die Frage, ob die Schweiz weiterhin der deutschen Option Priorität einräumen sollte.

Das Lager der mit den konservativen deutschnationalen Kräften sympathisierenden Schweizer war auch nach der Oberstenaffäre dominant. Vordergründig nahm zwar Generalstabschef von Sprecher Kontakte mit französischen Stellen auf, doch handelte es sich um Alibiübungen. Die deutschfreundlichen Kreise beharrten auf ihren Positionen. Dies führte auch dazu, dass Bundesrat Hoffmann 1917 bei dem Versuch mitmachte, einen Sonderfrieden zwischen Deutschland und Russland zu arrangieren, was zu einer der grösseren politischen Krisen der Schweiz führte.

Es gäbe noch einige weitere Beispiele zu diesen bedenklichen Verbindungen mit Deutschland. Zu den Informanten des deutschen Agenten Guido Haag, der nach dem Oberstenprozess den deutschen Nachrichtendienst in der Schweiz organisierte, zählte auch Major Eugen Bircher, Stabschef des von Heinrich Bolli befehligten Fortifikationskommandos von Murten.

Nach dem Krieg knüpfte Bircher, unterstützt vom Militärdepartement und der Bundesanwaltschaft, in Deutschland Kontakte mit Offizieren des rechten Spektrums an. Es ging, neben Nachrichtenbeschaffung, um den Aufbau von Bürgerwehren. Unter den in Deutschland kontaktierten Offizieren war auch Waldemar Pabst, der 1919 für die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verantwortlich war.

Eugen Bircher, Begründer des Vaterländischen Verbandes und führendes Mitglied der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute SVP), hat gewissermassen die Arbeit der Obersten Egli und von Wattenwyl in der Zwischenkriegszeit weitergeführt. Bircher stieg in der Armee bis zum Oberstdivisionär auf und organisierte 1942 eine Schweizer Ärztemission an die deutsche Ostfront. Dabei unterstellte er die Mitglieder dieser Mission dem deutschen Militärstrafrecht.

Im Rahmen längerfristiger Aussenbeziehungen der Schweiz erscheint die Oberstenaffäre nicht als zufälliger Ausrutscher, sondern als Symptom einer politischen und ideologischen Orientierung, die die Schweiz mit nationalistischen, rechtsradikalen und demokratiefeindlichen Kreisen in Verbindung brachte. Die Oberstenaffäre zeigt dabei, dass sich an diesen Aktivitäten nicht nur untergeordnete oder private Akteure, sondern auch hohe staatliche oder militärische Stellen beteiligten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Hans-Ulrich Jost war von 1981 bis 2005 ordentlicher Professor für Neuere Allgemeine und Schweizergeschichte an der Universität Lausanne. Von 2005 bis 2014 war er ausserdem Präsident des Editionsprojekts Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS), dem er schon seit den 1980er Jahren angehörte.

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Eine Meinung zu

  • am 1.02.2016 um 11:41 Uhr
    Permalink

    was soll dieser Artikel? Die Angelegenheit ist 100 Jahre alt und abgeurteilt. Will etwa ein linker «Historiker» auf diesem Weg Propaganda gegen die «Rechten» und die Durchsetzungs-Initiative machen?

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