Libysche Küstenwache ARD

Die libysche Küstenwache kaperte ein Flüchtlingsboot und schafft die Flüchlinge nach Libyen zurück. Die Frontex lässt sich nicht blicken. © ard

Frontex agiert, ohne wirksam überwacht zu werden

Markus Mugglin /  Ob ja oder nein zu Frontex: Die Grenzagentur bedarf dringend der Reformen. Es geht um Menschenrechte.

«Ja zur Bewegungsfreiheit für alle!» Wer hätte gedacht, dass sich diese Forderung des No-Frontex-Komitees für fast 30‘000 Flüchtlinge aus der Ukraine in nur sieben Wochen erfüllt – und in Polen, Rumänien, Deutschland, Moldawien und anderen europäischen Ländern für mehr als vier Millionen Menschen.  

Was völlig unrealistisch schien, ist plötzlich möglich. Was in den letzten Jahren Hunderttausenden Menschen verwehrt blieb, welche über die Ägäis und über das westliche und östliche Mittelmeer in Europa Zuflucht suchten, ist für die Flüchtlinge aus der Ukraine wie selbstverständlich. Sie werden willkommen geheissen und geniessen Vorrechte gegenüber den Flüchtenden aus Afrika, Asien und dem Mittleren Osten.

Trotzdem soll das Abwehrdispositiv mit dem Ausbau der Frontex-Agentur für Grenz- und Küstenwache noch verstärkt werden.    

«Effizientere Kontrollen», «Bewältigung von Migrationsdruck», «wirksamere Rückführung», «Sicherheit im Schengenraum»: Das alles soll die zur Abstimmung kommende Vorlage bewirken. Die Verstösse gegen grundlegende Rechte an den Aussengrenzen der Schengen-Länder, wie sie seit vielen Jahren dokumentiert sind, erwähnt der Bundesrat nur nebenbei. Für den für die Vorlage zuständigen Bundesrat Ueli Maurer ist es «nicht eine Vorlage, um die Welt zu verbessern, sondern eine Vorlage, um die Sicherheit zu stabilisieren» (so in der Ständeratsdebatte)

Geht es um das Schengen-Abkommen, das Verhältnis zur EU oder um die Asylpolitik?

Im Abstimmungskampf für oder gegen Frontex wird über vieles gestritten, nur nicht über die markante Erhöhung des jährlichen Schweizer Beitrags von jetzt knapp 24 Millionen bis im Jahre 2027 auf 61 Millionen Franken. Für die bürgerlichen Parteien FDP und Mitte geht es um die Garantie der Schengen-Mitgliedschaft und – nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen – um die Abwendung eines europapolitischen Totalschadens. Die chronischen EU-Skeptiker der SVP sind mehrheitlich für Frontex, weil sie Migrantinnen und Migranten den Zugang in den Schengen-Raum erschwert, eine Minderheit hingegen sagt nein, weil sie keine gemeinsame Sache mit der EU machen will.

Die Sozialdemokraten und Grünen, die sich als europapolitisch offene Parteien verstehen, sagen wegen den Menschenrechtsverletzungen nein zu Frontex. Operation Libero, die mit den Grünen für die Lancierung einer EU-Initiative wirbt, sagt ja, obwohl sie die europäische Flüchtlingspolitik als menschenverachtend kritisiert. Einzig die Grünliberalen halten Kurs und sind auch jetzt für eine möglichst enge Kooperation mit der EU.     

Das Schengenabkommen und das Dublin-Asylabkommen stehen auf dem Spiel

Ein Nein zu Frontex würde die Zusammenarbeit mit der EU zweifellos nicht erleichtern. Im «äussersten Fall», wie der Bundesrat im Bericht zur Vorlage geschrieben hat, könnte es zum Ausschluss aus dem Schengen-Abkommen führen. Denn die Grenzagentur ist Teil des Schengen-Abkommens, dem die Schweiz seit 2008 als assoziiertes Mitglied angehört und sich damit verpflichtet hat, rechtliche Weiterentwicklungen zu übernehmen. Tut sie es nicht, kann die Schweiz auf Ministerebene mit der EU einen Ausweg suchen. Ob das gelingt, ist offen. Bekanntlich ist man in Brüssel seit dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen verstimmt, was eine Einigung in der Frontex-Frage nicht erleichtert.    

Ohne Einigung käme es noch zum Ausschluss aus dem Dublin-Asylabkommen. Die Schweiz könnte Flüchtlinge nicht mehr an das Vertragsland zurückschicken, wo sie sich vor der Ankunft in der Schweiz aufgehalten haben.

Tödliche Schengen-Grenzen

Diese europapolitischen Nebenwirkungen drängen die Fragen, um die es bei Frontex geht, in den Hintergrund: Wie werden die Aussengrenzen kontrolliert? Werden die völkerrechtlich anerkannten Grundrechte der Flüchtenden respektiert? Es sind Fragen, die in der EU intensiv diskutiert werden.  

Die EU-Ombudsstelle hat erstmals schon 2013 die ungenügenden Klagemöglichkeiten gegen Menschenrechtsverstösse an den Grenzen bemängelt und es seither wiederholt getan. Die Anti-Betrugsbehörde der EU (OLAF) stellte Anfang 2021 fest, dass die Leitung von Frontex von Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen Kenntnis hatte, doch diese nicht meldete. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, tadelte 2021 in einem  Bericht Push-Back-Praktiken an den Aussengrenzen. Eine vom EU-Parlament eingesetzte Arbeitsgruppe warf im Sommer 2021 der Frontex vor, nicht über Verstösse gegen die Menschenrechte an Aussengrenzen zu berichten, obwohl sie davon Kenntnis hatte. Sie habe auch nichts getan, um diese zu verhindern.  

Handlungsbedarf ist also längst ausgewiesen. Und was an den Grenzen passiert, ist alarmierend. Migrationsexperte Gerald Knaus vom Think Tank «European Security Initiative» bezeichnete kürzlich in Bern die Südgrenze der EU als «die tödlichste Grenze der Welt».

Über 30’000 Menschen nach Libyen zurückgeschafft

Zu den vielen Toten an den Aussengrenzen kommen viele illegale Rückschaffungen. Allein im letzten Jahr – so Gerald Knaus weiter – seien mehr als 30‘000 Menschen, die auf den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer aufgebrochen waren, nach Libyen zurückgeschafft worden. Dort erwartet sie Gewalt, Folter, Misshandlungen und Ausbeutung. Griechenland habe im letzten Jahr rund 25‘000 Menschen in der Ägäis in die Türkei zurückgestossen. Ungarn hat schon vor Jahren ein Gesetz erlassen, das die Rückschaffung von Migrierenden nach Serbien ohne Verfahren legalisiert und Polen hat im Oktober 2021 mit einem ähnlichen Gesetz nachgezogen.

An vielen Aussengrenzen des Schengen-Raums wird gegen internationale Standards verstossen – in der Ägäis, im östlichen, zentralen und westlichen Mittelmeer, in Kroatien, in der Zusammenarbeit mit Libyen, an der Grenze von Polen zu Belarus.

Die Missstände sind allerdings meist eher indirekt als direkt Frontex anzulasten. Denn «alle Massnahmen der Europäischen Grenz- und Küstenwache unterliegen der Leitung und Kontrolle des Einsatzmitgliedlandes», ist die Aufgabenteilung definiert. Die Länder können Frontex beiziehen oder können sie fernhalten. Polen wollte im Sommer letzten Jahres beim Grenzkonflikt mit Belarus die Frontex nicht vor Ort. Ungarns Regierungschef Victor Orban ging bereits 2015/16 auf Distanz zu Frontex. Zur Zeit der grossen Zuwanderung über die Balkan-Route wünschte er sich Soldaten an der Grenze statt Frontex-Mitarbeiter, weil diese kein Mandat haben, illegale Migration zu stoppen. Auch Kroatien will keine Frontex-Präsenz.

Fehlende Transparenz und Rechenschaft

Mit dem Ausbau von Frontex soll die Einhaltung der Grundrechte verbessert werden. 40 Grundrechtsbeobachterinnen und -beobachter werden eingestellt. Sie sollen die Operationen überwachen. Ob das viel ändert, ist zu bezweifeln. Denn die Mängel sind strukturell-organisatorischer Art.

Die Migrationsexpertin Elspeth Guild von der Queen Mary University of London und der Radboud University Netherlands hat in zwei Blogbeiträgen zu «The Frontex Push-Back Controversy» die Schwächen der Überwachung blossgelegt. Der Direktor der Frontex sei nicht gegenüber der EU-Kommissarin für innere Angelegenheiten, Ylva Johansson verantwortlich, sondern gegenüber einem Management-Rat. Und dieser Rat, in welchem jedes Mitgliedland eine Person sowie die EU-Kommission zwei Personen delegieren kann, habe nur beratende Funktion zur Abwicklung der Operationen an den Aussengrenzen. Die Kompetenzen bezüglich Respektierung der Menschenrechte seien beschränkt.

Ein der Frontex beigestelltes «Konsultatives Forum», in welchem sich mit der EU-Agentur für die Grundrechte, dem UNO-Hilfswerk für Flüchtlinge sowie weiteren internationalen Organisationen und auch Nicht-Regierungsorganisationen Fachkompetenz versammelt, könne nur Empfehlungen abgeben, hat folglich auch nur wenig Einfluss. 

Für die Migrationsexpertin Guild ist klar: «Es gibt keine unabhängige externe Aufsicht über die Agentur». Und: «Während die operationellen Kapazitäten und die Aufgabenbereiche von Frontex in den letzten fünf Jahren exponentiell gewachsen sind, hat man die unabhängigen Überwachungsmechanismen vernachlässigt.»

Weder ein Ja noch ein Nein zum Ausbau von Frontex wird diese ungenügende Kontrolle der Grenzschutzagentur beheben. Für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist das der Grund, weshalb sie keine Parole ausgibt. Sie fordert aber «unverzüglich Massnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtsbilanz von Frontex». Die Kontrolle über die Agentur müsse verstärkt und Rechenschaft über deren Menschenrechtsbilanz eingeholt werden. Oder wie es die Migrationsexpertin Elspeth Guild nennt: Es braucht eine «effektive Überwachung».

Als Schengen-Mitglied liegt es auch an der Schweiz, sich für eine unabhängige Kontrolle von Frontex einzusetzen. Denn es geht nicht nur um Sicherheit, sondern es steht auch die Respektierung der in Zeiten des Krieges oft beschworenen Werte auf dem Spiel.     


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

EU_Schweiz

Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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4 Meinungen

  • am 14.04.2022 um 17:37 Uhr
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    Danke für diesen differenzierten Artikel! Er hilft mir bei der Entscheidungsfindung in Bezug auf die Abstimmung.

  • am 14.04.2022 um 20:39 Uhr
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    Könnte es denn so sein: ? Die Absprachen welche auf politischer Ebene hinter verschlossenen Türen vollzogen werden, darüber, wer wie viele von welchen Flüchtlingen aus welchen Orten aufnehmen muss, um die erhobenen Verträge und Absprachen zu erfüllen (Ansonsten drohen finanzielle Abgeltungen) werden wir nie zur Einsicht bekommen. Und wenn doch, dann wird das wesentliche geschwärzt sein. Wer als Kriegsflüchtling anerkannt und wer als Wirtschaftsflüchtling eingestuft und zurück geschafft wird, und aus welchen Gründen, werden wir nie erfahren. Eines scheint mir aber sicher, im wesentlichen geht es auch um Geld. Gibt es einen Topf mit europäischen Flüchtlingssubventionen? Wieviel bekommt eine Nation pro aufgenommen Flüchtling? Sind die Flüchtlings-Helferorganisationen privatisiert, so wie die Wohnaufnahmehäuser für Obdachlose und Drogenpatienten z.B. in Basel, welche für jeden Aufgenommenen einen Geldbetrag erhalten vom Staat? Es fehlt an Transparenz an allen Ecken und Enden.

  • am 15.04.2022 um 11:58 Uhr
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    Hauptübel ist : Von Kriegen zerstörte Länder, verdorrte Landstriche, kein Anbau mehr möglich, anstatt Urwald Palmölplantagen, Multi’s die über Korruption Länder ausbeuten, Waffenproduzenten die Gewinne einstreichen. Alle paar Minuten stirbt ein unter 5 Jähriges Kind einen Hungertod. Lebensgrundlagen für Millionen Menschen sind zerstört.Um zu überleben müssen diese Menschen flüchten. Zurzeit sind es 70 Millionen.Die kommende Erderwärmung „produziert“ nochmals Millionen Flüchtende. Flüchtlingsströme ändern erst wenn obiges ändert. Nach einem Frontexausbau werden zusätzliche Schlupflöcher gesucht. Dann steigt die Korruption, der Menschenhandel, die Willkür, Fluchthelfer verdienen noch mehr. Das darf kein Ziel sein.

  • am 16.04.2022 um 20:41 Uhr
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    Was in dieser Welt geschieht, ist ein Armutszeugnis für die führenden superreichen Eliten. Diese haben pro Tag das Einkommen was ein Bundesrat erst in 100 Leben haben würde. Sie können alles und jeden kaufen. Sie sind unter einander zerstritten, wie Schachspieler vollziehen sie ihre Bauernopfer als Menschenopfer auf dem Schachbrett. Jahrzehnte lang haben Kräfte eine breitbandige ethische Bildung der Bevölkerung ausgebremst. Die Gewaltenteilung von Bildung, Staat, Gesundheitsversorgung, Wirtschaft und Religion wäre schon lange fällig. Ein weltweites Gewaltverbot und die Installation einer globalen schützenden Macht, welche darüber wacht und dieses Verbot durchsetzt (Nonviolence Modell von Marshall Rosenberg) wäre zur Gewaltenteilung eine weitere Prävention von Korruption und Kriegen. Alles Wissen und alle Erfahrungen für eine friedvolle, sich entwickelnde fortschrittliche Welt wäre vorhanden, wenn nicht die Eliten unsere Regierungen regieren und uns zu Schachfiguren machen würden.

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