Flüchtlinge: Die Angst vor dem Nichts
Von der Freude über den «arabischen Frühling», über die Revolten in Nordafrika und dem Nahen Osten, vom Respekt für den Freiheitskampf der jungen Menschen auf der anderen Seite des Mittelmeers, ist in Europa nur noch herzlich wenig übrig: die Angst vor Flüchtlingen.
Sie äussert sich zum Beispiel in Leserbriefspalten: «Mir wird ganz mulmig, wenn ich diese Typen schon nur sehe», schrieb ein «Blick»-Leser. Ein anderer meint: «Sobald Demokratie und Freiheit in Aussicht stehen, flüchten sie! Diese Leute sind gefährlich und offensichtlich nur in einer Diktatur zu bändigen. So sieht leider die Realität aus!»
Abgesehen davon, dass solche Leserbriefe vor einigen Jahren noch nicht gedruckt worden wären, weil rassistisch, stellt sich ganz grundsätzlich die Frage: Woher kommt sie, diese Ablehnung? Die Frage stellt sich umso mehr, als dass es eine Ablehnung auf Vorrat ist: Als besagte Leserbriefe Mitte April veröffentlicht wurden, hatten es gerade mal ein paar Dutzend Nordafrikaner in die Schweiz geschafft. Was als Erfolg der Politik gefeiert wird, ist eigentlich ihr doppeltes Versagen: Die Behörden tun alles Mögliche und Unmögliche, damit kein Flüchtling die Schweiz erreicht, und trotzdem schwillt die Angst vor einer Flüchtlingswelle auf neue Höchststände. Mutmasslich mit den entsprechenden politischen Folgen, zumal die Schweiz im Herbst ein neues Parlament wählt.
Die Mär vom Flüchtlings-Tsunami
Es wäre ein Leichtes, die Medien für diese Grundstimmung der Angst verantwortlich zu machen. Gründe dafür gäbe es genug. Das AKW in Fukushima rauchte noch aus allen Ritzen, als die News-Ticker der Onlineportale ihren Fokus wieder zurück ans Mittelmeer verlagerten: Plötzlich ratterte nicht mehr jeder gemessene Strahlungswert als «Breaking-News» über die Bildschirme, sondern immer neue, noch grössere Zahlen von jungen Männern in Booten. Aus Tausenden Tsunami-Toten wurden über Nacht Tausende Tunesier, alle auf dem Weg nach Europa, in die Schweiz. Schnell einmal war von einem «Flüchtlings-Tsunami» die Rede.
In der allgemeinen Aufregung gingen alsbald die wichtigsten Fakten vergessen. Zum Beispiel, dass die angebliche Flüchtlingswelle eigentlich ein steter Strom ist. Schon vor den Umstürzen in der arabischen Welt strandeten Jahr für Jahr tausende Flüchtlinge aus Afrika an Europas Küsten. Seit 1998 ertranken laut der Organisation «Fortress Europe» gegen 10 000 Flüchtlinge im Mittelmeer. Immer wieder ziehen Fischer aus ihren Netzen die Leichen von Ertrunkenen. Das Mittelmeer ist ein nasses Grab, nicht erst seit gestern. Und die Opferzahlen erreichen jene eines Kriegs. Schnell vergessen ging auch, dass das kleine Tunesien – Einwohnerzahl zehn Millionen – inzwischen über 400 0000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Libyen aufgenommen hat und damit die Hauptlast der Tragödie trägt. Im Vergleich dazu wirkt es geradezu lächerlich, dass der 500 Millionen Menschen zählende Kontinent Europa mit den 20 000 Flüchtlingen auf der italienischen Mittelmeer-Insel Lampedusa überfordert sein will.
Das hinderte die Medien nicht daran, die Ablehnung gegen Flüchtlinge von Anfang an und ohne jedes Mitgefühl voranzutreiben. «Kommt die Flüchtlingswelle, droht ein Anstieg der Kriminalität», titelte zum Beispiel der «Tages-Anzeiger» seitenfüllend, lange bevor überhaupt der erste Flüchtling die Schweizer Landesgrenze querte. «Nordafrikaner haben Diebstähle begangen», titelte die «Aargauer Zeitung» ein paar Wochen später, als die ersten Flüchtlinge Chiasso erreicht hatten. Basis der prominent aufgemachten Geschichte war eine unbelegte Behauptung von SVP-Mitglied Heinz Brand, dem Chef der Schweizer Migrationsämter.
Frappanter Stimmungswandel
Weil Medien jedoch nur Grundstimmungen befeuern, sind die wahren Gründe für die Welle der Angst tiefer zu suchen als an der medialen Oberfläche. Längst und ohne Not hat sich auch die Politik zur Komplizin der Flüchtlingsangst gemausert. Die Gründe dafür sind politisch gewollt oder zugelassen, und es gibt einfache Erklärungsmuster dafür und kompliziertere. Die Auswirkungen sind so oder so frappant: Man braucht nicht weit zurück zu blenden, da war die Aufnahme von Flüchtlingen zumindest nicht weniger als ein notwendiges Übel – und das war im Vergleich zu heute schon viel.
Um den Stimmungswandel zu beschreiben, ist es gar nicht nötig, die vielzitierten 14 000 Ungarn-Flüchtlinge zu bemühen, die 1956 vor dem sowjetischen Einmarsch in die Schweiz flüchteten und nicht zuletzt deshalb mit offenen Armen empfangen wurden, weil sie sich vor den verhassten Kommunisten retteten. Bedeutsamer im Hinblick auf die heutige Situation war die Solidaritätswelle, die den Chilenen 1973 nach dem Sturz der Regierung Allende in der Schweiz entgegen schlug. Der Bundesrat wollte damals nicht mehr als 200 chilenische Flüchtlinge aufnehmen. Dagegen regte sich jedoch Protest in der Bevölkerung, der dazu führte, dass die Behörden weit mehr Chilenen aufgenommen haben.
Am Eindrücklichsten illustriert den Stimmungswandel gegenüber Flüchtlingen jedoch der Rückblick in die 1990er-Jahre, als auf dem Balkan Kriege tobten und die Schweiz zuerst 30000 Menschen aus Bosnien und Herzegowina aufgenommen hat und Ende des Jahrzehnts weitere 53000 Flüchtlinge aus dem Kosovo.
Auch damals war die Angst vor einer Flüchtlingswelle gross, und sie war angesichts von bis zu 1100 Flüchtlingen, die an Spitzentagen an die Schweizer Grenze gelangten, im Vergleich zu heute tatsächlich auch berechtigt. Doch angesichts des unermesslichen Leids, der Bilder von halb verhungerten Menschen in Konzentrationslagern, zeigten sich die Schweizerinnen und Schweizer anfänglich solidarisch. Die Glückskette verzeichnete mit über 40 Millionen Franken einen Spendenrekord, allein der «Beobachter» sammelte in einer Leseraktion innert drei Wochen 600 000 Franken für die Caritas. Das Schweizerische Rote Kreuz wurde von Hilfsangeboten überschwemmt. Überall im Land entstanden private Hilfsaktionen, Hunderte stellten Wohnraum zur Verfügung. In Kreuzlingen warfen Bürger Jeans und Jacken über den Zaun des Flüchtlingszetrums, andere gaben am Eingang kistenweise Brot und Früchte ab.
Lob für die «humanitäre Geste»
Selbst als im April 1999 die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss nach einem Besuch in einem mazedonischen Flüchtlingslager spontan 20 Kosovaren in die Schweiz mitnahm, überwog in den Leserbriefspalten das Lob für diese «humanitäre Geste». Im Glückskette-Büro trafen Faxe ein mit den Worten «Chapeau, Frau Dreifuss». Die CVP liess verlauten, die Bundesrätin habe «mit dem Herzen» gesprochen, und selbst von der SVP war nur leise Kritik zu vernehmen: «Diese Aktion deklariere ich als billigen PR-Gag», sagte SVP-Nationalrat Hans Fehr, gänzlich ohne Seitenhieb auf die aufgenommen Flüchtlinge. Im Hintergrund jedoch braute sich bereits zusammen, was letztlich den Grundstein legte für die umfassende Abwehr-Politik von heute.
«Seit Kriegsbeginn hat die SVP 9 Prozent zugelegt», titelte der «SonntagsBlick» im Mai 1999. Im Sorgenbarometer schnellte die Asylpolitik als «drängendstes Problem» innert Jahresfrist von 31 auf 55 Prozent Zustimmung, und die SVP wusste dies für sich zu nutzen. Aus der breit akzeptierten Rückkehrhilfe von 2000 Franken wurden plötzlich «goldene Fallschirme für Flüchtlinge». «Die Realpolitik des Portemonnaies hat die Hilfsbereitschaft des Herzens verdrängt», schrieb der Chefredaktor der «SonntagsZeitung» daraufhin in einem Kommentar. Im Wahlherbst 1999 wurde die SVP erstmals zur stärksten Partei im Land.
Davon haben sich die anderen Parteien, ganz besonders die FDP und CVP, bis heute nicht mehr erholt. Darauf beruht auch die einfache Erklärung für die heutige Grundstimmung der Angst – und sie ist wirklich einfach: Die SVP hat im letzten Jahrzehnt fremdenfeindliche Parolen salonfähig gemacht und die politische Mitte in einen Wettbewerb um immer noch härtere Asylgesetze gezwungen. Als der Aufstand in Libyen Anfang März dieses Jahres definitiv in einen blutigen Krieg auswuchs, erklärte der Zürcher Kantonsrat dank den Stimmen aus FDP und CVP ein SVP-Postulat für dringlich, das verlangte, «dass keine Flüchtlinge aus Nordafrika aufgenommen und die Grenzen bestmöglich geschützt werden».
Eine Panikreaktion, angetrieben nicht zuletzt von Justizministerin Simonetta Sommaruga, die im laufenden Wahljahr unter dem Druck von rechts bemüht ist, zu beweisen, dass auch die SP zu den Flüchtlingswellenbrechern gehört. Von «bis zu einer Million möglichen Flüchtlingen» sprach sie wenige Tage vor dem Entscheid des Zürcher Kantonsrats. Sommaruga hatte die Zahl am Rande eines eiligst organisierten EU-Innenministertreffens in Brüssel aufgeschnappt. Mit dieser Schätzung, die sich auf Europa bezogen als völlig übertrieben herausgestellt hat, verwandelte Sommaruga die Flüchtlingswelle im Gleichklang mit den anderen europäischen Ministern in eine Flüchtlingsflut. «In Europa herrscht höchste Alarmstufe», titelten tags darauf nicht nur Schweizer Zeitungen. «Ich werde täglich darüber informiert, wie viele Leute in Lampedusa ankommen», beruhigte Sommaruga umgehend via «NZZ am Sonntag». Und plötzlich war die Sozialdemokratin realpolitisch dort, wo sie ideel gar nicht hingehört: mitten in der technokratischen Verwaltung des Elends.
SP ist eingebunden in den Abwehrkampf
Es ist wahrscheinlich die wichtigste politische Erkenntnis aus dem aktuellen Drama im Mittelmeer: Dass die parlamentarische Linke, ausgehend von ihrer Begeisterung für die europäische Idee und deren realpolitischem Niederschlag in den Schengen-Verträgen heute vollständig in den Abwehrkampf gegen Flüchtlinge eingebunden ist. Zumal sich mit der Personenfreizügigkeit das Nutzen/Kosten-Kalkül im Umgang mit Ausländern auch im linken Meinungsspektrum komplett durchgesetzt hat. Den Flüchtlingen ist damit die politische Lobby abhanden gekommen. Und der Linken einer ihrer wichtigsten Grundsätze: Dass kein Mensch mehr Rechte haben darf als ein anderer.
Damit ist die kompliziertere Erklärung für die Flüchtlings-Angst auf Vorrat verbunden. «Kriegsflüchtlinge nehmen wir auf, Wirtschaftsflüchtlinge schicken wir zurück», betonte SP-Bundesrätin Sommaruga in den letzten Wochen immer wieder. Sie unterschlägt damit, dass auch die Zuwanderer aus der EU letztlich Wirtschaftsflüchtlinge sind. Die bilateralen Verträge gewährleisten zwar den wirtschaftlichen Fortbestand der Schweiz, schüren jedoch auch die Überfremdungsangst. Und führen dazu, dass europäische Akademiker frei in die Schweiz einreisen dürfen, Akademiker aus Tunesien aber ins Elend zurückgeschickt werden – sie sind Menschen zweiter Klasse.
Kein Wunder fehlt selbst linken Politikern angesichts der gewollten Migration aus Europa und der damit verbundenen Ängste in der Bevölkerung der Mut, sich für die Aufnahme von nordafrikanischen Flüchtlingen einzusetzen. Nicht einmal SP-Aussenministerin Micheline Calmy-Rey lässt sich in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» zu einem Ja hinreissen. «Hilfe heisst für uns vor allem Hilfe vor Ort», sagt sie auf die unmissverständliche Frage: «Soll die Schweiz freiwillig Flüchtlinge aufnehmen?»
Das war in den 1990er-Jahren noch anders: «Natürlich wird die Schweiz mit der Aufnahme von Flüchtlingen ihren Beitrag zur Bewältigung dieser humanitären Katastrophe leisten», sagte Ruth Dreifuss damals auf exakt die gleiche Frage. Nichts bringt den Stimmungswandel besser auf den Punkt als die beiden Aussagen der SP-Magistratinnen – die Haltung der Linken gegenüber Flüchtlingen deckt sich im Wahljahr 2011 mit jener der anderen Parteien: wenig herzlich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Bundeshausredaktor der Zeitung "Der Sonntag". Der Artikel erschien zuerst im Strassenmagazin "Surprise".
Bemerkenswerte analyse. Teile ich vollumfänglich. Sommaruga iat derart darauf bedacht, keine angriffsfläche zu bieten, dass sie mittlerweile wie eine getriebene handelt. Aus angst vor dem vorwurf, probleme im asylwesen kleinzureden, werden sie nun grossgeredet. Souverän ist das nicht, und wie von christof moser ganz richtig festgestellt: es passt nicht in ihr wertesystem.
Grundsätzlich haben die jungen Flüchtlinge gar keinen Grund mehr zum Flüchten, ausser der des schnellen Geldes. Hut ab vor Frau (alt) BR Calmy Rey. Es ist besser dass wir unser duales Bildungssystem exportieren als Menschen falsche Hoffnungen machen die weder wir noch Sie in irgeneiner Form einlösen können. und Ihre Ressourcen fehlen daheim im Aufbau an allen Ecken. Wer diese Länder ein wenig kennt kann das auch bestätigen.