Sperberauge

EU-Gegner applaudieren der EU – auch das gibt es

Markus Mugglin* ©

Markus Mugglin /  Gegner der EU loben die EU, Befürworter eines engeren Verhältnisses üben hingegen scharfe Kritik - wenn es um Flüchtlinge geht.

Es scheint nichts zu geben, dass es nicht gibt in den Diskussionen über das Verhältnis der Schweiz zur EU. Die jüngste Debatte im Ständerat über die Europäische Grenz- und Küstenwache Frontex verleitet zu dieser Feststellung. Wer sonst gegen die EU auftritt, ihr Machtgehabe unterstellt und warnt, sich ja nicht Brüssel zu unterwerfen, rät nun plötzlich, im Verhältnis zur EU ja nicht «Geschirr zu zerschlagen». Wem umgekehrt oft vorgeworfen wird, zu viel Verständnis für die EU aufzubringen oder gar mit dem Beitritt zu liebäugeln, wirft der EU hingegen Versagen vor.  Geschehen ist es in der ständerätlichen Debatte über die Beteiligung der Schweiz am massiven Ausbau von Frontex.

Die Agentur steht seit Monaten arg in der Kritik. NGO haben sie  beim EuGH wegen Menschenrechtsverletzungen eingeklagt. Die Anti-Betrugs-Behörde der EU (Olaf) hat eine Untersuchung gegen Frontex eingeleitet wegen Schikanen, Fehlverhalten und rechtswidrigen Praktiken, mit denen Asylsuchende von den Küsten der EU ferngehalten werden. Das EU-Parlament hat wegen solchen Vorfällen mit Budgetkürzungen gedroht. Der britische «Guardian» warf Frontex Anfang Mai vor, seit dem Ausbruch der Pandemie 40‘000 Menschen an der Grenze abgewiesen zu haben und gibt ihr die Schuld am Tod von 2‘000 Migrantinnen und Migranten.

Nicht einfach durchwinken

Die Kritik an Frontex wurde auch im Ständerat laut. Daniel Jositsch von der SP, also der Partei, die den EU-Beitritt befürwortet, hat die Mitwirkung der Schweiz sogar grundsätzlich in Frage gestellt: Man müsse sich fragen, ob die Schweiz das mittragen und einfach so mitmachen soll. Die Geschichte würde uns verurteilen für das, was wir hier täten, gab er zu bedenken. Die Vorlage mit einem massiv höheren finanziellen Beitrag dürfe nicht einfach durchgewinkt werden.

Der Grüne-Standesvertreter aus dem Kanton Glarus, Matthias Zopfi, doppelte nach: Das sei die Festung Europa. Und weil die Schweiz bei Schengen mittue, so bedeute es, dass die griechische Aussengrenze die europäische und damit unsere Aussengrenze sei. Es sei also unser Grenzschutz, der so funktioniere – mit illegalen Pushbacks und einem Grenzschutz, der nicht zimperlich und nicht immer im legalen Rahmen verlaufe.

Die beiden Kritiker wollten deshalb die weitere Beteiligung der Schweiz zumindest von «Kompensationsmassnahmen» im Sinne der humanitären Tradition des Landes abhängig machen. Die im Rahmen von Schengen-internen Resettlement-Programmen übernommene Zahl von Flüchtlingen solle deutlich erhöht werden. In der politischen Mitte wären noch viele dafür zu haben gewesen. Doch zu einer Mehrheit im Rat reichte es nicht.

EU-Gegner loben Frontex

Die politischen Vertreter von rechts und halbrechts, die sonst Distanz zur EU markieren, hielten nicht nur entgegen. Sie lobten sogar die Frontex. Kurz und bündig meinte SVP-Ständerat Werner Salzmann: «Ich hatte einen sehr positiven Eindruck der Arbeit von Frontex.» Thomas Minder, der auch der SVP-Fraktion angehört, pflichtete bei: Er hat «von Frontex und ihrer Arbeit einen guten Eindruck bekommen.» Auch im fünf Meter hohen – auch nach seiner Einschätzung – «überdimensionierten Grenzzaun», den Griechenland an der Grenze zur Türkei errichtet hat, sah er kein Problem.

Der FDP-Vertreter aus dem Aargau, Thierry Burkhart, der sich noch im Januar um den angeblich drohenden Souveränitätsverlust der Schweiz durch das Rahmenabkommen sorgte, unterordnete sich nun dem vorgespurten Sachzwang. Er warnte vor den negativen Folgen, die drohen würden: Für die Schweiz würde eine «allfällige Nichtübernahme der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands im äussersten Fall die Beendigung der Zusammenarbeit von Schengen insgesamt, und demzufolge auch von Dublin» bedeuten. Beim Rahmenabkommen hatte er solches Verhalten für einen souveränen Staat noch als Degradierung zum «Erfüllungsgehilfen» empfunden. Jetzt warb er dafür, dass die Schweiz kritiklos übernimmt, was die EU vorgespurt hat.    

Und da war mit Ueli Maurer schliesslich noch der grösste EU-Skeptiker im Bundesratsgremium, der sich für die EU-Grenzagentur einsetzte: «Wir brauchen Schengen», rief er in den Saal. Inzwischen sei Schengen ein wichtiger Teil unserer Sicherheit im Innern. Mit einem Nein «zerschlagen sie relativ viel Geschirr», warnte er die Standesvertreterinnen und Standesvertreter – und fand ihr Gehör.

Die EU-Gegner obsiegten mit ihrer kritiklosen Anlehnung an die EU-Grenzagentur. Die in EU-Ländern und -Institutionen laufenden Kontroversen waren für sie kein Grund, zumindest ein wenig Distanz zur Frontex zu markieren.


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2 Meinungen

  • am 23.06.2021 um 23:06 Uhr
    Permalink

    Hilfsorganisationen schlagen wegen der katastrophalen Verhältnisse in libyschen Internierungslagern für Flüchtlinge zum wiederholten Mal Alarm. Médecins sans frontières (Ärzte ohne Grenzen) hat kurz vor der Berliner Libyen-Konferenz mitgeteilt, die ärztliche Versorgung in zwei Lagern in Tripolis wegen des gewalttätigen Vorgehens des Lagerpersonals einstellen zu müssen; in einem der Lager hatten Wächter mit automatischen Waffen auf internierte Flüchtlinge geschossen. Aus einem weiteren Lager wird monatelanger sexueller Missbrauch 16- bis 18-jähriger Frauen gemeldet. Die Lager sind zur Zeit stark überbelegt, weil die von der EU trainierte und ausgerüstete libysche Küstenwache immer mehr Flüchtlinge aufgreift – dank systematischer Zuarbeit der EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex. Allein in den ersten sechs Monaten 2021 wurden bereits mehr Migranten von der Küstenwache festgesetzt als im Gesamtjahr 2020. Der Europäische Auswärtige Dienst lobt, die Küstenwache, die unerwünschte Flüchtlinge von der EU fernhält, erziele «exzellente Ergebnisse». Auf der Libyen-Konferenz spielte die Lage der Flüchtlinge keine Rolle.

  • am 25.06.2021 um 11:58 Uhr
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    Applaus für die EU? Applaus wofür?
    Als überzeugter Europäer warte ich sehnlichst auf den Tag, an welchem mich die EU als «Europa» überzeugt.
    Könnte die SGA-ASPE vielleicht einmal formulieren, was sich in der EU ändern muss, damit Schweizerbürger den Schweizerpass mit dem Europapass vertauschen? Etwa den Zusammenhang von EU-Bürgerrechten und Demokratie.

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