ETH kündigte aus politischen Gründen: Die Causa Bernoulli
Red. Wolf Linder ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern.
Laute Nebengeräusche begleiteten im Juli die Entlassung der Astrophysik-Professorin Marcella Carollo durch den ETH-Rat. Diese Entlassung erfolgte aus persönlichen Gründen, nachdem Doktorandinnen und Doktoranden der Professorin Mobbing vorgeworfen hatten. Um die Dramatik dieses Ereignisses hervorzuheben, war in vielen Medien die Rede von der «ersten Kündigung» an der ETH. In der NZZ etwa war am 15. Juli zu lesen: «Es ist die erste Entlassung einer Professorin oder eines Professors in der 164-jährigen Geschichte der Institution.»
Das stimmt nicht. Denn am 19. Dezember 1938 entschied der ETH-Schulrat, dem Architekten und Städteplaner Hans Bernoulli, der an der ETH als Titularprofessor tätig war, keine Lehraufträge mehr zu erteilen. Und nachdem sich der Schulrat nachträglich, am 27. März 1939, die fehlende Rechtsgrundlage beschafft hatte, wurde Bernoulli zwei Tage später auch der Professorentitel an der ETH aberkannt. Im Unterschied zum aktuellen Fall erfolgte der Rauswurf Bernoullis aus politischen Gründen.
Freiheit der Meinungsäusserung verletzt
Die damalige Freistellung war, wie die ETH-Dokumentalistin Yvonne Voegeli berichtet, ebenfalls von lauten Protesten begleitet: Die Entlassung Bernoullis gefährde die Meinungsäusserungsfreiheit, warnten 760 Lehrkräfte. Der Bund Schweizer Architekten wies auf die Bedeutung Bernoullis als «führenden schweizerischen Fachmanns des Städtebaus» hin und wandte sich gegen eine «Schädigung der baulichen Kultur des Landes». Der Schulrat rechtfertigte sich und blieb bei seinem Entscheid. Daran konnte auch eine Interpellation der SP in den eidgenössischen Räten nichts ändern.
Tatsächlich galt Bernoulli (1876-1959) als Spitzenvertreter seines Fachs. Als Architekt zeichnete er in Basel, Zürich, Winterthur verantwortlich für Industriebauten, Geschäftshäuser, Einzelwohnhäuser, Bildungsbauten sowie für gut dreissig Kleinwohnhausgruppen und Arbeitersiedlungen. Noch heute erinnern die «Bernoulli-Häuser» in Zürich an den Namen ihres Architekten. Ohne akademische Diplome, aber aufgrund seines Leistungsausweises – auch in Publikationen zu Architektur und Städtebau – war Bernoulli vom Bundesrat 1913 zum Privatdozenten und 1919 zum Professor ernannt worden.
Kämpfer für eine Geld- und Bodenrechts-Reform
Hans Bernoulli war freilich nicht nur Architekt und Städtebauer, sondern auch Publizist. Er setzte sich in Fachzeitschriften mit den volkswirtschaftlichen, sozialen und politischen Aspekten des Städtebaus auseinander und war zeitlebens überzeugt von der Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Bodenrechts. Beeinflusst war er von der Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells: Diese forderte, dass Zins und Bodenrente als ungerechtfertigte Privilegien privater Aneignung aufgehoben werden. Als Mitbegründer und Aktivist im Schweizer Freiland-Freigeld-Bund veröffentlichte Bernoulli in dessen Organ kritische Beiträge und satirische Gedichte unter dem Namen «Emanuel Kupferblech», die vor allem die Währungspolitik von Bundesrat und Nationalbank aufs Korn nahmen.
Ab 1933 gab es mehrere Beschwerden gegen sein politisches Engagement. Der Schulrat wies Bernoulli an, bei seinen Vorträgen auf seinen Professorentitel der ETH zu verzichten, um das Ansehen der Hochschule nicht zu schädigen. Er hielt aber dem fachlich ausgezeichneten Dozenten vorerst die Stange, zumal sich Bernoulli an die Auflage des Schulrats hielt. Dessen Präsident Arthur Rohn freilich gab der Architekturabteilung den Auftrag, Bernoullis Vorlesungen wegen allfälliger Propagierung der Freiwirtschaftslehre zu überwachen. Das blieb ergebnislos.
ETH-Schulrat knickte vor Nationalbank-Präsident ein
Die Causa Bernoulli kippte indessen 1938, als sich der Direktionspräsident der Nationalbank brieflich beim Schulrat über die fortgesetzte Kritik des Freiwirtschaftsbundes an seiner Institution beschwerte – mit Kopie an Bundesrat Etter. Geklagt wurde insbesondere über die «in gehässiger und demagogischer, um nicht zu sagen perfider Weise erfolgenden Angriffe, wie sie schon zu geraumer Zeit ganz besonders gegen den Präsidenten unseres Direktoriums gerichtet werden…». Und weiter: «In der vordersten Reihe dieser Angreifer figuriert nun der an der ETH als Professor tätige … Bernoulli …. Wir stehen vor der in weiten Kreisen unbegreiflichen Tatsache, dass ein Lehrer unserer ETH … das auf das allgemeine Vertrauen angewiesene Noteninstitut in perfider Weise blossstellt und in seinem Ansehen herabzuwürdigen versucht». Von solchen «Verunglimpfungen» habe Bernoulli Abstand zu nehmen, «falls er seine Lehrtätigkeit am Eidg. Polytechnikum fortzusetzen gedenkt».
Der Schulrat verstand die indirekte Weisung und liess Bernoulli fallen. Sein Präsident Arthur Rohn – treibende Kraft am Rausschmiss – teilte Bernoulli mit: «Wir bedauern, dass unsere Hochschule infolge Ihrer Betätigung auf wirtschaftlichem Gebiete in eine Situation gelangt ist, die es verunmöglicht, die Dienste eines hervorragenden Fachmannes weiter zu beanspruchen».
Der Verlust des Professorentitels mag Bernoulli als Nachfahren berühmter Basler Gelehrter besonders getroffen haben. Aber auch ohne seinen Titel wurde der Stadtplaner international zunehmend anerkannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er in zerstörten Städten – von Stuttgart, Berlin, Wien bis Warschau – ein gesuchter Planungsexperte des Wiederaufbaus. Seine Ideen, dass der städtische Boden zu kommunalisieren sei – bis heute zum Beispiel in seinem Buch «Die Stadt und ihr Boden» greifbar –, fanden allerdings wenig politische Unterstützung. An seinem 71. Geburtstag ehrte ihn die Universität Basel mit der Ehrendoktorwürde, und von 1947 bis 1951 sass er für den Landesring der Unabhängigen im Nationalrat als Vertreter von Basel-Stadt.
Gesellschaftspolitische Enge
Aus heutiger Sicht befremden mehrere Dinge. Einmal: die gesellschaftspolitische Enge bürgerlicher Vorstellungen, welche die Verbreitung freiwirtschaftlicher Ideen durch einen Hochschulprofessor als rufschädigend für die ETH konstruierte. Dann: der geringe Respekt vor einer Person, welche akademische Aufgabe und politisches Engagement ernst nahm, aber beides zu trennen versuchte. Schliesslich: die direkte Intervention eines Nationalbank-Präsidenten und dessen Einfluss auf den Entscheid des Schulrats, sowie ein Bundesrat, der die Abänderung des ETH-Reglements – bestellt für den Fall Bernoullis – unterschrieb.
Gewiss, Bernoulli war nicht zimperlich in seiner Behördenkritik. Wären seine polemischen Gedichte statt in der «Freiwirtschaftlichen Zeitung» im «Nebelspalter» erschienen, hätte vermutlich niemand Anstoss genommen. Bernoulli war, trotz Vorträgen zur Überwindung des Kapitalismus, kein Kommunist, hingegen ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus, was sich nicht von allen Mitgliedern des damaligen Schulrats behaupten liess. Immerhin finden Bernoullis verpönte Ideen der Trennung von Verfügung und Nutzung über den städtischen Boden heute Anwendung bei jenen Gemeinwesen, die ihren Boden nicht verkaufen, sondern den Privaten zur Nutzung im Baurecht überlassen.
Als Nachgeborene sollten wir freilich zurückhaltend sein in unserem zeitgebundenen Urteil, so wie Yvonne Voegeli, Autorin am ETH-Hochschularchiv. Ihre ausführliche Dokumentation zu Bernoulli mit dem Titel «Freigestellter Freigeist» besticht durch ihre Offenheit und Fairness.
Zur falschen Zeit am falschen Platz
Persönlich sehe ich in Hans Bernoulli einen wahrhaftigen Intellektuellen, der grundlegend über den Städtebau, dessen Ökonomie und deren Folgen für die Gesellschaft nachgedacht hat. Er war einer, der dafür auch öffentlich einstand. Leider am falschen Platz und zur falschen Zeit. Und wer weiss: Vielleicht hätte er deshalb auch heute Platz gefunden auf der Liste jener «Professoren, vor denen gewarnt werden muss», welche die «Weltwoche» vor einigen Jahren publizierte.
Eines fällt auf im Vergleich der Entlassungen von Hans Bernoulli und Marcella Carollo: Ging es damals um gesellschaftspolitische Konflikte und langfristige Interessen der Allgemeinheit, rutschen Entlassungsfälle an Hochschulen heute zunehmend ab ins Feld von persönlichen Einzelinteressen bis hin zu Fragen des gegenseitigen Wohlfühlens von Lernenden und Lehrenden.
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der «Weltwoche».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
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