Ein schwerer Atomunfall bleibt am Volk haften
Die Haftpflicht für Schweizer Atomkraftwerke (AKW), die AKW-Betreiber plus Bund versichern müssen, beläuft sich heute auf 1,8 Milliarden Franken pro Anlage. Diese Summe haben National- und Ständerat im Mai 2008 gesetzlich festgelegt; alle Anträge auf höhere Haftpflichtsummen unterlagen im Parlament deutlich. Die 1,8 Milliarden Franken entsprechen dem Minimum, das internationale Abkommen verlangen. Daran halten sich die meisten Staaten, in denen Atomenergie verstromt wird. Mit einer Haftpflichtsumme von 2,5 Milliarden Euro verlangt Deutschland etwas mehr als das Minimum.
Horrende Kosten
Die Beträge von 1,8 Milliarden Franken oder 2,5 Milliarden Euro reichen bei weitem nicht, um die Schäden von schweren Atomunfällen zu decken. Den Grossteil des Risikos von Atomunfällen wälzen die AKW-Betreiber also auf die Allgemeinheit respektive die betroffene Bevölkerung ab. Sie verletzen damit das Verursacherprinzip. Das bestätigt Peter Zweifel, Professor für Ökonomie an der Universität Zürich und Versicherungsspezialist: «Wenn wir von Kernhaftpflicht reden, ist eine Milliarde ein Tropfen auf einen heissen Stein.»
Falls in einem Atomkraftwerk die Brennelemente schmelzen, der Reaktorbehälter explodiert, grosse Mengen an Radioaktivität freigesetzt werden und die Umgebung weiträumig verstrahlen, sprechen Fachleute vom «Grössten anzunehmenden Unfall», abgekürzt Gau. Dieser Gau könne Schäden und Folgekosten von 4300 Milliarden Franken verursachen, schätzte 1995 das Bundesamt für Zivilschutz. Zum Vergleich: 4300 Milliarden Franken entsprechen annähernd dem Zehnfachen der gesamten Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandprodukt) der Schweiz. Zurückhaltender äussert sich Peter Zweifel: «Wenn die Stadt Zürich, die 40 Westwind-Kilometer von Leibstadt entfernt liegt, verstrahlt würde, «sind bald einmal 40 Milliarden Franken fällig».
Gegen Verursacherprinzip
In einer Studie haben die Versicherungsexperten Zweifel und Roland Umbricht vor zehn Jahren berechnet, wie stark sich die Risikokosten und die Versicherungsprämien erhöhten, wenn sich die AKW-Betreiber angemessen versichern müssten. Dazu berechneten und verglichen die Verfasser ein breites Spektrum an Szenarien. Als Beispiel das mittlere, wonach einmal pro Million Reaktorjahre ein Schaden im Umfang von 50 Milliarden Franken entsteht. In diesem Fall müsste das AKW Leibstadt mit zusätzlichen Risikokosten im Umfang von rund hundert Millionen Franken pro Jahr rechnen. Der Atomstrom aus Leibstadt würde damit deutlich teurer. Oder umgekehrt: Weil die AKW-Betreiber das volle Risiko nicht versichern müssen, geniesst Atomstrom im Elektrizitätsmarkt einen Wettbewerbsvorteil.
Dieser Wettbewerbsverzerrung zum Trotz lehnte die – atomenergie-befürwortende – Mehrheit im Parlament die Anträge für höhere Haftpflichtsummen ab. Man müsse von einer Summe ausgehen, «die für Versicherungen verkraftbar ist», begründete etwa der freisinnige Thurgauer Nationalrat Werner Messmer diese Position. Der damalige Energieminister Moritz Leuenberger räumte zwar ein, dass mit der begrenzten Haftung der Grossteil des Risikos auf die Allgemeinheit abgewälzt wird. Doch diese Abwälzung sei vertretbar, meinte Leuenberger, nachdem sich die Mehrheit des Volkes politisch – mit dem Nein zum Atomausstieg – mehrmals für die Nutzung der Atomenergie ausgesprochen habe.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine