Direkte Demokratie und Willkür liegen nahe beieinander
Wer sich in der Schweiz einbürgern lassen will, braucht einen langen Atem, einen vorbildlichen Lebenslauf, detaillierte Kenntnisse über Land und Leute, mündliche und schriftliche Sprachkenntnisse sowie die nötigen finanziellen Mittel für die Gebühren. Und die Stimmen von echten Schweizerinnen und Schweizern! Das Einbürgerungsverfahren ist föderal, als erstes müssen die Einbürgerungswilligen in der Gemeinde aufgenommen werden, danach geben der Bund und schliesslich der Kanton ihre Zustimmung.
Die von der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM) herausgegebene Zeitschrift «terra cognita» hat 2018 das ganze Verfahren mit zwei zuständigen Behördenmitgliedern aus dem Kanton Graubünden aufgezeichnet. Mehrfache Vor- und Überprüfungen, immer wieder kontrollierte Strafregister- und Betreibungsauszüge, Gespräch vor der Einbürgerungskommission, Akonto-Zahlungen und Schlussrechnungen – jeder Schritt wird detailliert erklärt. Das Fernsehen SRF hat Ende letzten Jahres in einer mehrteiligen Dokumentation ebenfalls das ganze langwierige Prozedere sicht- und hörbar gemacht. Und damit aufgezeigt: Schweizer oder Schweizerin wird man nicht einfach so, das muss verdient und erduldet werden. Je nach Zusammensetzung der Einbürgerungskommissionen steigen oder fallen die Chancen, je nach Landesteil ist man offener oder verschlossener. Klar wird: Bürgerinnen und Bürger dieses Landes entscheiden souverän und mehr oder weniger sachlich begründet, wen sie in ihren erlauchten Kreis aufnehmen wollen. Zwar gibt es seit einigen Jahren ein Beschwerderecht, das den Entscheid von der rein politischen auf die Ebene eines rechtsstaatlich begründeten Verwaltungsakts hebt. Aber noch immer wird das Recht einzubürgern höher gewichtet als das Recht, eingebürgert zu werden.
Politisches Ermessen
Dieses Prozedere will die «Aktion Vierviertel» nun radikal ändern: «Jeder Mensch, der seit vier Jahren in der Schweiz lebt, soll unabhängig vom Aufenthaltsstatus ein Recht auf Einbürgerung haben. Veraltete, unsachliche und willkürliche Kriterien gehören abgeschafft.» Zurzeit kann das Manifest der Aktion unterzeichnet werden, die Gruppe diskutiert aber auch über die Lancierung einer Initiative.
Einbürgerungsgesuche werden auch heute noch oft an Gemeindeversammlungen oder Gemeindeparlamenten debattiert und entschieden. Dass die Einbürgerung ein «politischer Ermessensentscheid» ist, war lange unbestritten. Das Bundesgericht hat 2003 in zwei Urteilen dann aber klargestellt: Auch wenn es kein Recht auf Einbürgerung gibt, haben Einbürgerungswillige doch auch Grundrechte, die es in einem Rechtsstaat zu beachten gilt (Willkür- und Diskriminierungsverbot, Gleichheit vor dem Recht, rechtliches Gehör, Rechtsweggarantie, Schutz der Privatsphäre). Aus diesem Grund wurde im Bürgerrechtsgesetz festgeschrieben, dass gegen einen negativen Entscheid eine Beschwerde möglich sein muss. Denn den Rechten der Einbürgerungswilligen stehen die Rechte der Bürgerinnen und Bürger entgegen, selber zu entscheiden, wen sie in ihre Reihen aufnehmen wollen. In diesem Spannungsfeld werden Einbürgerungsentscheide gefällt. Der Staatsrechtler Georg Müller hat das Verfahren einst als eines der «Reservate staatlicher Willkür» bezeichnet. Mit dem Beschwerderecht, erleichterter Einbürgerung der dritten Generation, klareren Bundesbestimmungen wurde zwar mehr Rechtssicherheit geschaffen. Doch noch viel zu oft herrscht in den Gemeinden die Meinung vor: Wir wollen das letzte Wort darüber haben, wer den roten Pass erhält – bis dann die Gerichte Recht sprechen (aktuelle Fälle aus dem Kanton Schwyz, dem Kanton Aargau und dem Kanton Luzern).
Der letzte Entscheid soll bei uns liegen
Die Verfahren zur Einbürgerung sind ein Spiegelbild dessen, wie die Schweiz tickt. Weit ist man vom Grundsatz entfernt, dass allein die Tatsache, hier geboren worden zu sein (ius soli, wie es andere Länder kennen), ein Bürgerrecht auslöst. Der Bundesrat hat dies gerade erst wieder in seiner Antwort auf eine Motion von SP-Ständerat Paul Rechsteiner abgelehnt. Auch eine Motion für die erleichterte Einbürgerung von Ausländern der zweiten Generation der Grünen-Ständerätin Lisa Mazzone hat er abgelehnt. Die Begründung ist interessant: «Die Einbürgerungspolitik misst sich nicht in erster Linie anhand der Anzahl jährlich eingebürgerter Personen. Entscheidend ist vielmehr die Wirkung, die damit in der Gesellschaft erzielt wird.» Auch hier wird also wieder viel Wert darauf gelegt, wie sich die Schweizerinnen und Schweizer dabei fühlen, und nicht, ob nach einer gewissen Zeit und mit gewissen Bedingungen eine Einbürgerung erteilt werden sollte. Dabei sind die Bedingungen streng. Die Bundesverordnung fordert Sprachkenntnisse in der jeweiligen Landessprache, Vertrautsein mit den schweizerischen Lebensverhältnissen, Grundkenntnisse der geografischen, historischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz, Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben, die Pflege von Kontakten zu Schweizerinnen und Schweizern. Die Bewerberin oder der Bewerber darf die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährden, nur in Ausnahmefällen einen Strafregistereintrag haben, muss die Werte der Bundesverfassung respektieren, selber für seinen Lebensunterhalt sorgen, die Familie zur Integration anhalten. Die Kantone und Gemeinden können mit Tests das Wissen prüfen und legen Wohnsitzdauern fest, bevor ein Antrag eingereicht werden kann.
Entpolitisierung der Einbürgerungen
Der Regierungsrat des Kantons Zürich hat soeben ein revidiertes Bürgerrechtsgesetz dem Kantonsrat vorgelegt. Er will die Einbürgerungen entpolitisieren: Bei der Erteilung des Bürgerrechts handle es sich «um einen Rechtsanwendungsakt, wie es das Bundesgericht in langjähriger Rechtsprechung festgehalten hat», schreibt die Regierung. «Wer die Einbürgerungsvoraussetzungen des Bundes und des Kantons erfüllt, hat Anspruch auf Erteilung des Bürgerrechts.»
Damit stellt der Kanton Zürich die entscheidende Frage: Welchen Einfluss soll eine Gruppe Schweizerinnen und Schweizer – sei das eine Gemeindeversammlung, ein Gemeinderat, eine Einbürgerungskommission – haben, um «selbstbestimmt» zu entscheiden, wer bei uns aufgenommen werden soll und wer nicht? Der Konflikt zwischen der freien Meinungsäusserung der Instanz (Kommission, Gemeindeversammlung, Gemeindeparlament), die einbürgert, und den Grundrechten der Einzubürgernden wird damit nicht aufgelöst. Er lässt sich auch nicht auflösen, solange man die Einbürgerungswilligen noch der Beurteilung durch Schweizer Bürgerinnen und Bürger aussetzt, denn beide haben Rechte, die in diesem Fall aber nicht kompatibel sind. Sie bergen das Risiko von Willkür, unterschiedlichen Anforderungen und unterschiedlichen Ansichten.
«Grundlegend neuer Einbürgerungsmodus»
Auch die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) wünscht sich ein einfacheres und klareres Verfahren: «Aus der Sicht der EKM kann es sich ein demokratisch strukturiertes Staatswesen nicht leisten, einen Viertel der Bevölkerung aus politischen Prozessen auszuschliessen. Um dem Ideal einer liberalen Demokratie näher zu kommen, bräuchte die Schweiz aber einen grundlegend neuen Einbürgerungsmodus.» Gefordert werden ein einstufiges Verfahren, einheitliche und transparente Regeln, Mechanismen zur automatischen Einbürgerung für Personen der zweiten und der folgenden Generationen. «Ein einfaches, transparentes und professionelles Einbürgerungsverfahren, welches Chancengleichheit garantiert und Diskriminierung ausschliesst, ist eine Absichtserklärung. Ausländerinnen und Ausländer sollen als gleichberechtigte Mitglieder in Willensäusserungs- und Meinungsbildungsprozesse einbezogen zu werden», so die EKM.
Die direkte Mitbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern in Kommissionen oder an Gemeindeversammlungen soll nicht gering geschätzt werden. Sie geben einem politischen Entscheid eine Legitimität, die er ohne direkte Mitbestimmung der Stimmberechtigten nicht hätte. Aber: Direktdemokratische Entscheide sollten auch nicht in dem Masse überhöht werden, wie das in der Schweiz geschieht.
«Der Inbegriff der freien Entscheidung ist die Willkür»
Die Auseinandersetzung über das Einbürgerungsverfahren sollte dazu führen, dass nicht nur über die eigenen, sondern auch die Rechte der Anderen nachgedacht wird. Soll ein Mensch, der jahrelang in der Schweiz lebt und die formalen Bedingungen für eine Einbürgerung erfüllt, noch gezwungen werden, vor einer Gruppe «souveräner» Schweizerinnen und Schweizer Red und Antwort zu stehen und sich von ihnen beurteilen zu lassen? Ist dieses Antraben wirklich nötig oder ist es nicht vielleicht Ausdruck der Selbstüberschätzung der Bürgerinnen und Bürger eines Landes, das sich als direktdemokratischen Sonderfall und als gelobtes Land sieht? Die Historiker Georg Kreis und Patrick Kury haben in ihrer Schrift «Die schweizerischen Einbürgerungsnormen im Wandel der Zeiten» aus dem Jahre 1996 folgendes geschrieben: «Im gesamten Einbürgerungsverfahren ist es offenbar von höchster Wichtigkeit, dass der kommunale Souverän entscheiden kann, dass die Einbürgerung also kein Automatismus ist, dass er aus freien Stücken entscheiden kann, dass also kein Anspruch besteht. Der Inbegriff der freien Entscheidung ist die Willkür. Im Recht auf Willkür zeigt sich die Souveränität, wie sich die Souveränität im Recht auf Willkür zeigt.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wenn nur drei Viertel mitmachen können, ist es keine Demokratie. Das können eigentlich alle wissen, die es wissen wollen. Aber es ist nicht wirklich das Problem. Mit Parlamenten und Parteien, die vor allem an der Macht interessiert sind, und die sich in Sachfragen perspektivenlos wie auf einem Karussell im Stillstand im Kreis drehen, lässt sich kein Staat machen. Und mit einer Mehrheit von Bürger*innen, die gemäss ihrem Verhalten wahlweise als dumm, unkritisch, obrigkeitshörig, bequem oder einfach nur als vergnügungssüchtig gesehen werden müssen, ist die Demokratie grundsätzlich im Eimer.
Sehr geehrte Frau Ryser,
als Deutsche wundere ich mich über Ihren Artikel, weil sie ihn in despektierlichem Ton darbringen: Die Begriffe „erlauchter Kreis“ zu Beginn und „gelobtes Land“ zum Ende hin geben eine Denkrichtung vor, die ich nicht teilen will.
Bestimmt ist auch in der Schweiz nicht alles Gold, aber viele Deutsche wünschen sich mindestens einen kleinen Teil Ihrer direktdemokratischen Gepflogenheiten.
Dass dies auch mit Nachteilen behaftet sein kann, steht außer Frage, aber die föderale Struktur bei der Einbürgerung als «Reservat staatlicher Willkür» zu bezeichnen, könnte überzogen/eine Unterstellung sein. Leider stellen Sie in dem Artikel nicht dar, worin diese „Willkür“ besteht.
Die Grundrechte der Einzubürgernden ließen sich doch gegen „tatsächlich willkürliche“ Anforderungen der Schweizer Bürger in einem gesetzlichen Rahmen ordnen, der letztlich die Souveränität der Bürger nicht schmälert???
Grundsätzlich also würde ich das Recht einzubürgern tatsächlich höher gewichten als das Recht, eingebürgert zu werden.
Ich schreibe dies alles auch (stark verkürzt wg. Platz) unter dem Eindruck und in großer Anerkennung der kürzlichen Ablehnung des unzumutbaren EU-CH-Rahmenabkommens. Damit hat die Schweiz eine ausufernde Ausdehnung der EU-Unionsbürgerschaft und der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit – und die damit einhergehende Bedrohung einer Prekarisierung – für ihr Land verhindert (nicht zuletzt auch eine angestrebte Einflussnahme der USA über die EU auf die Schweiz).
Ich finde, man muss differenzieren: In der Schweiz Geborene sollten spätestens mit der Volljährigigkeit auch das volle Schweizer Bürgerrecht erhalten. Das wurde allerdings vom Volk schon einmal abgelehnt.
Wer dagegen seit Jahrzehnten in der Schweiz lebt und die Sprache seines Lebensumfeldes nicht beherrscht, soll auch nicht eingebürgert werden. Denn ohne das kann man sich nicht wirklich integrieren.
Das grösste Problem ist allerdings, wie im Artikel beschrieben, dass das Bürgerrrecht an die Gemeinde gebunden ist. Es sollte deshalb zusätzlich ein nationales Bürgerrecht geben, das vom Bund nach einheitlichen und vor allem nachvollziehbaren Bedingungen verliehen wird. Wer diese Bedingungen erfüllt, hat ein Recht auf Einbürgerung.
Zitat: «Die Aktion «Vierviertel» fordert ein Recht auf …»
Ich lasse bewusst aus Gründen der Logik den Schluss des Satzes weg.
Mit keiner Staatsform dieser Welt können Bürger etwas fordern – Sie werden keinen Staat finden. Mit der Direkten Demokratie der Schweiz gibt es aber das Recht, aus dem Volk heraus eine Verfassungsänderung herbeizuführen und damit eine Gesetzesänderung. Ein Recht das es weltweit nirgendwo gibt. Eine Motion wäre einfacher, hat aber mit Direkter Demokratie nichts zu tun. Allerdings muss auch hier die Mehrheit davon überzeugt werden – also keine Willkür.
Aber die Autorin schreibt genau eben von Willkür. Sie denunziert die Direkte Demokratie, erwartet aber gleichzeitig von dieser, weil es die einzige Staatsform überhaupt ist, die das in niedergeschriebenen Verfahren erlaubt, dass so etwas ihrer Meinung wegen umgesetzt werden soll. Logik scheint nicht die Stärke der Autorin zu sein.
Die Autorin vergisst das zuvor verabschiedete Recht (zur Einbürgerung). Es gibt nichts, das weniger durch Willkür geprägt ist als die Direkte Demokratie.
Meine Empfehlung: Zu Ende denken und bei einer Aussage den Umkehrschluss ziehen, so dass die Aussage geschlossen werden kann und auch dann «richtig» ergibt.