Kommentar
Die politische Mitte befindet sich im Stress
Im eidgenössischen Wahljahr dreht sich alles um die Mitte. Die Konkurrenz ist gross. Das spüren vor allem die Traditionsparteien FDP und CVP. Sie verlieren nicht nur Wählerinnen und Wähler nach rechts an die SVP, sondern werden auch von den neuen Mitte-Parteien BDP und Grünliberale in die die Zange genommen.
Umworben wird die gesellschaftliche Mitte auch von rechts und links: Die SVP bezeichnet sich im Sünneli-Logo als «Partei des Mittelstandes». Und SP und Grüne buhlen heute ebenso intensiv um die Mittelschichten wie die bürgerlichen Parteien.
Gleichzeitig sehen alle diese Mitte bedroht: Für die einen gerät sie wegen zu hoher staatlicher Belastungen und dem teuren Sozialstaat in Bedrängnis, für die anderen trägt der entfesselte Kapitalismus und die Entsolidarisierung der Spitzenverdiener und «Abzocker» die Schuld am steigenden Druck. Typisch der Satz in der jüngst verabschiedeten Wahlplattform der SP: «Mittlerweile kann in Städten und Steuerdumpingkantonen sogar der Mittelstand kaum mehr eine Wohnung bezahlen. Das darf nicht sein.»
Von Aristoteles bis Abzocker
Also: Die Mitte der Gesellschaft ist das Mass aller Dinge – doch gleichzeitig scheinen Mitte und Mass abhanden zu kommen. In seinem Buch «Mitte und Mass. Der Kampf um die richtige Ordnung» bringt Herfried Münkler etwas Ordnung in den naturgemäss unscharfen Begriff der Mitte. Münkler, einer der bekanntesten deutschen Politologen und «ein wandelnder Ein-Mann-Think-Tank» («Die Zeit»), wählt eine grosse Flughöhe. Er zeigt auf, wie sich Mitte und Mass gemeinsam entwickelten, von Aristoteles bis zur Abzockerdebatte unserer Tage. Am faszinierendsten ist das Buch dort, wo es von der Mitte als «sozialem Ort mit weichen Rändern und fliessenden Übergängen» handelt, aber auch als «Voraussetzung für den Zusammenhalt moderner Gesellschaften».
Wohlstandsgewinne gingen an der Mitte vorbei
Münkler zeigt, wie vielfältig, widersprüchlich und oftmals auch paradox die Mittelschicht ist. Und vor allem, wie stark die gesellschaftliche Mitte unter Stress steht. Die ökonomische Verunsicherung ist nicht bloss politische Propaganda, sondern Realität. Der Autor hat zwar Deutschland im Visier, doch seine Beobachtungen sind auch auf die Schweiz und andere Industrieländer anwendbar. Die Wohlstandsgewinne der letzten beiden Jahrzehnte seien «ausschliesslich im oberen und obersten Einkommensbereich eingestrichen worden.» Fatal, denn «die Mitte zerfällt in Gewinner und Verlierer». Noch fataler: Diese Entwicklung führt zu einem Bedeutungsverlust des Leistungsbegriffs. Denn Leistung ist gemäss Münkler der «einzige Massstab, mit dem die Statusvergabe in modernen Gesellschaften öffentlich gerechtfertigt werden kann».
Erfolg verdrängt Leistung
Ersetzt wird Leistung durch Erfolg, und das mit erheblichen Folgen. Denn nicht mehr kontinuierliche und harte Arbeit sind ausschlaggebend für soziale Position und Einkommen, die clever ergriffene Gelegenheit wird zum Erfolgsrezept. Musterbeispiele sind das Geschehen an den Finanzmärkten und den Börsen – und die Casting-Shows am Fernsehen. Die Casting-Show ist für Münkler «die volkstümliche Erzählung vom Geschehen an der Börse, gewissermassen das ideologische Versatzstück des Casino-Kapitalismus». Als geradezu zynisch bezeichnet der Autor die Parole, wonach sich Leistung wieder lohnen müsse – eine Parole, die jüngst auch wieder von der FDP im Zürcher Wahlkampf ins Feld geführt worden ist. Der Slogan berufe sich auf einen Massstab, «der durch die kapitalistische Dynamik zertrümmert worden ist.» Die Folge: Leistung wird kurzerhand mit Einkommen gleichgesetzt, «das zu Messende wird selbst zum Massstab. Die Bedrohung der Mitte und der Verlust des Masses gehen Hand in Hand.»
Ausufernd, aber anregend
Herfried Münkler versteht es, seine durchaus differenzierte Analyse in griffige Formeln zu giessen. Das Buch ist eine grosse Materialsammlung und ein intellektuell funkelnder Essay in einem. Die Bedeutung der Mitte, die unsere Kultur in so besonderem Masse prägt, wird allerdings manchmal etwas überstrapaziert. Ausgerechnet ein Buch über Mitte und Mass verliert stellenweise das richtige Mass. Schier grenzenlos sind Münklers Mutmassungen über die Mitte. Neben dem politikwissenschaftlichen Kern rücken auch philosophiegeschichtliche, theologische, städtebauliche, geografische und geopolitische Mitten ins Blickfeld. Aber diese assoziative Methode zeugt vom grossen Überblick des Autors und bietet den Lesenden anregende Erkenntnisse über einen einfach tönenden, gleichzeitig aber schwierigen Begriff.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine