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Video-Ansprache von SP-Präsident Levrat zum 1. Mai 2011 © sps

Die Linke hat Angst vor einer radikalen Vision (1)

Robert Ruoff /  Bekannte Anklagen, berechtigte Wünsche, aber keine Idee für die Zukunft. Ein Nachtrag zur Rede von Christian Levrat am 1. Mai.

Christian Levrat, Präsident der sozialdemokratischen Partei der Schweiz, hat sich zum 1. Mai in einer Video-Ansprache an das Schweizer Volk gerichtet. Er wandte sich an seine «Damen und Herren, Genossinnen und Genossen, Kolleginnen, Freunde», zu denen er uns alle irgendwie zählt. Die Video-Ansprache ist eine Kurzfassung der Rede, die er zum Tag der Arbeit in Basel, Brugg und Winterthur hielt.

Die immer gleichen Reden

Es ist eine der Reden, die wir seit Jahren hören und die wir, steht zu befürchten, noch lange Jahre hören werden. Es gibt «die da oben» und «wir da unten», es gibt seit zehn Jahren stagnierende Löhne und explodierende Krankenkassenprämien, es gibt den schrumpfenden Mittelstand und die wachsende Schere zwischen denen, die immer reicher, und denen, die immer ärmer werden. Wir wissen das, und die Statistik gibt dem SP-Präsidenten recht.
Und da im Herbst die Eidgenössischen Wahlen drohen, zählt Levrat danach so etwa alles auf, was sich die SP im Wahljahr auf die Fahnen geschrieben hat. Anständige Löhne für alle, zahlbare Krankenkassenprämien für alle, eine sichere Energieversorgung für alle und erschwinglichen Wohnraum für alle. Wer möchte dem widersprechen? Und wer möchte dem SP-Präsidenten nicht zustimmen, wenn er sich für eine «offenere, tolerantere Schweiz» einsetzt, und für «eine Politik für alle statt für wenige!»

Der wiederkehrende Protest

Warum nur, frage ich mich, warum nur lässt mich (und offenkundig viele andere) das alles so unberührt. Nein, nicht weil es uns zu gut geht. Auch nicht, weil es den Einsatz nicht lohnen würde. Und schon gar nicht, weil wir uns nicht gemeinsam mit dem alten deutsch-französischen Juden Stephane Hessel empören möchten – im Gegenteil: «Indignez vous!», möchte man dem SP-Präsidenten zurufen, wenn man ihn so reden hört.
Ja, vielleicht lässt uns all das so unberührt, weil wir in den letzten Jahrzehnten gelernt haben, dass die etablierte Schweizer Linke sich scheut, sich wirklich zu empören, dem Übel wirklich an die Wurzel zu gehen, das heisst: radikal zu denken und konsequent zu handeln.

Die Kapitulation vor dem Kapitalismus

Die etablierte Linke in der Schweiz taktiert bis zur Unkenntlichkeit mit dem politischen Gegenpol, der SVP, sie doktert kleinmütig an den Symptomen und wenn der linken Jugend der Coup gelingt, das Schreckwort von der «Überwindung des Kapitalismus» ins Programm zu setzen, befällt die Partei- und Fraktionsführung die Angst vor der eigenen Courage. Sie eilt sofort beflissen von Sektion zu Sektion, um zu erklären, es sei ja so wörtlich gar nicht gemeint und wenn doch, dann erst für den Sankt Nimmerleinstag.
Was denn mit dem Programm wirklich gemeint sein könnte, wollen wir gar nicht mehr wissen – die Glaubwürdigkeit ist so oder so dahin.
Dabei war der Kapitalismus in den letzten drei Jahren – oder sogar Jahrzehnten? – grade dabei, seine «Überwindung» selber in die Wege zu leiten. Allerdings in Form einer Megakrise, die jede und jeden in Mitleidenschaft zieht. Da hatten wir doch grade die «Kernschmelze» des Finanzkapitals. Da erleben wir doch grade die neueste Folge in der Serie der Megakatastrophen: Fukushima, nach Tschernobyl und Three Mile Island. Da konstatieren wir doch bei nahezu allen einschlägigen Abstimmungen zum Klimawandel in den Eidgenössischen Räten die systematische Verweigerung von Einsichten. Dasselbe beim ungebrochenen Glauben an das Wachstum, sprich: an den steten Verbrauch von Lebensgrundlagen bis hin zu ihrer Zerstörung, an dem wir alle täglich teilnehmen. (Mehr dazu im lesenswerten Artikel meines früheren Lehrers, des Berliner Politikwissenschafters und Ökonomen Elmar Altvater, in der WOZ Nr. 17, 2011).
Aber die etablierte Linke in der Schweiz hat kein Konzept, das über die Diagnose der Symptome hinausweist und viele – vielleicht sogar eine relative Mehrheit der Bevölkerung – dazu bewegen könnte, sich in Bewegung zu setzen, um die Übel an der Wurzel zu packen.

Alte Erkenntnisse – keine Visionen

Die Einkommensschere ist ja nicht neu. Der Nobelpreisträger Paul Krugman hat vor Jahren schon in der New York Times das masslose Wachstum der Managergehälter gegeisselt, und die skandalöse Vermögensverteilung (2.2 Prozent Superreiche besitzen gleich viel wie der Rest der Bevölkerung) ist auch keine wirkliche Neuigkeit. Die Konkurrenz auf dem kapitalistischen Markt ist ein Kampf um das «survival of the fittest», das Überleben des Stärksten. Wachstum auf Kosten der anderen ist das Prinzip – die Ungleichheit hat System. Der Kampf für «anständige Löhne für alle» ist nichts als Symptombekämpfung, Pflästerlipolitik. Notwendig aber nicht ausreichend.
Also müsste man über dieses System hinaus denken. Der grosse Theatermann Frank Castorf sagt im Programmheft zu Gotthelfs «Die schwarze Spinne», die er in Zürichs Schauspielhaus inszeniert hat: «Jede politische Form…ist eine Herrschaftsform und zum Untergang verurteilt; (auch) die Demokratie, in der wir uns so völlig zeitlos einnisten, und sagen: Nach uns kommt ja nichts, nach der Demokratie – das ist der Status quo, der abgesichert wird vielleicht noch für unsere Enkel. Danach geht kein visionäres Denken mehr und das halte ich für problematisch.»
Das ist das verheerende Problem der etablierten Linken. Sie ist zu einer Absicherungsorganisation verkommen. Sie gestattet sich keine Vision mehr, keinen Zukunftsentwurf, der die Demokratie ausdehnen würde in all die Lebensbereiche jenseits der Politik, die bis heute dem Diktat der Wenigen unterliegen. Derjenigen, die immer aufs Neue das grosse Schlamassel produzieren und dafür auch noch gut bezahlt werden. Und weil das so ist, weil die Linke schon vor dem Gedanken an eine künftige ausgedehnte Demokratie zurückschreckt, kann die Rechte mit ihrem autoritären Vergangenheitsentwurf hausieren gehen und damit ihre Triumphe feiern.
Sie, die Rechte, hat nicht nur die Gestaltung der Wirtschaft sondern zunehmend die Gestaltungsmacht für fast die ganze Gesellschaft erfolgreich monopolisiert.

Die Schatten der Vergangenheit

Die Linke verzagt vor der Herausforderung des «visionären Denkens» auch, weil ihr noch immer die Vergangenheit im Nacken sitzt, jener «real existierende Sozialismus», der 1989 so schmählich zusammengebrochen ist. Und der doch, bei Lichte besehen, mit jeder denkbaren Form von «Sozialismus» nur den Namen gemein hatte. In Wirklichkeit war das eine terroristische Parteiendiktatur, mit der Lenin, Stalin und ihre Nachfolger das feudale Russland und seine Satellitenstaaten unter sozialistischem Etikett ins Industriezeitalter zu prügeln versuchten. Dieses Russland ist bis heute noch nicht einmal in der bürgerlichen Demokratie angekommen (auch wenn der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder seinen Freund Wladimir Putin zum «lupenreinen Demokraten» erklärt hat).
Das fatale gemeinsame Etikett des Sozialismus hängt den demokratischen Sozialisten auch in der Schweiz bis heute an. Es wirkt als Denkverbot, und die Blocher, Pelli, Darbellay holen selbstverständlich das Gespenst des Kommunismus geschwinde aus der Mottenkiste, wenn die Linke eine stärkere Kontrolle des Kapitals oder gar mehr Demokratie fordern sollte – in der Wirtschaft zum Beispiel. Und weil diese angejahrte Verängstigungsstrategie immer wieder Wirkung zeigt, setzt die etablierte Linke ihren Denkapparat für eine echte Alternative schon gar nicht mehr in Gang.
Dabei müsste der denkenden Mehrheit in der Bevölkerung heute leicht klar zu machen sein, dass die «Bürgerlichen», wenn überhaupt, dann nur durch Katastrophen wie Fukushima zu neuen Einsichten zu bewegen sind (und durch Katastrophen wie die Finanz- und Wirtschaftskrise bis heute nicht), und dass wir mit dem Einsatz für eine umfassend demokratisierte Gesellschaft besser nicht erst nach, sondern vor der nächsten Katastrophe beginnen. Anstatt uns immer wieder der Interessepolitik der Wenigen zu beugen.

Die notwendige Bereinigung

Es gibt bei der Linken in der Tat Bereinigungsbedarf. Sie hat sich bis in die Gegenwart zu häufig gemein gemacht mit Diktatoren und Potentaten, nur weil sie das gleiche ideologische Etikett trugen. Die Parteien von Tunesiens Ben Ali und Ägyptens Mubarak waren genauso wie die SPS Mitglieder der Sozialistischen Internationale – bis man Anfang 2011 ganz plötzlich ihre mangelnde demokratische Legitimation entdeckte und sie ausschloss. Und prominente Mitglieder der SP Schweiz (oder anderer S-Parteien) haben sich schon sehr intime Nähe zum Revolutionsführer Muammar el Gaddafi gestattet. Oder sie haben Mühe bekundet, sich von einem machtverliebten Potentaten wie Laurent Gagbo zu lösen, weil der sich früher als oppositioneller Gewerkschafter politische Verdienste erworben, aber sich seit 2005 nur noch mit politischen Tricks an der Macht gehalten hatte.
Die Zukunft der Linken hängt ganz wesentlich davon ab, dass sie mit dieser ideologisch begründeten Relativierung von Grundwerten endgültig aufräumt. Der Respekt und die Solidarität mit Genossen auch in der Dritten Welt muss da enden, wo Menschenwürde und Freiheitsrechte und demokratische Regeln verletzt, politische Macht mit Despotie und Korruption gepaart werden. Das gilt für Kungeleien mit Despoten wie Gaddafi und Ben Ali, Gbagbo und Bouteflika, bis hin zu, ja, auch Fidel Castro, so schmerzhaft es sein mag, von den Idolen der Vergangenheit (rechtzeitig!) Abschied zu nehmen.

Der Kapitalismus hat nicht gesiegt; er ist nur übrig geblieben

Die Zukunft einer glaubwürdigen Linken gründet auf der unmissverständlichen, gerade auch politisch praktischen Anerkennung der Errungenschaften der (bürgerlichen) französischen Revolution mit ihren Freiheitsrechten und der späteren Entwicklung hin zu den universellen Menschenrechten. Erst dann ist sie frei für das «visionäre Denken» von dem Frank Castorf spricht, und das über den heutigen Stand der Demokratie hinausreicht zu einer Demokratie in allen Lebensbereichen – was die Voraussetzung einer gerechteren, für möglichst alle lebenswerten Gesellschaft wäre.
Dann kann die etablierte Linke auch ihre Kapitulation vor der real existierenden kapitalistischen Marktwirtschaft überwinden, in der sie sich als Absicherungsorganisation fest eingerichtet hat – ohne Aussicht auf eine erfolgreiche Zukunft. Dann wird sie frei für Einsichten wie die des ehemaligen DDR-Kabarettisten Hans-Dieter Schmidt (Die Distel, Dresden), der zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit gesagt hat: «Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist ganz einfach übriggeblieben.»
Dann ist die etablierte Linke endlich wieder in der Lage, ohne Rechtfertigungsdruck aus der Vergangenheit über das künftig Notwendige radikal nachzudenken, das heisst: an die Wurzeln der Probleme zu gehen. Dann muss sie nicht mehr in Schreckstarre verfallen, wenn sie in ihrem eigenen Programm von der «Überwindung des Kapitalismus» liest. Dann kann sie beginnen, darüber nachzudenken, was ein solches Ziel für die Vielen in unserer Gesellschaft heissen könnte, die den brutalen Kampf aller gegen alle satt haben und die unendliche, ungebremste Gier nach Glamour, Prestige, Geld und Macht. Die Sehnsucht nach einer weniger egoistischen, nach einer kooperativen, solidarischen Gesellschaft ist gerade auch in der jungen Generation lebendig.

Teil 2 folgt am Samstag 7. Mai.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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