Die gefährliche Demontage der EU
Im Zuge der Euro- und Schuldenkrise wird auch die Europäische Union als Institution in die Defensive gedrängt. Mehr noch: Die EU wird zunehmend zum Hassobjekt – in den EU-Mitgliedstaaten ebenso wie in der Schweiz. Die Rechtspopulisten und Nationalkonservativen aller Länder haben schon lange vor der Schuldenkrise die Hunde von der Kette gelassen. Sie wittern Morgenluft und wollen in der schwersten Krise der EU seit ihrem Bestehen das ungeliebte Projekt endgültig sturmreif schiessen.
Die Demokraten aller Lager beklagen – zu Recht! – die Demokratiedefizite der Union lauter und pointierter denn je – und schütten dabei nicht selten das Kind mit dem Bad aus. Und auch die Linken aller Schattierungen verabschieden sich verstohlen von jeglichen europäischen Visionen. Es ist den Populisten und Demagogen gelungen, im Verbund mit Kleingeistern und Verzagten und mangels europapolitisch engagierter Identifikationsfiguren, das Thema der europäischen Integration in die politische Schmuddelecke zu drängen. Die EU ist für viele Menschen zu einem verhassten Feindbild geworden, nach dem Motto: Alles Böse kommt aus Brüssel.
«Die EU plant den Krieg»
In der Schweiz tönt das dann etwa so: «Die EU plant, der Schweiz den Krieg zu erklären.» Das schreibt die Auns (Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz) auf ihrer Homepage im Zusammenhang mit dem wachsenden Druck der EU in Sachen Unternehmensbesteuerung. Und überhaupt: Die EU «entwickelt sich weg von jeglicher Demokratie in Richtung Diktatur.» Und wie es sich für eine Schweiz in Zeiten kriegerischer Bedrohung gehört, fordert die Auns den Rückzug ins wirtschaftliche Réduit: Sie «verlangt vom Bundesrat, dass er umgehend Gegenmassnahmen vorbereitet: Noch tiefer Steuern für ausländische Unternehmen, Einschränkungen des Lastwagentransits, schärfere Grenzkontrollen, Aussetzung der Zahlungen aus dem Zinsbesteuerungsabkommen und des freien Personenverkehrs.»
Die Europa-Turbos vom Dienst wiederum, die Nebs (Neue europäische Bewegung Schweiz), sind ob der kulturellen Hegemonie der Europaskeptiker auch semantisch in die Defensive gedrängt worden. Im Dezember-Informationsschreiben meint Nebs-Präsidentin und FDP-Nationalrätin Christa Markwalder: «Die EU befindet sich derzeit in einer schwierigen Lage und ihr Image hat auch in der Schweiz gelitten. Entsprechend ist eine weitere Annäherung derzeit nicht sehr populär. (…) Aber aus dieser momentanen Krise abzuleiten, dass es jetzt keiner Vertiefung der Beziehungen bedarf, wäre ein grosser Fehler.» Eine selbstbewusste Offensivstrategie tönt anders. Und in der Schweizer Sozialdemokratie möchte man eher nicht auf den Satz angesprochen werden, den man erst im vergangenen Jahr hoch offiziell ins Parteiprogramm geschrieben hat: «Die SP steht für die rasche Einleitung von Beitrittsverhandlungen zur EU ein.»
Vom Modell zur Gefahr für die Demokratie
So rasch kann die Stimmung kippen. Während noch vor kurzem im öffentlichen Diskurs die Integrationsfähigkeit und Stabilisierungsfunktion der EU gelobt und die europäische Integration als einer der Gründe für die wirtschaftliche Prosperität Europas herausgestrichen wurden, trägt das einst auch für andere Weltgegenden als beispielhaft geltende Modell EU heute in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend an allem Elend die alleinige Schuld. Noch vor wenigen Jahren wurde die Aufnahme früherer Ostblockstaaten in die EU als Ende der Teilung Europas und als Sieg von Rechtsstaat und Demokratie gefeiert – heute fallen immer mehr über die EU als geradezu antidemokratisches oder zumindest mit der Demokratie unverträgliches Projekt her.
Rückzug hinter die alten Grenzen
Diese öffentliche Demontage der EU ist gefährlich. In der vernetzten und von den Finanzmärkten vor sich her getriebenen Welt können nicht nur Wirtschaft und Staaten kollabieren. Auch die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in mühsamen, kleinen Schritten erarbeitete Integration und Stabilität können leicht auf die schiefe Bahn geraten. Hugo Portisch, einer der bedeutendsten Journalisten Österreichs, formuliert es in seinem eben erschienenen Buch «Was jetzt» (Ecowin Verlag, Salzburg 2011) wie folgt: «Heute erleben wir, wie rasch oft all das in Europa Erreichte in den Hintergrund gedrängt wird, wie leichtfertig viele bereit wären, die europäische Gemeinschaft wieder aufzugeben, sich hinter die alten Grenzen zurückzuziehen, in der falschen Annahme, sie hätten unseren heutigen Wohlstand und unsere soziale Sicherheit, unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten in Europa und der Welt auch ganz allein geschafft, wozu es in Wirklichkeit einer jahrzehntelangen Anstrengung Europas bedurft hat. Vor allem auch der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe.»
Versagen der intellektuellen Elite
Zwei bemerkenswerte Essays zweier deutscher Publizisten von Rang rücken einiges ins richtige Licht – und beklagen die Ideenarmut der intellektuellen Elite in den Schicksalsstunden der Union: Es sind dies Thomas Assheuer, Feuilleton-Redaktor der «Zeit», und Klaus Harpprecht, früherer Verlagsleiter, Journalist, Korrespondent und Redaktor von ZDF, «Zeit», «Geo» sowie Berater von Bundeskanzler Willy Brandt. Assheuer beginnt seinen glänzend formulierten Artikel so: «Irgendwann, wenn die Ratlosen von morgen die Schuldigen von heute beim Namen nennen, wenn sie aufzählen, wem alles Europa gleichgültig geworden war, bevor es fast in Trümmer fiel, wenn sie mit den Fingern auf die tollen Ökonomen zeigen, die an der Börse ‚Staaten versenken‘ gespielt haben, wenn sie mit posthumer Bestürzung all die Politiker Revue passieren lassen, die Front gegen Europa machten – irgendwann, ganz am Schluss, bevor der Letzte das Licht ausmacht, wird die Rede auf eine seltsame Spezies kommen, nämlich auf die Intellektuellen. Wo waren sie eigentlich, als Europa die Luft ausging?»
Enzensberger auf «Braustübl-Niveau»
Mit einer gewissen sprachlichen Dramatik stellt auch Klaus Harpprecht in seinem Artikel in der «Welt» die Frage: «Warum rief keiner unserer illustren Geister dazu auf, dieses Europa zu retten: das grosse Geschenk, ja das eigentliche Wunder der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen erste Hälfte die schrecklichste Heimsuchung und tiefste Erniedrigung der Menschheitsgeschichte war?» Für Harpprecht sind die entscheidenden Werte an allen Stationen der europäischen Institutionen: «die Bewahrung des Friedens, die Garantie unserer Freiheit, die Festigung des Rechtsstaates. Braucht es mehr? Folgt daraus nicht alles andere?»
Über den Publizisten Hans-Magnus Enzensberger, «einst eine Art Europäer», und seinen dieses Jahr publizierten Essay «Das sanfte Monster Brüssel» verliert er nur einen Satz: Die Polemik über die EU-Bürokratie liege «auf Braustübl-Niveau». Von ganz anderem Format sei da das kürzlich erschienene Werk des Philosophen Jürgen Habermas mit dem Titel «Zur Verfassung Europas», das «einzige, das einsame Wort eines deutschen Intellektuellen in diesen dramatischen Monaten». Die Grundsorge Habermas‘ auch in diesen Zeiten der Erschütterung bleibt der Mangel an demokratischer Mitbestimmung. Harpprecht: «Die europäische Wirklichkeit verstört ihn durch die wachsende Macht des Europäischen Rates mit seiner, wie der Autor meint, ‚postdemokratischen Herrschaftsausübung‘. Aber sind die Regierungs- und Staatschefs, die sich im Rat versammeln, nicht allesamt ordnungsgemäss demokratisch gewählt worden? Ist es erstaunlich, dass im Chaos der Schuldenkrise – die eine Versündigung der Nationalstaaten, nicht der europäischen Institutionen ist – den beiden potentesten Partnern die Verantwortung auf den Buckel geladen wird? Ohne Frankreich und Deutschland und ihre (mühselige) Kooperation gab und gibt es kein Europa.»
Das alte Problem: Avantgarde und Akzeptanz
Harpprecht spricht sich dafür aus, die EU fürs erste als «Zwittergebilde aus Elementen eines Bundesstaates und eines Staatenbundes» auszuhalten – «Provisorien sind haltbar». Es sei am Europäischen Parlament, für seine vollen Rechte zu kämpfen, zu denen im Übrigen wenig fehle. Und dann spricht Harpprecht etwas aus, das in direktdemokratischen Ohren problematisch klingt, aber deshalb nicht weniger zutreffend ist: Die EU ist ein Projekt der Eliten. Die Menschen im Nachkriegs-Europa «waren mit dem Überleben beschäftigt, und sie liessen die Politik misstrauisch und passiv geschehen. Hätten die Wegbereiter der Union an jeder der entscheidenden Stationen eine Volksabstimmung gefordert: Es gäbe kein Europa. Europa wuchs in der Tat von oben nach unten. Aber das gilt selbst für demokratische Urereignisse wie die Französische Revolution. Die Europäische Union war das Werk einer politischen und wirtschaftlichen Elite. Die demokratische Legitimation vollzog sich in nationalen Wahlen und danach, eher gemächlich, mit der Gründung und Stärkung des Europäischen Parlaments. Die Vereinigung des Kontinents entliess uns niemals aus der Spannung zwischen dem Willen der Avantgarde und der Akzeptanz durch das Volk.»
Diese Akzeptanz ist neben und nach der Schuldenkrise in der Tat die andere und nächste grosse Herausforderung der EU. Niemand kann behaupten, die Union sei fertig gebaut, sie habe ihre endgültige Struktur gefunden; es ist ein offenes System, Veränderungen Richtung mehr Demokratie sind möglich und nötig. Die EU kann nur dann erfolgreich sein, wenn die europäische Integration auch von den Bürgerinnen und Bürgern mitgetragen wird. Mit gleicher Dringlichkeit wie an der Lösung der Schuldenkrise ist deshalb an der Demokratisierung der EU zu arbeiten. Die Schwierigkeit dabei: Der Weg zu mehr demokratischer Mitbestimmung darf nicht über eine Renationalisierung der Politik in den Mitgliedstaaten und eine Schwächung der europäischen Institutionen führen. Sonst könnte das gesamte Integrationswerk in sich zusammenfallen.
Sündenfall Ungarn
Dass die EU bereits erhebliche Schwächen bei der Durchsetzung rechtsstaatlicher und demokratischer Mindeststandards an den Tag legt, zeigt das Beispiel Ungarn. Seit dem Wahlsieg der Fidesz-Partei im Mai 2010 setzt Ministerpräsident Viktor Orban alles daran, die ungarische Gesellschaft nationalkonservativ umzugestalten. Er schreckt dabei nicht davor zurück, demokratische Grundsätze über Bord zu werfen. Die Medien werden an die kurze Leine genommen, die Justiz, das Verfassungsgericht und andere demokratische Kontrollorgane werden entmachtet, politische Gegner bei Bedarf verhaftet.
Doch die EU hat zur schrittweisen Abschaffung der Demokratie in einem ihrer Mitgliedstaaten bisher weitgehend geschwiegen. Das Europäische Parlament kritisierte zwar die auf Anfang 2012 in Kraft tretende, nationalistisch durchtränkte Verfassung vehement. Doch das war auch schon alles. Vor elf Jahren, als Jörg Haiders rechtspopulistische FPÖ an der österreichischen Regierung beteiligt wurde, schauten die EU-Staaten noch genau hin und reagierten mit einem Boykott. Verglichen mit dem heutigen Ungarn war die damalige Lage in Österreich noch deutlich harmloser. Doch offensichtlich ist Brüssel mit der Bewältigung der Euro- und Schuldenkrise derart beschäftigt, dass man sich nicht auch noch den Fall Ungarn aufbürden möchte. Dabei hätte die EU neben politischen Mitteln auch gerichtliche Hebel, um die gefährdeten Grundrechte in einem Mitgliedstaat zu sichern.
Jedenfalls sind das Abdriften Ungarns in einen rechtsautoritären Staat und die damit verbundene antidemokratische Ansteckungsgefahr die grösseren Gefahren für die europäische Integration als die teils hochstilisierten Demokratiedefizite innerhalb der EU-Institutionen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine