Kommentar
Die FDP, die Liberalen und Wir
Christliche und linke Parteien verlangen mit einer Volksinitiative die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer. Erwartet werden Einnahmen von 3 Milliarden Franken. 2 Milliarden Franken sollen in die AHV fliessen, eine Milliarde an die Kantone. Die kantonalen Erbschafts- und Schenkungssteuern (insgesamt ca. 800 Millionen Franken) würden im Gegenzug wegfallen.
Die Erbschaftssteuer ist nicht nur ein christliches und linkes, sondern auch ein urliberales Anliegen. Sie müsste also ganz im Sinne der FDP sein. Denn mit der Erbschaftssteuer wird nicht Leistung besteuert, sondern pures Glück.
Geburtsprivilegien wurden mit der Französischen Revolution abgeschafft. Der Liberalismus sieht alle Menschen als von Geburt an gleich und frei. Die Vererbung von Grossvermögen unterläuft dieses Prinzip, denn mit ihnen wird auch Macht weitervererbt und angereichert. Von den 300 reichsten Schweizern ist die Hälfte durch Erbschaften reich geworden. Mittlerweile besitzen 3 Prozent der privaten Steuerpflichtigen gleich viel wie die restlichen 97 Prozent. Es droht eine «Re-Feudalisierung» der Schweiz, ein Rückfall ins vorvorletzte Jahrhundert.
Geerbter Reichtum widerspricht der Chancengleichheit
Unter einer Konzentration von Reichtum leidet nicht nur die Chancengleichheit und die Demokratie, sondern auch unsere Leistungsgesellschaft. Studien zeigen, dass sich Länder mit hoher Ungleichheit schlechter entwickeln als Länder mit weniger Ungleichheit. Noch weniger Gleichheit als in der Schweiz gibt es nur noch in Singapur und Namibia. Singapur ist wie die Schweiz eine Oase für Steuerfluchtgelder, und der Druck auf solche Steueroasen wächst – und zwar zu recht. Haben wir eigentlich noch die richtige Geschäftsstrategie?
Das Mantra der Geldaristokraten und ihrer neoliberalen Günstlinge lautet, Freiheit werde immer nur vom Staat bedroht. Davon, dass auch private Macht die Freiheit bedroht, und dass der Staat die Freiheit von uns weniger Mächtigen überhaupt erst ermöglicht, ist nie die Rede. Der Staat soll nicht neue Steuern erheben, sondern noch mehr sparen, heisst es. Gespart werden soll bei der «aufgeblähten Sozialindustrie», den «Scheininvaliden», beim «aus den Fugen geratenen Erziehungswesen» und bei den «Scheinasylanten» sowieso. Dass dort auch Missstände herrschen können, sei nicht in Abrede gestellt. Auffällig aber ist, dass Sparübungen so oft auf Kosten der Armen, der Kranken, der Kinder oder der Flüchtlinge gehen sollen, also bei den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft ansetzen.
Offensichtlich genügen einfachste sprachliche Manöver, um unser Gewissen zu beruhigen, wenn es einmal mehr die Schwächeren treffen soll. Wir machen nämlich gerne mit, denn es befreit nicht nur die Mächtigen von uns Schwachen, sondern auch und gerade uns selbst, wenn wir gegen noch Schwächere losgelassen werden. Wovon?
Radikales Umdenken ist angesagt
Darüber wird viel, aber oft zu wenig radikal nachgedacht. Eine in der Denktradition Heideggers liegende Herangehensweise könnte weiterhelfen. Gegen Schwache kann man erst vorgehen, wenn man sie verachtet. Man muss zuerst lernen, in ihnen (wenn auch nicht ebenbürtige, so doch) egoistische Konkurrenten zu sehen. Als Faule, Kriminelle oder Profiteure erscheinen Schwache als solche, die sich schon selbst zu helfen wissen. Weil Schwache so zugleich als Starke erscheinen, bedürfen sie nicht unseres Mitgefühls, welches Schwache in unseren Augen nicht nur aufrichtet, sondern uns im selben Zuge – und hier liegt der Hund wohl begraben – immer auch unser eigenes, existentielles Schwach-Sein offenbart.
Denn erst mitfühlend erkennen wir, was wir normalerweise gar nicht wahrnehmen und wahrnehmen wollen: Dass und inwieweit unserem Handeln das stetige Bemühen zugrunde liegt, grösser und stärker zu erscheinen, als wir sind. Mitfühlend kann man die hoffnungslose Vergeblichkeit, die fatalen Folgen für andere und uns selbst, die enorme, Wirklichkeit erzeugende Tragweite und die tiefe seelische Ursache dieses Bemühens nicht mehr verdrängen, da im Mitfühlen oder Mitleiden gerade das Gegenteil, nämlich ein Zulassen von Bewusstsein, zum Ausdruck kommt. Erst mit diesem Zulassen von Bewusstsein erkennen wir Menschen als wesentlich Gleiche und Freie. Wir erkennen, dass Menschen am je eigenen Dasein auf eine wesentlich gleiche Weise leiden, gleich ins je eigene Leben freigesetzt wurden und dem je eigenen, unentrinnbaren Schicksal gleich ausgeliefert sind. Wir erkennen uns in einem existentiellen Sinne als Verlierer.
Um uns selbst nicht als Verlierer sehen zu müssen, machen wir andere zu Verlierern. Das wirkt befreiend, aber genau dadurch werden wir nicht nur unfrei, sondern letztlich auch beziehungsunfähig. Mächtige machen sich nur unsere eigene Bereitschaft zur Selbstüberhöhung zunutze, welche sich aus dem Zusammenspiel von Bewusstsein, halbbewusster Selbsttäuschung darüber, was wir eigentlich ohne weiteres erkennen, und instinktiver Gefahrenabwehr ergibt. Indem sie Feindbilder liefern oder Menschen in bereits vorhandenen Vorurteilen bestärken, sorgen Mächtige dafür, dass Schwache sich gegenseitig gering achten und dadurch selbst in Schach halten.
«nicht nützliche» Fächer sind immens wichtig
Wir müssen endlich lernen, solche Selbsttäuschungsmanöver zu durchschauen – auch im Interesse der Reichen. Denn das Schicksal des Planeten ist auch das Schicksal ihrer Kinder. Umlernen beginnt in der Schule. Die Schule muss unsere Kinder zu einem bewussten Umgang mit dem Leben befähigen, nicht zu einem blinden Konkurrenzkampf. Wahrzunehmen, wo Menschen verführt werden, und weshalb sich Menschen so leicht verführen lassen, will gelernt sein. Der Allgemeinbildung, der Staatsbürgerkunde, der Medienkompetenz, dem Fach «Religionen und Kulturen» und überhaupt den als «nicht nützlich» belächelten geisteswissenschaftlichen Fächern muss eine viel grössere Bedeutung zukommen. Der Philosoph Martin Heidegger sagte einmal, «Wissenschaft denkt nicht». Er meinte damit, dass uns der naturwissenschaftlich-technische Ansatz bei den wirklich entscheidenden Fragen nicht weiterhilft.
Wir müssen umlernen
Umlernen müssen wir aber auch im Alltag. Die Frage, wohin eine wachsende Entsolidarisierung führen kann, betrifft uns alle. Deshalb müssen auch Verteilfragen endlich gestellt werden dürfen, ohne sogleich in die linke Schmuddelecke gestellt zu werden. Verteilfragen lassen sich aufgrund der wachsenden Rohstoffknappheit ohnehin nicht ewig hinausschieben. Mit der Schuldenwirtschaft tun wir aber genau das: Wir verschieben unangenehme Verteilfragen auf die nächsten Generationen.
Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen, heisst es in der Präambel unserer Bundesverfassung, einem Gesellschaftsvertrag, den wir mutigen Liberalen des 19. Jahrhunderts zu verdanken haben. Er ist nur so viel wert, wie wir ihn auch leben. Der FDP fehlen heute die mutigen Liberalen. Dadurch, dass sie den Geist der Aufklärung nicht mehr vorleben, sondern Menschen in ihren Vorurteilen bestärken, machen sich Freisinnige selbst überflüssig.
Den heutigen, real existierenden Liberalen geht es offenbar nur darum, Menschen klein und abhängig zu halten. Unsere Angst vor dem Arbeitsplatzverlust kommt ihnen dabei wie gewohnt gelegen: «Mit der Erbschaftssteuer wollen die Linken Ihr Portemonnaie plündern und zerstören dabei Unternehmen und Arbeitsplätze», heisst es in ihrem Parteiblatt. Mit solchen und ähnlich hohlen Phrasen können sie aber gegen eine weitaus «bessere» Konkurrenz im rechten Lager nicht punkten. Dafür sind halt doch noch zu liberal.
Frage zum Schluss und am Rande: Entspricht «Ihr» Portemonnaie schon den Vorstellungen «Ihrer» FDP? Dann herzlichen Glückwunsch und willkommen im Club! Für uns Nicht-Mehrfach-Millionäre stellt sich hingegen die Frage: Wessen Interessen vertritt diese Partei eigentlich noch? Denn Erbschaften unter zwei Millionen Franken sollen ja steuerfrei bleiben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Matthias Bertschinger ist Jurist, Mitglied der Grünen und Gemeinderat für die FDP in Nunningen/SO.
Losgelöst von der – zumindest in Teilen – berechtigten Kritik an der Haltung der FDP und der zutreffenden Kritik an der Partei, wie sie sich aktuell präsentiert, stosse ich mich daran, dass ausgerechnet der Antisemit, Anti-Liberale und Nazi-Sympathisant Martin Heidegger zur Untermauerung der Analyse herangezogen wird. Darum meine Frage zum Schluss und am Rande: Lässt das tief blicken – oder ist das nur Ausdruck einer mangelnden Sensibilität gerade den «nicht nützlichen» Geisteswissenschaften gegenüber?
@Michael Gisiger: Wagner war auch kein menschliches Vorbild. Lässt es also auch tief blicken oder ist es nur Ausdruck mangelnder Sensibilität, wenn man seine Musik als grossartig bezeichnet?
(mail@matthiasbertschinger.ch)
An sich sehr schöner Artikel. Problematisch ist, dass die Erbschaftssteuer ohne Relativierung als liberal kategorisiert wird. Und auch dass, in genau diese Richtung zielend, behauptet wird, «Geburtenprivilegien […] mit der Französischen Revolution abgeschafft» worden seien. Entgegen Hrn. Bertschiners impliziten Aussage, gehört es auch zu einem liberalen Verständnis, dass man sein eigenes (versteuertes) Einkommen nicht nur heute oder morgen ausgeben darf, sondern es auch irgendjemandem, u.a. seinen Nachkommen, schenken/vererben dürfen sollte. Pochte man auf einer uneingeschränkten Abschaffung von «Geburtenprivilegien", müsste man den Eltern wohl die Kinder direkt wegnehmen – wer könnte sonst verhindern, dass ein bestimmtes Elternpaar seinen Kindern einen grösseren oder stärkeren Rucksack mit auf den Lebensweg gibt?
Es mag gute Gründe für eine Erbschaftssteuer geben, diese sind aber wohl hauptsächlich pragmatischer Natur (so ist z.B. die Besteuerung von Vererbungen wohl weniger Arbeitshemmend als die Besteuerung von Einkommen). Diese pragmatischen Gründe dürften ausreichen, um eine Erbschaftssteuer mit mässigem Steuersatz zu rechtfertigen. Gemäss dem ersten Teil seines Textes könnte der Autor aber eine 100%-ige Erbschaftssteuer befürworten, das wäre ja scheinbar so «liberal» und unbestreitbar die einzige Möglichkeit, monetäre ‹Geburtenprivilegien› zu verhindern. Es ist aber wohl nicht nur die Eigensinnigkeit gewisser Schichten, sondern auch der gesunde Menschenverstand, der uns davon abhält, eine solche vollständige Enteignung am Lebensende zu fordern.
@Florian Habermacher: Hält uns der «gesunde» Menschenverstand, der keine vollständige Enteignung am Lebensendende annehmen will, womöglich davon ab, zu erkennen, dass unser Lebensende eine vollständige Enteignung ist?
@Matthias Bertschinger: Solange wenigstens eine parzielle Vererbung der Ersparnisse an die Hinterbliebenen erlaubt ist, braucht man diesbezüglich nicht von einer vollständigen Enteignung zu sprechen: Die Menschen sind typischerweise froh, wenn sie ihre Ersparnisse ihren eigenen Nachkommen hinterlassen können; es macht für sie einen Unterschied, ob sie die Welt ohne Ersparnisse verlassen (resp. ob ihr Gut vom Staat konfisziert wird), oder ob sie ihren Nahen etwas hinterlassen können.