Der neoliberalen Ideologie auf den Zahn gefühlt
Man kennt das Phänomen seit Jahren, und es funktioniert bis heute: Wenn der SVP-Übervater Christoph Blocher ein Thema setzt, dann ist es ein Thema für das ganze Land; selbst dann, wenn die Vorwürfe – und um solche geht es ja meist – nachweislich sachlich und fachlich falsch sind. Paradebeispiel sind die monatelangen gehässigen Angriffe Blochers und seines Kampfblattes «Weltwoche» gegen die Nationalbank wegen «Falschmünzerei» und «Verscherbelung von Volksvermögen» im vergangenen Jahr. Wirtschaftsprofessoren und Wirtschaftsjournalisten sind auf die abstrusen Vorwürfe eingetreten, die «Weltwoche» wurde Themenführerin. Als die Position nicht mehr zu halten war, machten Blocher und Co. plötzlich eine Kehrtwende und verkündeten mit einem populistischen Dreh die Wechselkursstrategie der Nationalbank als «Krieg gegen den Euro».
Herrliberg diktiert die Agenda
Was man daraus lernen kann? Selbst wenn die Kampagne sachlich falsch ist und ins Abseits führt: Man wird ernst genommen, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen wird erschüttert und dem politischen Gegner die Agenda aufgezwungen. Der Publizist Rudolf H. Strahm hat diesen Mechanismus in einem Artikel untersucht und kommt zum Schluss, dass die politische Agenda der Schweiz von Herrliberg aus diktiert werde, immer etwa nach dem gleichen Muster: «Wenn jemand oder etwas Blochers Positionen oder Intentionen widerspricht, wird ein Brand gelegt. Darauf blasen die Medien ins Feuer.» Insbesondere natürlich die Blocher-Blätter «Weltwoche» und «Basler Zeitung». «Und rund um Blocher wirkt eine ganze Prätorianergarde von SVP-Nationalräten und Redaktoren als Abwehr- und Angriffstruppe.»
Nachzulesen ist der ganze Artikel im neusten Buch von Strahm mit dem Titel «Kritik aus Liebe zur Schweiz» (Angaben unten). Es ist ein Sammelband von bereits früher – vor allem im «Tages-Anzeiger» und im «Bund», aber teilweise auch in «Infosperber» erschienenen Kolumnen und Analysen zu Politik und Wirtschaft. Doch der Beitrag über das System Blocher wird in diesem Buch erstmals publiziert. Er war ursprünglich im Januar 2012 auf Anregung der NZZ verfasst, dann aber von dieser nicht publiziert worden. Der Text sei «wohl zu kritisch ausgefallen», heisst es im Vorwort.
«Avenir Suisse» betreibt Geschichtsfälschung
Ähnlich ergangen ist es einem zweiten Artikel, der ebenfalls erstmals im Sammelband erscheint. Strahm beschäftigt sich darin kritisch mit dem von der Denkfabrik «Avenir Suisse» herausgegebenen Luxusband «Wirtschaftswunder Schweiz: Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells». In Auftrag gegeben wurde die Rezension durch das «Magazin», sie ist dann aber nicht veröffentlicht worden, offenbar weil es der Redaktion oder dem Herausgeber zu heikel war. Strahm greift darin den konzerngesponserten Club und dessen Buch frontal an. Er wirft den Autoren schlicht Geschichtsklitterung vor. Ganz einfach deshalb, weil sie fast ausschliesslich die grossen multinationalen Konzerne als die Wohlstandsschöpfer der Schweiz beschreiben.
Strahm weist nach, dass weder die Grosskonzerne noch die Banken für den Reichtum der Schweiz ausschlaggebend waren und sind. Alle Banken in der Schweiz hatten vor der Finanzmarktkrise vor 2007 einen Wertschöpfungsteil von lediglich neun Prozent der gesamten Volkswirtschaft, heute sind es noch sieben Prozent. Selbst wenn man noch Versicherungen, Pensionskassen, Vermögensverwalter mit rund fünf Prozent dazu zähle, bringe es der Finanzsektor auf maximal 14 Prozent des Bruttoinlandprodukts. «Neun Zehntel des Reichtums der Schweiz werden vom Nichtbankensektor generiert.»
99,7 Prozent der Firmen bleiben unerwähnt
Die einäugige Konzerngeschichtsschreibung verliere kein Wort über die kleinen und mittleren Betriebe. Zwei Drittel der Arbeitsplätze, gut die Hälfte des Bruttoinlandprodukts und über 70 Prozent aller Lehrstellen gehen auf das Konto der KMU, die 99,7 Prozent der Firmen in der Schweiz ausmachen. Der Schlüssel der starken internationalen Konkurrenzfähigkeit des Landes «liegt in der Präzisionsarbeit, in massgeschneiderten Lösungen statt Massenproduktion, in Nischenspezialitäten statt Standardware, in stets neu entwickelten und rasch umgesetzten Technologien». Dies wiederum ist nur möglich dank des dualen Berufsbildungssystems und der ausgebauten höheren Berufs- und Weiterbildung. Auf dieses «technische Anwendungskönnen», das praxisorientierte «Prozesswissen» kommt es entscheidend an.
Das erfolgreiche Schweizer Berufsbildungssystem sei den Autoren des Wirtschaftswunderbuches gerade einmal neun Zeilen wert: «Diese Ignoranz der berufspraktischen Intelligenz und diese Geringschätzung des Faktors Arbeitskraft ist eigentlich das Ärgerlichste an der Konzern-Geschichtsfälschung», schreibt Strahm. Ebenso vergeblich suche der Leser und die Leserin nach einer weiteren historischen Konstante des schweizerischen Wirtschaftsmodells: soziale Stabilität, Sozialpartnerschaft, sozialer Ausgleich.
Geschichten aus dem Alltag
Diese klare Sprache ist das Markenzeichen aller Beiträge dieses Sammelbandes. Rudolf H. Strahm richtet sich an eine breite Leserschaft, doch beachtet werden seine Texte als die eines politischen Schwergewichts auch in den Chefetagen. Besonders faszinierend bei allen im Buch versammelten Kolumnen und Analysen: Sie sind gut geerdet und holen die Leserschaft in einer heiklen Befindlichkeit ab, sie geben Antworten auf kollektive Erfahrungen und drehen sich immer wieder um das Thema, wie die Schweiz als eines der globalisiertesten Länder der Welt mit ebendieser Globalisierung umgeht. Seine Texte gehen meist von konkreten Alltagserfahrungen aus. Sie sind leicht verständlich, häufig auch in einfache Geschichten verpackt. Sie zeigen auf, wie politische und wirtschaftliche Entscheidungen die eigene kleine Lebenswelt formen. Und sie entlarven Sonntagsliberale als Profiteure von Kartellen, mangelndem Wettbewerb und überhöhten Preisen.
Strahm «konfrontiert die propagierte Ideologie mit der produzierten Wirklichkeit und demontiert so die vorherrschende neoliberale Ökonomie als die Ökonomie der Herrschenden», wie der Historiker Peter Hablützel in seinem aufschlussreichen Nachwort schreibt, eine gelungene Charakterisierung des Autors und eine Hommage an den vielseitigen Chemiker, Ökonomen, früheren SP-Nationalrat, Preisüberwacher, Buchautor – und eben auch begnadeten Kolumnisten Rudolf H. Strahm.
Rudolf H. Strahm: «Kritik aus Liebe zur Schweiz. Kolumnen und Analysen zu Politik und Wirtschaft», (Hrsg. Von Peter Hablützel), Zytglogge Verlag, Bern 2012, 325 Seiten, CHF 29.90
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Der Fokus der Avenir- Eliten ist nicht darauf ausgerichtet wie und mit wecher Wirtschaft 90% der Schweizer arbeiten und Leistung erbringen, sondern wovon die Reichen am meisten (vor Steuern) profitieren.
Dass einflussreiche Schweizer Zeitungen Strahm einladen, Artikel über Blochers Manipulationen oder die Avenir Suisse zu liefern, diese Artikel dann aber nicht publizieren, ist bezeichnend für unsere «Pressefreiheit". Ich bin froh über Müller-Muralts Beitrag, froh auch, dass es den infosperber gibt, und empfehle allen, die eine sachliche Berichterstattung über die Schweiz wünschen, die «Zeit» mit ihrem ausgezeichneten Schweizer Teil.
Die zwei Beispiele von nicht publizierten Strahm-Texten sind bezeichnend. Auch grosse Redaktionen reagieren höseligtöselig (umso mehr, je stärker Anzeigenerlöse und Auflagen schwinden), wenn es um bestimmte Interessen geht.
Es betrifft hier die Tamedia und die NZZ. Das sind die zwei grossen Medienhäuser, die in den nächsten Jahren einen übergrossen Teil der regionalen und überregionalen Print-Berichterstattung inkl. Newsportale bestimmen werden: eine relativ neue Quasi-Monpolistuation über die kaum je diskutiert wird.
Die zwei von Jürg Müller – Muralt erwähnten Beispiele von verhindertem Journalismus sollten daher umso mehr hellhörig machen. Es sind ja nur gerade zwei Beispiele, von denen man mal zufällig erfährt. Alles andere bleibt im Dunkeln von Redaktionen.