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Gilles Marchand: der welsche Radio-Fernsehdirektor und Soziologe als Nachfolger von Roger de Weck © RTS

Der Mann der Überraschungen

Robert Ruoff /  Gilles Marchand soll neuer Generaldirektor der SRG werden. Er hat klare Vorstellungen vom Service public.

Gilles Marchand, Direktor der Radio Télévision Suisse, soll im kommenden Jahr Roger de Weck als Generaldirektor der SRG ablösen. Diese überraschende Meldung ist vor Kurzem durch die Medien gegangen. Die SRG hat die Nachfolgeregelung nicht dementiert. Sie hat nur bestätigt, dass der Verwaltungsrat über die Nachfolge für Roger de Weck gesprochen hat. Der Verwaltungsrat tritt Anfang November wieder zusammen, und dann nochmals kurz vor Weihnachten.

Gilles Marchand war schon früher mal ein Mann der Überraschungen. Seine Wahl zum Direktor der Télévision Suisse Romande TSR im August 2000 kam für ihn selber überraschend. Er hatte für sich keine Kampagne gemacht. Er kam als Mann der Presse. Er kam in einer Zeit, als der französische kommerzielle Kanal TF1 die Position als Nummer 1 auf dem Westschweizer Medienmarkt erobert hatte. Und er kam in einer Phase der organisatorischen Wirren innerhalb der SRG und der Konflikte mit SF DRS (heute SRF) über die Verteilung der kommerziellen Einnahmen zwischen den Sprachregionen. Kurz: er kam als Mann von aussen, von dem sich der Verwaltungsrat von TSR die Lösung tief greifender Probleme erhoffte. Und das in einer Zeit, wie Marchand selber sagt, in der das Westschweizer Fernsehen der SRG noch fast funktionierte wie ein Familienbetrieb, eine geschlossene Gesellschaft. Marchands Wahl war für die Öffentlichkeit wie für die Belegschaft eine Überraschung.

Die Mitarbeitenden von TSR wurden am Tag von Marchands Wahl von einer Stunde zur anderen mit einem Flugblatt zu seiner Vorstellung in ein Studio gerufen, und der Moderator und heutige Sportchef von TSR, Massimo Lorenzi, fragte ihn vor versammelter Belegschaft: «Hast Du nicht ein bisschen Schiss, so ganz ehrlich?» Marchands Antwort: «Offen gestanden: Es ist nicht einfach. Ich kenne das Fernsehen nicht, und ich habe jetzt auch nichts vorbereitet. Aber in sechs Monaten, wenn ich anfange, werde ich bereit sein.» Es war auch damals für die SRG eine stürmische Zeit.

Heute ist Marchand bereit für den nächsten Schritt: den Schritt an die Spitze der SRG. Die Radiotélévision Suisse RTS ist beim Publikum der Romandie fest verankert. Angriffe wie in der Deutschschweiz kennt man dort nicht, mit Ausnahme von ein paar SVP-Vertretern, und RTS hat mit den privaten Service public-Radio- und Fernsehunternehmen im Juni 2016 gemeinsame Leitlinien beschlossen, eine «Charta» für die Zusammenarbeit. Das ist in der Deutschschweiz noch Zukunftsmusik.

Aufruf zur Verständigung

Als Vertreter der Romandie hat Marchand einen klaren Blick für die Enge des Schweizer Medienmarktes. Dieser Markt gibt nicht genug her für die kommerzielle Finanzierung eines umfassenden Fernsehangebots für alle Regionen. Als Publizist mit der Erfahrung aus privaten Medienhäusern weiss er ausserdem, dass die privaten Zeitungsverlage um ihre künftige Existenz kämpfen, In einem «Plädoyer für alle Medien!» auf seinem Blog erklärt er ausdrücklich:«Wir müssen die Strukturprobleme der gedruckten Presse ernst nehmen und bearbeiten.»
Als Verfechter von Qualitäts-Journalismus für die ganze Gesellschaft stellt Marchand mit Sorge fest, dass unter dem wirtschaftlichen Druck der Digitalisierung die Unterscheidung zwischen Nachricht und Kommentar und auch die klare Trennung zwischen publizistischer Information und Werbung sich auflöst. Insgesamt werden sich «der kommerzielle und der journalistische Bereich immer weniger voneinander unterscheiden», sagt er. Er sieht darin eine wachsende Gefahr für das staatsbürgerliche Bewusstsein der nachkommenden Generationen und damit für die Demokratie. Seine Schlussfolgerung für private und für öffentliche Medienhäuser mit Qualitäts-Journalismus ist klar: «Wir sind zur Zusammenarbeit verdammt!»

Medienraum Internet

Denn alle treffen sich zunehmend in dem gemeinsamen Raum des Internet: auf der einen Seite die Veranstalter von Radio und Fernsehen, die auch mit Texten arbeiten, und auf der anderen Seite die Zeitungshäuser, die immer mehr auch bewegtes Bild und Ton einsetzen, wenn sie eine Zukunft haben wollen.

Dabei gilt grundsätzlich: Solange die Schweiz ein Land ist, das die verschiedenen Sprachen und Kulturen zu einer Nation und einem Staat zusammenfasst, muss der Service public in den Medien gewährleisten, dass alle die gleichen Medienangebote erhalten. Und weil der Service public von allen mit Gebühren finanziert wird, muss er auch ein universelles Programm für alle Bedürfnisse bieten: von Bildung, Kultur und Information bis zu Sport und Unterhaltung. Es kann nicht sein, dass nur die Privaten das machen, was kommerziell «rentiert», und der gebührenfinanzierte Service public alles andere. Der Service public macht das Gleiche – auch Unterhaltung –, aber er macht es anders, «autrement». Das ist die Grundhaltung, die Marchand formuliert.

Beitrag zur demokratischen Gesellschaft

Sein ganzes Denken ist vom Gedanken geleitet, dass die Gesellschaft für das Geld und den Auftrag auch Anspruch hat auf einen Rückfluss in die Gesellschaft. In seinem Beitrag zu dem eben erschienenen Buch über «öffentliche Medien und die digitale Gesellschaft»** spricht Marchand daher von der Leistung des Service public für die demokratische Gesellschaft, und er unterstreicht die Unabhängigkeit vom Staat, von den Parteien und den verschiedenen Interessengruppen. Er verlangt vom Service public, dass er nicht nur der politischen Agenda folgt, sondern auch selber Themen setzt für die gesellschaftliche Debatte und die freie Meinungsbildung.

Dieser Service public soll auch, zweitens, das Gefühl der Zusammengehörigkeit fördern, zum Beispiel durch die Gestaltung und die Förderung gemeinsamer Ereignisse. Er soll, drittens, eine wichtige Rolle spielen bei der Produktion regionaler oder nationaler Kulturereignisse. Und bei all dem muss er, viertens, auch die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft integrieren: unterschiedliche Religionen, Eingewanderte, einheimische Minderheiten, sozial Schwache, vielleicht einsame Senioren, Behinderte. Sie alle müssen wie die stärkeren und grösseren Gruppen zu einem selbstverständlichen Teil des Programms werden. Sie dürfen nicht abgeschoben werden auf irgendwelche Programminseln, die wieder nur Isolation erzeugen.
Gilles Marchand, der gelernte Soziologe, denkt offenkundig beim Angebot des Service public immer an das dichte Geflecht der ganzen Gesellschaft und ihrer verschiedenen Gruppierungen.

Die horizontale Organisation

Bei all dem hat er auch eine grundsätzliche Änderung der Beziehung zwischen dem Service public und dem Publikum im Auge. Es geht ihm zunächst ganz einfach darum, das Publikum zu verstehen, seine Interessen und seinen Lebensrhythmus. Wenn das gelingt, kann im zweiten Schritt «Gemeinschaft» entstehen zwischen dem Publikum und dem Service public-Anbieter, und daraus ein neues, passendes Medienangebot.

Der dritte Schritt schliesslich wäre dann schon ein grosser Sprung: es wäre die Beteiligung des Publikums bei der Herstellung von Inhalten. Das verändert die Beziehung grundsätzlich: Hörer und Zuschauer werden für ein bestimmtes Thema und eine bestimmte Zeit zu Programmschaffenden. Journalisten werden zu Betreuern, Coaches, aber auch zu einer neuen Art von Türhütern für die Information. Bei dieser Zusammenarbeit müssen die Journalisten jeden Versuch der Manipulation und Instrumentalisierung abwehren, betont Marchand, und sie müssen die Beiträge aus dem Publikum in den grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang stellen, der sie für das breitere Publikum auch wirklich interessant macht.

Das bedeutet auch für die Organisation des Service public eine tief greifende Verwandlung, weg von der vertikalen, autoritären, linearen Logik des alten Programmschaffens zu einer horizontalen Beziehung zwischen Medienschaffenden und Mediennutzern.

Unternehmerische Leistung für alle

Schliesslich fasst Marchand auch die unternehmerische Leistung des Service public ins Auge. Er will durch die Vergabe von Aufträgen Arbeitsplätze schaffen, steuerliche Leistungen erzeugen und Innovationen in seinem Umfeld anregten.

Kommerzielle Einnahmen des Service public, so Marchand, könnten auch dazu dienen, die Medienszene Schweiz insgesamt zu stärken. Er könnte Kosten für Leistungen übernehmen, die auch den privaten Unternehmen dienen, wie etwa Forschung, Ausbildung, technische Verteilung oder Beiträge für die nationalen Medienagenturen. Und schliesslich könnte der Service public zum Medienwissen und zur Medienausbildung für die ganze Gesellschaft beitragen.

Die offene Frage

Auch im Konzept von Gilles Marchand bleibt im Zentrum der Medienszene Schweiz eine starke SRG mit dem Auftrag des Service public. So bleibt die Frage offen, wie die unabhängige Entwicklung privater Medienhäuser gesichert werden soll, die auch Service-public-Leistungen erbringen. Sie sind nicht nur für eine vielfältige Wirtschaft, sondern auch für eine vielfältige Demokratie von grosser Wichtigkeit.

*Des Racines des Réseaux. Bernard Crettaz, Gilles Marchand, Correspondances médiatiques sur la transmission sociale. Editions à la Carte, Sierre 2012

**Médias Publics et Société Numérique. Herausgegeben von Patrick-Yves Badillo, mit Beiträgen von Dominique Bourgeois (Medienprofessor Universität Fribourg; Ingrid Deltenre (Generaldirektorin der Europäischen Rundfunkunion UER/EBU), und Gilles Marchand. Edition Slatkine, Genève, 2016).


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war bis 2004 Mitarbeiter von SRG/SRF.

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Eine Meinung zu

  • am 7.11.2016 um 21:04 Uhr
    Permalink

    Rechtsbürgerliche, die der SRG am liebsten die Unterhaltung wegstreichen möchten, verheddern sich in einen Widerspruch. Einerseits fordern sie den ökonomischen Umgang mit den Steuergeldern, andrerseits wollen sie der SRG die Einnahmen wegnehmen, die das Anspruchsvolle, das eben den Service Public rechtfertigen sollte, gerade quersubventioniert. Allerdings erwarten die Staatsbürger (die nicht einfach Konsumenten sind) auch, dass bei der SRG die Unterhaltung nicht das Anspruchsvolle verdrängt, wie das etwa unter Natalie Wappler mit dem Umbau von DRS 2 zu SRF 2 Kultur unter dem Vorwand eines breiten Kulturbegriffs geschehen ist.

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