Kommentar
Der konfliktreiche Weg zu den drei Säulen der Altersvorsorge
Am 1. Februar 1940 nahmen die Kassen für die Lohnausfallentschädigung zugunsten der mobilisierten Wehrmänner ihre Tätigkeit auf. Dies war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum System der Sozialversicherungen der Schweiz des 20. Jahrhunderts.
Die für diese Lohnausfallentschädigung erarbeitete Erwerbsersatzordnung (EO) diente später als Modell für die AHV. Deren Kern lag in der zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgeteilten, vom Lohn abgezogenen Beiträgen. Sie bildete aber auch eine Art Leitfaden für das gesamte System der Sozialversicherungen. Das Grundprinzip beruhte auf einem subtilen Zusammengehen von Verbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, dem Bund und den Kantonen. Die diesem System inhärenten Probleme, insbesondere die Frage, wer die Organisation und die Verteilung der zur Verfügung stehenden Gelder kontrolliert oder gar bestimmt, prägen auch heute noch die Auseinandersetzungen über Organisation und Entwicklung der Sozialversicherungen der Schweiz. Dies ist Grund genug, einen kritischen Blick auf die Entstehungsgeschichte der EO zu werfen.
Mühsame Anfänge der Sozialversicherungen
Ideen und Projekte über Sozialversicherungen wurden schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingehend diskutiert. Einen wichtigen Anstoss zu den Debatten über eidgenössische Sozialversicherungen gab in den 1880er Jahren die Einführung im Deutschen Reich – damals das vielbewunderte Vorbild der Deutschschweizer – einer Unfall- und Krankenversicherung, sowie einer Alters- und Invalidenversicherung, mit denen Bismarck das Vordringen der Sozialdemokraten abzublocken versuchte.
In der Schweiz stand dieses Motiv nicht im Vordergrund. Die Sozialdemokratische Partei, erst 1888 gegründet, galt noch nicht als ernst zu nehmende Opposition. Vorstösse für die Einführung von Sozialversicherungen kamen damals aus dem Lager der Linksfreisinnigen, der Demokraten und der Katholisch-Konservativen.
Es ging vorerst nur darum, das Gesetz betreffend Unfall-Haftpflicht der Fabrikbesitzer zu verbessern. In einer Motion schlug nun aber der Basler Linksfreisinnige Wilhelm Klein dem Bundesrat vor, die Einführung einer allgemeinen obligatorischen Arbeiter-Unfallversicherung zu prüfen. Damit begannen die Arbeiten zum neuen, 1890 in der Volksabstimmung angenommenen Verfassungsartikel 34bis, auf dessen Grundlage das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz ausgearbeitet wurde. Dieses von Bundesrat Ludwig Forrer vorgelegte Gesetz fiel 1900 in der Volksabstimmung vorerst durch. Erst 1912 setzte sich eine modifizierte Version durch. Diese beschränkte sich auf ein Teil-Obligatorium in der Unfallversicherung und eine begrenzte Bundesaufsicht über die Krankenkassen.
Ein Hauptargument der Gegner dieser eidgenössischen Kranken- und Unfallversicherung betraf die Kontrolle und Verwaltung der Finanzen. Es sollte unter allen Umständen verhindert werden, dass die privaten Versicherungskassen durch die neue obligatorische Sozialversicherung an Boden verlören. Dieser Grundkonflikt prägt bis heute in grossem Mass die Entwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen der Schweiz.
Sozialpolitisches Versagen im Ersten Weltkrieg
Das Fehlen von effizienten, vom Staat getragenen sozialen Absicherungen kam der Schweiz im Ersten Weltkrieg teuer zu stehen. Als sich schon in den ersten Kriegsjahren die soziale Lage der Bevölkerung rasch verschlechterte, fehlten dem Bund und den Kantonen die Institutionen, um wirkungsvoll eingreifen zu können. So gab es beispielsweise keine Lohnausfallentschädigung für die zum Aktivdienst aufgebotenen Soldaten. Zudem hatte der Bundesrat bei Kriegsausbruch das eben erst modifizierte Fabrikgesetz ausser Kraft gesetzt. Es gab auch keine wirksamen Massnahmen gegen die massive Teuerung. Obwohl der Bundesrat über weitgehende Vollmachten verfügte, nahm das Eidgenössische Fürsorgeamt erst im Dezember 1917 seine Arbeit auf. Bedenklich war zudem, dass die Vertreter der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften nie richtig in diesen zögerlichen Aufbau der sozialen Fürsorge eingebunden wurden.
Die Folgen sind bekannt: Ein Sechstel der Bevölkerung lebte unter der offiziellen Armutsgrenze. So kam es im November 1918 zum Landesstreik, ein Ereignis, das die Geschichte der Schweiz über Jahrzehnte prägte. Diese Krise bewirkte immerhin, dass die Forderungen nach Sozialversicherungen – insbesondere die AHV – sich in der politischen Agenda festsetzten. Doch eine Initiative für die Einführung einer Alters- und Hinterlassenenversicherung, eine der zentralen Forderungen der Streikenden, wurde von den Räten und auch in der Volksabstimmung (1925) verworfen. Die entscheidende Wende erfolgte erst vier Jahrzehnte später, am Ende des Zweiten Weltkrieges. Am 1. Januar 1944 verkündete der freisinnigen Bundesrat Walther Stampfli, die AHV werde nun vorbereitet. 1947 stimmte das Volk mit überwältigendem Mehr der AHV-Vorlage zu.
Der Kampf der privaten Kapitalanleger gegen die AHV
Es war nicht zuletzt zu dieser Wende gekommen, weil man sich einerseits des katastrophalen Sozialkonflikts des Ersten Weltkrieges erinnerte, und weil man anderseits mit der eingangs erwähnten Lohnersatzordnung über ein von den Sozialpartnern akzeptiertes Modell zur Finanzierung der AHV verfügte. Doch die Vertreter der privaten Versicherungen und Kassen gaben ihren Widerstand gegen die «staatliche» AHV nicht auf. Dazu meinte beispielsweise der Präsident des Schweizerischen Handels- und Industrievereins (heute Economiesuisse) im September 1945, die geplante AHV sei die «Vorstufe zur Diktatur», die «zur Verweichlichung, zur Schwächung des Willens zur Selbsthilfe» führe. Doch der tiefere Grund dieser Ablehnung der AHV lag bei der Finanzierung. Die Versicherungen und die Banken befürchteten, dass ein milliardenschwerer AHV-Fonds den privaten Kapitalanlegern zu stark Konkurrenz machen könnte.
Die mit dieser Begründung argumentierenden Kreise meldeten sich nun regelmässig zu Wort. Die Vereinigung der Schweizerischen Lebensversicherungsgesellschaften schuf 1959 eine Studiengruppe, deren Ziel es war, den Ausbau der AHV zu verhindern. Zwecks besserer Zusammenarbeit mit verwandten Partnern entstand zwei Jahre später, 1961, die «Studienkommission für die Probleme der Alters- und Hinterlassenenvorsorge», bestehend aus Vertretern der Vereinigung der Lebensversicherungsgesellschaften, der Wirtschaftsförderung, sowie des Arbeitgeber- und des Gewerbeverbandes. Diese Arbeitsgruppe, deren Verhandlungen der Geheimhaltung unterstanden, verfügte über erhebliche finanzielle Mittel.
Der führende Kopf dieser Kommissionen war Peter Binswanger (1916-1997), von 1941 bis 1956 als Mitarbeiter des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) federführend am AHV-Projekt beteiligt. In Übereinstimmung mit Bundesrat Stampfli war er der Meinung, dass die AHV nur eine Minimalrente zur Verfügung stellen sollte, damit der privaten Altersvorsorge das Feld frei bleibe. 1963, nun im Dienste der genannten Studiengruppen, erklärte Binswanger: «Die Frage des weiteren Ausbaus der AHV ist […] keine soziale Frage mehr, sondern eine politische und weltanschauliche Frage. Wer für einen weiteren Ausbau der AHV eintritt, fördert lediglich eine Entwicklung zum Etatismus und zum Kollektivismus hin.» Die Begriffe «Etatismus und Kollektivismus» bedeuteten in jenen Jahren des Kalten Krieges gleichviel wie «Kommunismus».
3-Säulen-Modell marginalisert die AHV
Schon seit der Einführung der AHV pflegten diese Kreise ein Gegenmodell, das emblematisch so wirksame 3-Säulen-System. Als dann 1969 und 1970 zwei Initiativen – von der PdA, respektive SP – den Ausbau der AHV anvisierten, war der Moment für eine erste Kraftprobe gekommen. Die Gegner dieser Initiativen schlugen als Alternative eine obligatorische zweite Säule vor, die berufliche Altersvorsorge. Deren Ausgestaltung sollte weitgehend dem privaten Versicherungswesen überlassen werden. Die SPS und die Gewerkschaften schlossen sich blauäugig diesem Modell an.
Trotz erheblicher Differenzen in den eigenen Reihen stellte sich eine grosse Mehrheit der bürgerlichen Organisationen hinter das 3-Säulen-Modell. Dieses fand 1972 in Form von Art. 34quater Eingang in die Bundesverfassung. Damit war die Grundlage für eine die privaten Versicherungen begünstigende Entwicklung gelegt. Mit der Vorlage über die berufliche Altersvorsorge von 1982 konnte das neue Modell schliesslich umgesetzt werden. Die Pensionen kamen damit in den Geschäftsbereich der privaten Kassen. Dies bedeutete, um es kurz zu sagen, dass die Erträge der Altersvorsorge nun wesentlich von den Aktienkursen, den Zinserträgen des Finanzmarktes und der Börse abhingen. Die AHV kam gegenüber der zweiten Säule ins Hintertreffen. Zwar gestattete man ihr noch Anpassungen der Renten, doch das ursprüngliche Ziel, die Deckung des Grundbedarfs der Versicherten, wurde aufgegeben.
Negativer Einfluss privater Kapitalinteressen
Damit wären wir wieder bei den Anfängen der Geschichte der eidgenössischen Sozialversicherungen. Wie beim Kranken- und Unfallversicherungsgesetz von 1900, respektive 1912, ging es um die Frage der Kontrolle der von den Vorsorgeeinrichtungen mobilisierten Gelder. Mit der Lohnausfallentschädigung von 1940 und der AHV von 1947 zeichnete sich ein Modell ab, das dem Staat einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Verwaltung der Fonds einräumte. Doch nach der Einführung der beruflichen Altersvorsorge war eine substantielle Entwicklung der AHV abgeblockt. Dafür hatten die unzähligen Pensionskassen nun freie Bahn, um sich mit den anhäufenden Beiträgen der Versicherten in die Finanzmärkte einzuklinken.
Die Eingliederung der Altersvorsorge in die Finanzmärkte hatte oft negative Folgen. In ihrer Suche nach rentablen Anlagen investierten die Pensionskassen beispielsweise massiv in Immobilien. Der Bedarf an möglichst hoher Rendite trieb die Mietzinse in die Höhe und belastete so ausgerechnet die kleinen Rentenbezüger. Doch nicht nur die Altersvorsorge, sondern auch die Krankenversicherungen kamen zusehends unter die Vorherrschaft der privaten Kapitalinteressen. Das in den 1960er Jahren entwickelte Konzept der AHV-Gegner dominiert nun die Politik des Sozialversicherungswesens insgesamt.
Die für die Abstimmungen zur Einführung der zweiten Säule vorgegaukelte rosige Zukunft der Pensionskassen erwies sich spätestens 2015 als Illusion. Bekanntlich bewirkten die niedrigen Zinsen an den Kapitalmärkten eine bedenkliche Verschlechterung des Deckungsgrades der Kassen. Seither spricht man nur noch von unumgänglicher Herabsetzung der Renten bei gleichzeitiger Erhöhung des Alters für den Bezug der Alterspension. Dabei fragt man sich im Stillen, wer noch, ausser den Rentenbezügern, von den angehäuften 875,8 Milliarden Franken – das sind 127 Prozent des Bruttoinlandproduktes! – der 1562 Kassen profitiert.
Literatur: Matthieu Leimgruber, Solidarity without the State? Business and the Shaping of the Swiss Welfare State, 1890-2000, Cambridge University Press, 2008.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der emeritierte Geschichtsprofessor Hans Ulrich Jost studierte in Zürich und Bern Geschichte und Soziologie. Von 1981 bis 2005 lehrte er an der Universität Lausanne Neuere Allgemeine Geschichte und Schweizer Geschichte.
Hallo Herr Jost
Herzlichen Dank für diese tolle geschichtliche Abhandlung. Es fehlt mir ein wenig die Vision, die man aus den geschichtlichen Entwicklung ableiten könnte. Ich denke wir sind uns einig, dass die AHV den Grundbedarf nicht deckt. Eine Erhöhung der Lohnprozente ist jedoch auch nicht zielführend, da in wenigen Jahren 40% für das Grundeinkommen von 60% aufkommen müssten. Auch die AHV hat wie die 2. Säule zuwenig Kapitalerträge geschaffen. Im heutigen System beruhen sowohl Lohnabgaben und Kapitalerträge letztlich auf einem Raubau an Ressourcen. Kapitalerträge entstehen heute primär nicht etwa durch Leistung, sondern schlicht durch die Verknappung von Ressourcen und die sich daraus ergebenden höheren Preise. Ein Beispiel ist die Verknappung des Bodens und der darauf stehenden Wohnungen. Das System können wir nur ändern, in dem wir das System entkoppelt von Kapitalerträgen und Lohnerträgen. Konkret die Abgaben müssen zwingend auf Ressourcen erhoben werden, wie Energie, Boden usw. . Das bringt noch den Vorteil, dass es sich lohnt in die Ressourcen-Entschwendung zu investieren. Abgaben auf Ressourcen können als Ressourcen-Bonus an die Bevölkerung zurück erstattet werden. Dabei ist der Ressourcen-Bonus so hoch an zu setzen, dass er das Grundeinkommen jedes Menschen sicher stellt.
Um uns von einer ausser Kontrolle geratenen Finanzwirtschaft allmählich zu befreien wäre es an der Zeit, ein besseres System für die Altersvorsorge zu finden. Eine theoretische Möglichkeit wäre zum Beispiel eine Auszahlung der Grundrenten in ausreichender Höhe durch die Nationalbank, wodurch gleichzeitig auch das unwürdige System der Ergänzungsleistungen beendet würde. Eine ebenfalls theoretische Geldinflation könnte dadurch vermieden werden, dass die bisherigen Arbeitnehmer- und Arbeitsgeberbeiträge anstatt an die Pensionskassen der SNB zufliessen würden. Statt in die 2. Säule würden Sparer ihre Gelder bei den Banken in nicht-bilanzierten, von der SNB garantierten Konten anlegen. Selbstverständlich müssten alle Vor- und Nachteile einer derartigen Lösung von den entsprechenden Fachleuten beurteilt und mit anschliessendem Referendum dem Volk vorgelegt werden.
Grundsätzlich ist unser Rentensystem genial. Wer heute in Rente geht hat 40 Jahre in die 2. Säule einbezahlt. Aber vom Kapital hat er dank Arbeitgeberbeitrag und Steuerersparnis nur etwa 35-40% selber bezahlt. Die PK ist ein Vertrag zwischen mir und meiner Firma. Meine private PK hat dank hochrendablen Immobilien 116% und zahlt immer noch 6.7%. Wenn die Börse weiter so boomt, werden wieder hohe Gewinne generiert. Im Gegensatz zur Generation vor mir bezahle Einkommens- Bundes- Mehrwert- Alkohol- Benzinsteuer und konsumiere grosszügig. Ich bin ein Teil unseres Wohlstandes und nicht ein Problem.
Soweit ich mich erinnern kann, wurde damals auch eine Diskussion über die Benachteiligung älterer ArbeitnehmerInnen infolge höherer Beiträge bei steigendem Lohn diskutiert. Von bürgerlicher Seite wurde aber eine solche Entwicklung bestritten, das werde man nicht zulassen. – Eine Erinnerung nur, aber genau dazu ist es ja gekommen.
Ich bin immer wieder erstaunt wie sich das 3 Säulen Bild hält. Man stelle sich mal ein Gebäude mit 3 so ungleichen Säulen vor. Aber auch die Altersvorsoge steht sehr schief, übrigens je weniger Einkommen desto schiefer, bei vielen sind es dann bloss 2, und bei vor allem Frauen sogar nur eine. Reden wir also besser von Schichten. Auf dem Gletscher (AHV), kommt dann der Dauerschnee (BVG) und für einige noch etwas Neuschnee (steuerbefreites Sparen).