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Die Schweiz und ihre Abhängigkeiten von den umliegenden Mächten © Hier und Jetzt

Das Buch des Jahres: «Mitten in Europa»

Christian Müller /  Die Geschichte der Schweiz als Geschichte von Verflechtung und Abgrenzung. Eine informative und eindrückliche Faktensammlung.

Wer immer sie hatte: Die Idee, die Geschichte der Schweiz als Geschichte ihrer Verflechtung und Abgrenzung gegenüber dem Umfeld darzustellen, war schlicht genial. Denn die Geschichte der Verflechtungen und Abgrenzungen all der kleinen Länder und Ländereien, die im Verlauf der Jahrhunderte zur Schweiz zusammengewachsen sind, war so bis jetzt noch nicht geschrieben worden.

Das Buch, das auf dieser Idee beruht, ist vom Historiker André Holenstein nun geschrieben. Es ist im Herbst 2014 unter dem Titel «Mitten in Europa» im Verlag Hier und Jetzt in Baden herausgekommen. Eigentlich war es überfällig – und es ist, jetzt auf dem Tisch liegend, in jeder Hinsicht ein Volltreffer. Kein anderes Buch hat – ein persönliches Urteil, ja – im abgelaufenen Jahr mehr Einsicht und Aufklärung liefern können in die Entstehung unserer Schweizer Gegenwart. Man muss es lesen, wenn man «die Schweiz» heute verstehen will. Und es zu lesen ist, trotz 262 Seiten (Bilder und Anmerkungen nicht mitgerechnet) zum Glück keine beschwerliche Arbeit, denn einmal begonnen, liest man es in einem Zuge durch.

Eine Antwort auf die politische Provokation

Keine Frage: Die Art und Weise, wie seit einiger Zeit die Geschichte der Schweiz lautstark auf unsinnige Mythen verkürzt und verfälscht wird, um politische, nationalistische Ziele zu begründen und zu rechtfertigen, war – und ist auch heute – eine Provokation, die von den Wissenschaftlern, die sich beruflich und vollamtlich mit Geschichte befassen, nicht ohne Antwort bleiben durfte und darf.

«Dieses Buch versteht sich – auch – als historischer Kommentar zu den europapolitischen Debatten der Politikerinnen und Politiker, Meinungsmacher und Medien, denen es vielfach an historischer Schärfe mangelt.» Wer diesen Satz auf den ersten Seiten des Buches allerdings so interpretiert, dass dieses Buch einfach als Streitschrift gegen die von der SVP geforderte Abschottung der Schweiz gegenüber der EU geschrieben wurde, sieht sich getäuscht. Gerade dass das Buch nicht nur die Geschichte der Verflechtung, sondern auch die Geschichte der Abgrenzung aufzeichnet, macht es zur reichen Faktensammlung – für alle interessierten Kreise. Das Buch genügt wissenschaftlichen Ansprüchen, auch wenn es flüssig geschrieben ist. Eine Propaganda-Fibel ist es definitiv nicht.

Zum Inhalt in Kürze

Nein, das Buch ist zu reich an Informationen, als dass der Versuch, seinen Inhalt hier in aller Kürze wiederzugeben, Sinn machen könnte. Ein paar wenige Hinweise müssen genügen:

Ein gewichtiger Teil des Buches befasst sich mit der Reisläuferei, mit dem bezahlten Kriegsdienst von Tausenden von Männern aus den alten Orten für die umliegenden Grossmächte, insbesondere für Frankreich – und natürlich mit den aus der Reisläuferei heraus entstandenen Abhängigkeiten. Dieses «Business», wie wir heute sagen würden, war über Jahrhunderte ein gewichtiger Teil der Volkswirtschaften der einzelnen Orte und bestimmte weitestgehend auch die Politik zwischen den einzelnen Republiken. Aber auch die rein kommerziellen Verflechtungen und Abhängigkeiten werden in dem Buch nicht nur ausführlich, sondern mit vielen Zahlen unterlegt präzise geschildert. Und wie ein roter Faden durch das ganze Buch geht die Schilderung der Streitigkeiten innerhalb des Raumes, der heute die Schweiz ausmacht. Das Partikularinteresse der einzelnen kleinen Republiken war bis zum Jahr 1848 immer deutlich stärker als das gemeinsame Interesse der Verbündeten gegenüber den Grossmächten. Ein «Wir-Gefühl» als Eidgenossenschaft oder gar als Schweiz gab es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts klar nicht.

Heute würde es Korruption genannt

Sehr interessant sind – ein anderes Beispiel – auch die mit Zahlen belegten Darstellungen der Pensionen, die von den Grossmächten an einzelne adelige Familien bezahlt wurden, um diese politisch auf der richtigen Seite zu halten. Es waren keine Einzelfälle und es ging um viel Geld! «Zu den offiziellen Standespensionen traten die Partikular- oder Privatpensionen. Mit diesen mehr oder weniger diskreten, heimlichen Zahlungen an ausgesuchte Politiker und Vertrauensleute honorierten die Mächte besondere Dienste ihrer Klienten (Informationen, Verhalten bei Abstimmungen, politische Interventionen, etc.) und suchten diese näher an sich zu binden oder zumindest politisch zu neutralisieren.» Und: «In der Tat standen nicht wenige Politiker auf den Pensionenlisten mehrerer ausländischer Mächte.»

Und an anderer Stelle wörtlich: «Hinzu kam, dass die aussenpolitische Orientierung der einzelnen Orte keineswegs einheitlich war: Die politischen und kommerziellen Interessen der Innerschweizer lagen seit je im Süden ennet dem Gotthard, Bern und Freiburg schauten nach Westen und rieben sich am Haus Savoyen, die Basler, Schaffhauser und Zürcher waren zum Reich hin orientiert. Als wären die Verhältnisse nicht schon kompliziert genug, spaltete die Glaubensfrage seit den 1520er Jahren die Orte in zwei konfessionelle Lager. Allgemein kritisierten die Gesandten den hohen Kostenaufwand ihrer Mission. Die Pflege diplomatischer Beziehungen zu den Eidgenossen war ein teures Geschäft. Die Käuflichkeit der Eidgenossen war sprichwörtlich. Doch boten selbst pünktliche Zahlungen keine Garantie, dass man von den Orten erhielt, was man von ihnen erwartete.» (S. 143)

Hand aufs Herz: Hat uns unser Lehrer im Geschichtsunterricht auch von diesen Dingen je etwas erzählt? Unsere freiheitsliebenden Vorfahren waren käuflich?

Aus heutiger Sicht war es ganz einfach Korruption – nur war es eben noch nicht ausdrücklich verboten, sich für derartige Dienstleistungen bezahlen zu lassen.

Schon früh gab es die Migration – vor allem die Auswanderung

Selbstverständlich ist auch die Arbeitsmigration in diesem Buch ein Thema, wobei es in der Vergangenheit vor allem um Auswanderung und weniger um Einwanderung ging. Auch hier bietet das Buch viele interessante Zahlen.

Und woran liegt es, dass die Schweiz schon früh zu einem internationalen Finanzplatz wurde? Auch auf diese Fragen finden sich im Buch interessante Informationen, waren es doch vor allem die guten Beziehungen zu den Mächtigen Europas, die zur Ausgabe von Staatsanleihen führte. Die Verflechtung der «Schweiz» mit Europa war eben nicht nur intensiv, sondern auch sehr profitabel.

Parallelen Schweiz / Europäische Union

Sehr interessant ist schliesslich auch das Abschluss-Kapitel, das aufzeigt, wie viele Parallelen bei näherem Hinsehen der Integrationsprozess der Eidgenossenschaft und der Integrationsprozess der Europäischen Union haben. Nicht zuletzt diese Betrachtungen machen das Buch auch für die Leserinnen und Leser in unseren Nachbarländern interessant und lehrreich.

… aber die Mythen bleiben

Heute Freitag, 2. Januar, hält Christoph Blocher in Basel einen Vortrag über die drei historischen Basler Persönlichkeiten Hans Holbein d.J, Johann Rudolf Wettstein und Karl Barth. Johann Rudolf Wettstein? Wer war denn das? Das Inserat für die Veranstaltung weiss es: er «errang die Schweizer Unabhängigkeit

So einfach ist das also. Der Einsatz von Mythen zu politischen Propaganda-Zwecken geht munter weiter. Daran wird auch das Buch von André Holenstein kurzfristig nichts ändern können. Leider.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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2 Meinungen

  • am 2.01.2015 um 13:23 Uhr
    Permalink

    Die Verflechtungen der Schweiz mit ihren Nachbarn sind mannigfaltig, das steht fest, auch ohne weitere historische Geschichtsabrisse! Oder gar Verrrisse? Ich mag jedem Historiker sein Werk gönnen, auch die Subjektivität seines Werkes! Doch sind wir doch ehrlich: im Nachhinein sind wir alle klüger!
    Jüngst kam Harald Fischer-Tiné, Professor für die Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich in der NZZ zu Wort. (NZZ vom 23.12.14) Was wollte er uns mitteilen?
    Die Schweiz war bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine sehr aktive Welthandels-nation! Was sollen nun diese neuen wirtschaftshistorischen Studien beweisen, sollen sie unser bereits früher erfolgreiches Land unter Anklage stellen und seine Erfolge schmälern oder diese gar geringschätzen?
    Das Statut der Neutralität schaffte den Schweizer Wirtschaftsakteuren – frei nach Pierre Bourdieu – symbolisches Kapital, das sich in ökonomisches Kapital ummünzen liess. Damit kann wohl die Frage wieder aufgenommen werden, ob es sich bei der Schweiz doch um eine Nation von „Kriegsgewinnlern“ und „Kolonialisten“ handelte???
    Wollen uns nun die Historiker schuldig sprechen oder uns zumindest ein schlechtes Gewissen einjagen?
    Gehört André Holenstein auch zu dieser Gruppe von Historikern?

  • am 6.01.2015 um 20:28 Uhr
    Permalink

    Danke für die Empfehlung!

    Tipp in der Fülle der Information:
    Kapitel «Sackgassen und tote Winkel im nationalen Geschichtsbild» …. Deutung von Marignano
    Bitte mit der Deutung von Herrn CB vergleichen.
    Was mit Marignano begann war nicht die Neutralität, sondern 300 Jahre französisches Vasallentum.
    Wenn es CB gelingt, das als eigenständige Schweizer Aussenpolitik und de facto Anfang der Neutralität zu deuten, wird er es auch weiter schaffen, das ideologische Vasallentum seiner Partei (wie aller westeuropäischen populistisch-radikal-rechten Parteien) gegenüber den USA als patriotisch zu verkaufen.
    Das Verhältnis USA – rechtsradikale Parteien- Europa für den kalten Krieg haben die HistorikerInnen unterdessen aufgearbeitet (siehe griechische Junta – Gladio – P26 – ….). Nur: diesbezüglich ist der kalte Krieg leider nicht vorbei.

    Werner T. Meyer

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