Bundesrat: Wachstumsstrategie vs. Nachhaltigkeit
Red. Autor Alec Gagneux, Ing. HTL, engagiert sich im Rahmen von Entwicklungsprojekten für faireres Geld, Solarenergie und würdige Familienplanung. Er betreibt die Webseite Fairch.
Seit Jahrzehnten präsentiert uns der Bundesrat fast im gleichen Atemzug die Strategie Nachhaltige Entwicklung, die sich auf die «Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung» der Uno bezieht, und die Wachstumsstrategie. Zwar steht in der Verfassung kein Wort über Wachstum und trotzdem wird am Wachstumskurs stur festgehalten: Die Bürger sollen glauben, es gäbe keine Alternative zu ewigem Wirtschaftswachstum. TINA («There is no alternative») – ist eine beliebte Methode, um etwas durchzuboxen.
Kürzlich lud das Bundesamt für Raumentwicklung erneut zum «Dialog 2030» nach Bern ein. Die «Sustainable Development Goals» SDGs (Nachhaltige Entwicklungsziele) sollten der Bevölkerung näher gebracht und dialogisiert werden.
2015 hatten alle 193 Uno-Staaten die 17 Oberziele und 169 Unterziele unterzeichnet. In diesem grossen Katalog findet praktisch jede/r Entwicklungsinteressierte Themen, die Sinn machen. Zum Beispiel fordern die Ziele 3.7 und 5.6 für alle Menschen Zugriff zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung, inklusive freiwilliger Familienplanung.
Ziel 8 will allerdings, dass wir jedes Jahr mehr Waren produzieren – konsumieren – wegwerfen:
Massenmedien wiederholen mantramässig fast stündlich auf praktisch allen Kanälen, dass Wirtschaftswachstum gut sei. Gut für wen?
Schauen wir uns diese Gegensätze etwas genauer an: SDG-Ziel 8 verlangt «dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum».
1992 definierte die Uno in Rio: «Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, welche weltweit die heutigen Bedürfnisse zu decken vermag, ohne für künftige Generationen die Möglichkeit zu schmälern, ihre eigenen Bedürfnisse zu decken.»
Gemäss dem anerkannten «Global Footprint Network» brauchen heute die rund 8 Milliarden Menschen innerhalb eines Jahres Ressourcen von 1.6 Planeten. Sie zehren also von den Vorräten:
Links die Zahl benötigter Planeten in Grösse der Erde (Q. Global Footprint Network)
Da wir nur die eine Erde haben, konsumieren wir ab 8. August (Earth Overshoot Day) auf Kosten von kommenden Generationen. Dies ist nicht nur unsolidarisch – es führt auch zu kollektivem Selbstmord und ist deshalb das Gegenteil von nachhaltiger Entwicklung, wie sie 1992 definiert wurde.
Heute wird «Nachhaltigkeit» inflationär benutzt: Syngenta redet von «nachhaltiger Landwirtschaft», die UBS hält «wirtschaftliche Nachhaltigkeit für ein zentrales Element». «Zuverlässig, nachhaltig und innovativ» schreibt sich die Axpo auf die Fahne, welche das älteste Atomkraftwerk der Welt betreibt.
Zurück zu den «nachhaltigen Entwicklungszielen» SDG. Beim Unterziel 8.1 wird ein Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum von mindestens 7 Prozent in den am wenigsten entwickelten Ländern verlangt. Wer glaubt, mit einem BIP- Wachstums-Zwang die Lebensqualität von benachteiligten Menschen verbessern zu können, hat nicht verstanden, dass in den meisten Fällen ein forciertes Wachstum bei der marginalisierten Bevölkerung nicht ankommt: Wer im heutigen Wirtschaftssystem kein Geld hat, kann nichts kaufen – unabhängig vom Wachstum der Volkswirtschaft. Wollen wir tatsächlich das Leben von armen/hungernden Menschen verbessern, dann müssen deren Grundbedürfnisse befriedigt werden.
Daraus kann ein BIP-Wachstum entstehen, weil mittels Geld z.B. Hunger reduziert werden kann. Bedürfnisse können aber auch ohne BIP-Bewegung gedeckt werden, z.B. durch ein Tausch- oder Subsistenzverhalten. Bleiben die Geldausgaben für den Konsum gleich, bedeutet dies Wachstum 0 (null). Nur wenn wir jedes Jahr mehr Geld ausgeben als im Jahr zuvor, wächst das Bruttoinlandprodukt BIP. Wird ewiges Wachstum diktiert – und dies tut Ziel 8 – dann muss jedes Jahr mehr Geld ausgegeben werden.
Kein Wort über Reduktion des Überkonsums
Wird Wachstum forciert, provoziert man damit mehr Energieverbrauch – also auch mehr Naturzerstörung. Die Entwicklungsziele müssten also Massnahmen gegen Überkonsum – noch besser: gegen Überproduktion verlangen. Dies sucht man im SDG-Dokument allerdings vergebens.
«Überkonsum» wird oft moralisierend im Zusammenhang mit endloser Gier der Menschen thematisiert. Warum aber braucht es denn ein jährliches Werbebudget von rund 500 Milliarden? Seit Jahren schon produziert die Industrie zu viel – und die Werbung versucht dieses Zuviel aggressiv bzw. heimtückisch an das Kind, an die Frau und an den Mann zu bringen. Das «Mehr-Schneller-Weiter» wird zum «Wahnsinn der Normalität» (Arno Gruen).
Bei den Milleniumszielen im Jahr 2000 wurde die «Halbierung der extremen Armut» ausgerufen. Dass diese «Agenda 2015» scheitern musste, erstaunt nicht: Die extreme Armut kann nur abnehmen, wenn auch der extreme Reichtum schmilzt. Doch die extreme Kluft zwischen Arm und Reich wächst jedes Jahr. Dies kann mit keiner Agenda geändert werden, welche einseitig ist und die Hauptursachen von Ausbeutung und Naturzerstörung verdrängt.
Dauerwachstum endet in immer mehr Kriegen
Wer auf einer endlichen Erde dauerhaftes, breitenwirksames, nachhaltiges Wachstum durchsetzen will (Ziel 8), kommt an Kriegen nicht vorbei. Wer für Frieden ist, setzt sich primär gegen erzwungenes Wachstum ein. Gegen Wachstum ist nichts einzuwenden, solange es Grundbedürfnisse befriedigt. Wenn aber Wachstum – wie in Deutschland – mit einem «WirtschaftsWachstumsBeschleunigungsGesetz» willkürlich durchgeboxt wird, dann nimmt unnötiges Leiden durch Kriegsmaterialexporte, Kriege, Zerstörung, Ausbeutung etc. zu. Diese unnötige Gewalt schädigt die Natur und damit uns alle.
Durch massive Werbung und finanzielle Anreize erzwungenes Wachstum führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Armut, weil dieses Wachstum fast überall mit einer Erhöhung der (öffentlichen) Schuldenlast einhergeht.
Welche Entwicklung wollen wir? Diese überlebenswichtige Frage für heute, morgen und übermorgen wird vor lauter eindimensionaler Wachstumsanbetung verdrängt. Da hilft es auch nicht, wenn von «grünem», «qualitativem» oder eben von «nachhaltigem» Wachstum geschwatzt wird. Leute, die so reden, verteidigen das BIP-bezogene ewige Wachstum – sie klammern sich an eine Messgrösse, die das Geldausgeben misst – egal für wofür.
In einer Demokratie sollte darüber diskutiert und entschieden werden können, welche Entwicklung wir wollen. Bhutan könnte uns weiterhelfen. Seit Jahren hat sich Bhutan vom BIP verabschiedet und konzentriert sich auf das Bruttonationalglück (BNG). Die Bevölkerung wird periodisch befragt, welche glücksfördernden Bedürfnisse sie hat. Das BIP interessiert hier kaum – wohl aber die Erhaltung der Lebensgrundlagen wie Wälder, saubere Gewässer, gesunde Lebensmittel – Lebensqualität. Dass in Bhutan auf Werbung verzichtet wird, hilft sicher mit, die Lebensqualität zu fördern. Manchmal steigt dabei das BIP und manchmal schrumpft es – ganz den Bedürfnissen der Menschen entsprechend.
Die Schweiz sollte sich ebenfalls qualitativ entwickeln und sich gegen dogmatisch-zerstörerische TINAs («There is no alternative») wehren, die uns zu ewigem Wachstum zwingen wollen. Schädliche Entwicklungsziele wie die Ziele 8 und 8.1 der SDG sind abzulehnen, gleich wie die Wachstumspolitik 2016 – 2019 eines Bundesrates, für den Artikel 2 unserer Bundesverfassung («Zweck der Eidgenossenschaft») nur eine Phrase zu sein scheint: «Die Eidgenossenschaft setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ich war auch am Dialog 2030 und gratulierte den Veranstalter für die geglückte Auswahl des Datums des Anlasses. Ich wurde ratlos angeschaut, scheinbar war keinem der Redner aufgefallen, dass Earth Day war und in New York COP21 unterschrieben wurde.
Ich bin einverstanden, dass der Begriff «nachhaltig» zu häufig und missbräuchlich verwendet wird. Zu wenige kennen den Unterschied zwischen starker und schwacher Nachhaltigkeit.
Unsere Verfassung, in der Präambel kurz und prägnant zusammengefasst, verlangt nach einer starken Nachhaltigkeit. Und unter starker Nachhaltigkeit, kann oder muss auch ein negatives Wachstum als nachhaltig gelten.
Dass in den wenig entwickelten Länder die Wirtschaft wachsen wird, wenn wir die Nachhaltigkeitsziele 2030 erreichen wollen ist entsprechend eine logische Folge.
Seit mehr als 30 Jahren gibt es schon Projekte mit bedingungslosen Grundeinkommen und sie alle zeigten, dass damit vor allem in den ärmsten Länder eine Wirtschaft entsteht, die nachhaltiges Wachstum mit sich bringt.
Der Umstieg auf eine grüne Wirtschaft wird denen, die früh und konsequent umsteigen zu Beginn ein Wachstum bescheren, die Dinosaurier werden aussterben. Es wird dann aber irgendwann der Punkt in der industrialisierten Welt erreicht werden, an dem das BIP stagnieren und dann sinken wird.
J. Randers, Mitautor des Berichts «die Grenzen des Wachstums» an den Club of Rome geht davon aus, dass beim Festklammern an das ewige Wachstum dies in der OECD ab 2030 sein wird: 2052.info
Hervorragende Analyse von Alec Gageux. Wer ein Minimum von Statistikkenntnisse verfügt und logisch denken kann, kommt zum gleichen Schluss: Der Wachstumsabsturz kommt in zwei bis vier Jahrzehnten, früher oder später, hier mehr, dort weniger. Konsequenz sind unbewältigbare Armuts- und Versorgungssituationen, hier wie dort. Unvorbereitete Regierungen und Grosskonzerne werden wegen Überforderung handlungsunfähig. Bankrotte am Laufmeter. Das Faustrecht und Extremismus flammen auf. Lange Kriege, Tod und Elend in noch nie da gewesenem Ausmass werden lange Zeit das Los der Menschheit sein. Lesen Sie den Roman «Heißzeit» (Passagen Verlag Wien 2015), und die Enzyklika von Papst Franziskus (2015 LAUDATO SI’ ).
Andreas Speich
alt Forstdirektor von Zürich
Wirtschaftswachstum: Ergebnis, nicht Ziel der menschlichen Arbeit
Die Messung des Wirtschaftswachstums über das reale BIP/Kopf ist sicher besser als jenes über das absolute reale BIP. Für den Wohlstand der Bevölkerung entscheidend ist aber, wie hoch das Einkommen und die Lebensqualität der Ärmsten und des Mittelstandes sind.
Mehr Freizeit ist heute für viele Leute mehr wert als mehr Einkommen. Das erklärt auch die relativ vielen freiwilligen Frühpensionierungen. Null-Wachstum des BIP/Kopf ist sicher kein eigenständiges Ziel, aber möglicherweise das Ergebnis einer menschlich und umweltmässig vernünftigen Lebensweise, bei der auf „Immer-mehr-Konsum“ verzichtet wird. Mit Romantik hat das gar nichts zu tun, sondern mit Vernunft und Lebensweisheit.
Selbstverständlich nehmen die Verteilungs- und Sozialversicherungsschwierigkeiten mit sinkendem Wirtschaftswachstum zu. Da Änderungen der Lebensmuster aber über mehrere Jahrzehnte und nicht schlagartig verlaufen, sind die nötigen wirtschaftlichen und politischen Anpassungen verkraftbar.
Zum zerstörerischen Wirtschaftswachstum gehören auch die Schweizer Kriegsmaterialexporte, die im internationalen Vergleich sehr gross sind. Die Schweiz exportierte pro Kopf der Bevölkerung, gerechnet 2014 und auch 2015, nach den Zahlen des Stockholm International Peace Research Institute SIPRI, nach Israel weltweit am meisten Kriegsmaterial. – Israel 88,8 US Dollar pro Kopf der Bevölkerung, Schweiz 44.5 USD, Russland 38,1 USD, USA 32,7 USD, Frankreich 30,5 USD (Rüstungsexporte 2015 in US Dollar, pro Kopf der Bevölkerung. Zahlen SIPRI)
Unser Land belieferte NATO-Staaten, die 1999 ohne UNO Mandat einen Luftkrieg gegen Jugoslawien führten und später Afghanistan, den Irak, Libyen und jetzt Syrien zusammenbomben laufend mit Waffen. Die Menschen aus Syrien fliehen seit dem bisher erfolglosen Regimewechselkrieg nach dem Libanon, nach Jordanien und nach der Türkei, und auch nach Europa, woher viele der Bomben Granaten kommen die Städte Dörfer und Städte in Schutt und Asche legen.
Laut der offiziellen Statistik des Bundes exportierte die Schweiz von 1975 – 2015 für 17,113 Milliarden Franken Kriegsmaterial. Verkauft wurden diese Rüstungsgüter zu einem grossen Teil an kriegführende Staaten, in Spannungsgebiete, an menschenrechtsverletzende Regimes und an arme Länder in der Dritten Welt, in denen Menschen hungern. In den 17,113 Milliarden Franken sind die besonderen militärischen Güter nicht eingerechnet, die ebenfalls exportiert wurden. (Siehe auch mein Blog http://www.Ifor-mir.ch)
Alex Schneider hat sich zur Berechnung des BSP geäussert und dieses allem Anschein nach als arithmetischen Mittelwert verstanden. BSP-Verteilungen sind in jedem Land der Erde — statistisch gesprochen — keine Normalverteilungen, sondern je nach Land mehr oder weniger schief (z.B. mit wenigen steinreichen Oligarchen und einer bettelarmen Arbeitsklasse). Die BSP-Kennziffer muss als 50% Quantil (siehe Median) ermittelt werden. Das heisst bei welchem Grenzbetrag verdienen Personen der ärmeren Hälfte gerade etwa gleich viel wie jene der reicheren Hälfte.
Mit dieser einfachen Zahl wäre nicht nur die Ökonomie der Volkswirtschaft gekennzeichnet sondern auch die Verteilung der Einkommen international vergleichbar. Ein BSP nach dem arithmetischen Mittel (Durchschnitt) zu berechnen ist ein lapidarer Rechenfehler, denn das arithmetische Mittel drückt ja nur aus, wie viel (genau gleich viel) jede Person verdienen würde, wenn alle Einkommen mit identischen Beträgen unter alle Einwohner verteilt würde. Das wäre ja — sozusagen ein kommunistisches Ideal — aber leider völlig unrealistisch. Dazu kommt, dass das BSP sehr viele Leistungen, die nicht über die Lohntüte abgerechnet werden (z.B. Frauenarbeit im Haushalt) und die lokale Kaufkraft gar nicht berücksichtig,. Würde man das alles richtig machen ergäben sich sehr markante Unterschiede zum irreführenden «Durchschnitt, Englisch mean» BSP/Kopf.
"Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum – ein Widerspruch?» hiess auch die Veranstaltungsreihe der Uni Bern, welche kürzlich ihren Abschluss fand:
http://www.forum.unibe.ch/forumsprojekte/aktuelles_projekt
(Achtung, der Link wird ändern und es gibt keine richtigen Links: selber suchen.)
In vier halbtägigen Schwerpunkten wurde der Widerspruch untersucht – und er entpuppte sich als riesig. Nach einer Einleitung am 16.1. z.B. mit geschichtlichen Aspekten ging es am 16.2. um Ressourcen und am 27.2. um Wirtschaftswachstum, wobei Prof. Aymo Brunetti der Uni Bern mit seinem Vortrag «Warum Wirtschaftswachstum oft eine unverdient schlechte Presse hat» die meiner Meinung nach falsche Lehrmeinung vertrat. Am 19.3. ging es um die politische Rahmensetzung. und am 16.4. um Wege zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Der Vortrag von Irmi Seidl der eidg. Forschungsanstalt WSL zeigte als einziger eindeutig auf, dass unsere Nachkommen entwedereine Postwachstumsgesellschaft haben werden, oder gar keine, die wir ihnen wünschen würden. Der Vortrag von Bruno Oberle ging als einziger auch auf die Rolle des Bevölkerungswachstums ein.
Mir scheint es, dass unser Land wie alle Länder von «Wachstumsfetischisten» geleitet wird, auf allen Ebenen und mit ganz wenig Ausnahmen. Erst wenn unser Geld aufgebraucht oder wertlos ist, werden wir es merken.