Blinder Patriotismus: Parteipolitik im Kleinstaat
David Sieber, Chefredaktor der «Südostschweiz», hat am 31. Juli einen Sonntagskommentar veröffentlicht mit Blick auf den Nationalfeiertag. Am Montag, 1. August, hat sich seine Vorhersage bestätigt: Keiner der grossen und kleineren Parteichefs hat in der offiziellen Rede ein Wort verloren über das grösste menschliche Problem, das uns heute beschäftigen müsste. Nicht der Heimatprediger Christian Levrat, auch nicht der multikulturelle Patriot Ueli Leuenberger, nicht der Anti-Bürokrat Fulvio Pelli, nicht der Mittelsmann Christophe Darbellay und schon gar nicht der Vaterlandsverteidiger Toni Brunner. Frau Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey hat es in irgendeiner Aufzählung wenigstens kurz erwähnt – aber der 1. August diente insgesamt einmal mehr der Nabelschau in einer Luxusprovinz.
Darum ist der Sonntagskommentar bis heute und noch lange gültig, den der Chefredaktor der «Südostschweiz» geschrieben hat unter den Titel:
Der 1. August und der Tellerrand
Von David Sieber
Die Schweiz feiert Geburtstag. Zum 720. Mal. Zu Recht werden unzählige 1.-August-Redner die helvetische Erfolgsstory hochleben lassen. An meist spärlich besuchten Festen wird eifrig Nabelschau beztrieben. Je nach politischer Couleur wird die gelebte Multikulturalität als Fluch oder als Segen hingestellt, wird vor fremden Vögten gewarnt oder die globalisierte Schweiz gepriesen.
Doch kaum jemand wird über den Tellerrand hinausblicken. Dorthin, wo sich derzeit eine Tragödie biblischen Ausmasses abspielt: nach Afrika. Dem unbeschreiblichen Elend am Horn von Afrika müsste die ungeteilte Aufmerksamkeit gelten. Übr elf Millionen Menschen sind vor der Dürrekatastrophe geflohen und vom Hungertod bedroht. Mit Glück schaffen sie es in riesige Flüchtlingslager. Nur um dort weiter zu darben. Zwar ist die internationale Hilfe angelaufen. Doch sie erfolgt zu zögerlich und in unzähligen Fällen zu spät.
Was zu denken geben muss: Diese Katastrophe ist mit Ansage eingetroffen. Und sie hat sehr viel mit dem Verhalten der Industriestaaten zu tun. An erster Stelle steht dabei die Untätigkeit. Der Klimawandel, der im Verdacht steht, noch das letzte bisschen Regen aus Somalia vertrieben zu haben, wird zerredet, während immer mehr CO2 in die Luft gepumpt wird. Der Bürgerkrieg, mit importierten Waffen ausgefochten, wird achselzuckend zur Kenntnis genommen. Ebenso die steigenden Preise für Grundnahrungsmittel, obwohl unser Energiehunger dafür mitverantwortlich ist. Biotreibstoffe, gewonnen auf Land, das den Menschen früher Brot gab, sind eben lukrativer.
Die Mechanismen der Kolonialzeit funktionieren in Afrika noch immer. Die Plünderung des schwarzen Kontinents geht weiter. Die Entwicklungshilfe ist nichts weiter als eine Beruhigungspille, mit der sich die Industriestaaten (und mittlerweile auch Schwellenländer wie China) von ihrem schlechten Gewissen zu entlasten versuchen. Dabei wäre es höchste Zeit, ohne eigennützige Motive zusammen mit der örtlichen Bevölkerung Strukturen zu schaffen, die ein Leben in Würde und mit Perspektiven ermöglichen.
Eine Utopie? Ja, aber das war die Schweiz auch einmal. Hören Sie nur den 1.-August-Rednern zu.
Nachtrag von Robert Ruoff
Zu Siebers Kommentar möchte ich nach einigem Nachdenken nur eines ergänzen. Ich denke, die Hilfe für die Hungernden in Afrika liegt auch in unserem ureigenen Interesse. Vor rund 30 Jahren hat der luxemburgische Aussenminister und EU-Kommissar Gaston Thorn – ein echter Liberaler – im UBS-Ausbildungszentrum auf dem Wolfsberg ein damals noch literarisches Bild gezeichnet: Wie wir eines Tages erwachen und das Mittelmeer voll ist von kleinen Booten mit schwarzen Menschen, die nach Europa übersetzen.
Heute wird dieses Bild Wirklichkeit. Und ich denke: wenn wir heute dort nicht helfen, werden uns morgen auch so schreckliche Einrichtungen wie Frontex und die «Festung Europa» vor dieser Masseneinwanderung nicht mehr helfen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine