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Hände weg: Testfahrt in einem BMW im Jahr 2011. © cc-by-sa-3 BP63Vincent

Automatisiertes Fahren: Überzogene Sicherheitsversprechen

Pascal Sigg /  Hände vom Steuer: Dies erlaubt der Bundesrat ab nächstem Jahr. Ob der Verkehr dadurch sicherer wird, ist aber vorerst fraglich.

Ab 2025 will der Bund Lenkenden von bestimmten Autos erlauben, das Steuer in gewissen Situationen auf bestimmten Strecken loszulassen. Es soll der nächste Schritt Richtung effiziente, vernetzte, und vor allem sichere Zukunft des Strassenverkehrs sein. Darüber haben zum Beispiel die Tamedia-Zeitungen Anfang September berichtet. Im Bundesamt für Strassen (Astra) laufen derzeit die Arbeiten an der entsprechenden Verordnung.

Viel Optimismus

Der Optimismus ist gross. Marcel Salathé, ehemaliger Epidemiologe und neu Leiter eines KI-Forschungszentrums der ETH Lausanne, sagte unlängst der Sonntags-Zeitung: «Selbstfahrende Autos werden die Zahl der Verkehrsunfälle gegen null bringen und so Millionen von Menschenleben retten.»

Auch Astra-Leiter Jürg Röthlisberger sagte in der NZZ: «Dank diesen Systemen wird es auf den Autobahnen spürbar weniger Unfälle geben, was auch zu einer Entlastung führen wird.»

Das Problem: Diese Versprechen gründen bloss auf allgemeinen Annahmen – und nicht etwa auf Wissen über die neue Technik. Das Bundesamt für Strassen etwa schreibt: «Rund 90 Prozent aller Strassenverkehrsunfälle sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. Hauptursachen sind Unaufmerksamkeit, zu schnelles Fahren, Alkoholkonsum et cetera. Diese Fehler macht ein technisches System nicht. Daraus ergibt sich das Potenzial.»

Neue Technologien bergen auch Risiken

Was das Astra nicht schreibt: Die neuen «technischen Systeme» bergen auch neue Risiken. Dies sagt eine der wenigen Studien zum Thema, an welcher das Astra mitwirkte. Eine Analyse einer Beratungsfirma über die Auswirkungen des autonomen Fahrens auf die Strassenverkehrssicherheit kam 2018 zum Schluss, dass mit zunehmender Automatisierung die Sicherheit nicht zwingend steigt.

Vielmehr könnten neu auftretende Unfallursachen sogar zu einer Überkompensation der erzielten Sicherheitsgewinne führen und die Unfallhäufigkeit in solch einem Szenario sogar zunehmen.

Auftraggeber der Studie war der Fonds für Verkehrssicherheit (FVS). Geschäftsführer Andreas Schumacher schreibt Infosperber dazu: «Unserer Einschätzung nach haben die Erkenntnisse von 2018 auch 2024 weitgehend Gültigkeit. Der FVS erkennt die Chancen von Automatisierungsstufe 3 (siehe Kasten unten) an. Wir halten aber fest, dass weitere Forschung notwendig ist, um die potenziellen Sicherheitsrisiken – insbesondere im Bereich der Mensch-Fahrzeug-Interaktion – zu minimieren.»

Vorsichtiger als das Astra äussert sich auch die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU). Sie hält zwar fest, dass «sicherheitsrelevante» Fahrassistenzsysteme wie Notbremsassistent, Geschwindigkeitsassistent oder Müdigkeitswarner die Zahl schwerer Unfälle deutlich senken könnten.

Gleichzeitig sieht die BFU auf Stufe 3 aber auch «deutliche Sicherheitsrisiken». Dies schrieb die Stiftung Anfang Jahr in ihrer Vernehmlassungsantwort zum Entwurf der Verordnung, mit welcher der Bund den rechtlichen Rahmen für automatisiertes Fahren festlegt.

Die Organisation teilt darin die Bedenken des FVS: Im Entwurf würde etwa zu wenig berücksichtigt, dass Lenkende falsch und überfordert auf Aufforderungen zur Übernahme der Kontrolle übers Lenkrad reagieren könnten. «Diese Problematik bleibt bestehen, solange die Fahrzeuglenkenden in Fahrzeugen mit Übernahmeaufforderung bei aktivierten Automatisierungssystemen eine sofortige Übernahmebereitschaft aufrechterhalten müssen. Und sie verschärft sich sogar bei zunehmenden erlaubten Höchstgeschwindigkeiten.»

Das Astra hat verschiedene Forschungsprojekte zum Thema in Auftrag gegeben. Doch erst eines davon über die Anforderungen an Fahrzeuglenkende ist abgeschlossen. Der Bericht zeigt, wie anspruchsvoll das Bedienen der Fahrzeuge auf Stufe 3 bleiben wird. Weil sich ganz neue Situationen ergeben.

Stufe 3: Vorerst beschränkter Nutzen

Wie häufig solche Situationen vorkommen können, zeigen Medienberichte aus Deutschland zum Mercedes Drive Pilot 95. Dies ist eines der Fahrassistenzsysteme, die in der Schweiz voraussichtlich erlaubt würden. Es ermöglicht theoretisch zwar das Fahren auf der Autobahn bis Tempo 95 ohne Hände am Steuer. Doch in der Praxis müssen die Fahrzeuglenkenden immer wieder das Steuer in die Hand nehmen. Ein Tester schreibt: «Das Gefühl des Loslassens und der Entspannung will sich so nicht recht einstellen.»

Beschrieben ist auch, was passiert, wenn man als Lenker nicht auf Aufforderungen reagiert. Ein anderer Tester: «Als wir nach einer Reihe von haptischen und akustischen Signalen (unter anderem rüttelt auch der Gurtstraffer an unserem Oberkörper) nicht reagieren, erkennt der Drive Pilot einen Notfall und dirigiert unser Fahrzeug mit aktivierter Warnblinkanlage auf den Pannenstreifen.» Bei Regen funktioniert das System nicht. Und in der Schweiz dürfte es vorerst nur auf bestimmten Autobahnstrecken eingesetzt werden.

Vorerst beschränkter Nutzen

«Stufe 3 kann eine Entlastung für die Lenkenden darstellen, wird aber zunächst keinen grossen Umschwung einleiten», sagt Markus Hackenfort. Er erforscht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften menschliche Interaktion mit Maschinen und hat sich auch auf automatisiertes Fahren spezialisiert.

Es sei aber schon richtig, dass der Bundesrat jetzt die nächsten Automatisierungsschritte im Strassenverkehr erlaube. Umliegende Länder seien schon weiter als die Schweiz. «Die technologische Entwicklung schreitet voran. Es ist Zeit, dass der Bund auch für Stufe 4 den rechtlichen Rahmen setzt. Nun müssen die Städte und Kantone entscheiden, unter welchen Bedingungen sie automatisiertes Fahren erlauben wollen.»

Doch dies ist nicht so einfach. Einerseits sieht Hackenfort Chancen für bestimmte Anwendungen, etwa Ergänzungen des Bus-Angebots oder bei Taxis für Personen mit Mobilitätseinschränkungen. Andererseits ist aber noch unklar, wie es genau um die Sicherheit steht. Dies ist wichtig. Denn gemäss Befragungen ist besonders das Sicherheitsempfinden entscheidend, ob die teils oder vollständig automatisiert fahrenden Autos akzeptiert würden.

«Wie sich die anderen Verkehrsteilnehmenden verhalten, wird sich erst zeigen, wenn die Fahrzeuge wirklich unterwegs sind. Dann zeigt sich auch, woran wir die objektive Sicherheit der Fahrzeuge messen können. Und wie es um unser subjektives Sicherheitsempfinden steht.»

Verlässliches Datenmaterial wäre gefragt – der Bund will nichts

Dafür dürften Daten zentral sein. Diese stammen derzeit vor allem aus den USA und von den Herstellern. Es gibt bei allen hohen Automationsstufen noch zu wenig Datenmaterial. «Das Gesetz geht in die richtige Richtung, indem es die Hersteller zwingt, Daten zur Verfügung zu stellen. Aber eigentlich müssten auch wir Daten sammeln. So wären wir nicht darauf angewiesen, dass die Hersteller das richtige Zahlenmaterial liefern. Denn da gibt es schlicht einen Interessenskonflikt.»

Anders ausgedrückt: Die Hersteller haben nur ein beschränktes Interesse, Daten zu sicherheitsrelevanten Vorkommnissen wie Unfällen zu liefern. Dies zeigt auch ein Blick in die erste Ausgabe des Verbandsorgans des Branchenverbands SAAM. Darin wird gelobt, dass die Hersteller nicht Bericht über besondere Vorkommnisse erstatten müssen. In der EU ist das anders.

Das Astra schreibt dazu, dass an die Hersteller hohe Sicherheitsanforderungen gestellt würden. Sie müssten umfangreiches Datenmaterial sammeln und ein Managementsystem zertifizieren lassen. «Die Hersteller liefern dem Astra aber keine Daten.»

Die fünf Stufen automatisierten Fahrens

  1. Assistiertes Fahren: Fahrerassistenzsysteme unterstützen die Lenkerinnen und Lenker, übernehmen entweder das Lenken oder Beschleunigen. Sicherheitsrisiko: Die Lenkerinnen und Lenker könnten zu grosses Vertrauen in die Systeme haben und dadurch weniger aufmerksam und sicherheitsorientiert fahren.
  2. Teilautomatisiertes Fahren: Die Systeme übernehmen teilweise das Steuer, indem sie gleichzeitig lenken und beschleunigen. Dabei behalten die Lenkerinnen und Lenker die volle Verantwortung und müssen die Umgebung und das Fahrzeug stets beobachten. Sicherheitsrisiko: Die Lenkerinnen und Lenker überwachen vor allem die Systeme – und fahren immer weniger. Die andauernde, passive Aufmerksamkeit ist eintönig, ermüdend und kann sich negativ auf die Reaktionsfähigkeit auswirken.
  3. Bedingt automatisiertes Fahren: Die Lenkerinnen und Lenker können sich in bestimmten Situationen länger vom Fahrgeschehen abwenden und einer anderen Tätigkeit nachgehen. Sie müssen aber bereit bleiben, jederzeit die Fahraufgabe innerhalb kurzer Zeit wieder zu übernehmen. Sicherheitsrisiko: Den Lenkerinnen und Lenkern bleibt zu wenig Zeit, um in einer heiklen Verkehrssituation die Fahraufgabe wieder zu übernehmen.
  4. Hochautomatisiertes Fahren: Das Fahrzeug fährt innerhalb definierter Bereiche selbstständig und muss in der Lage sein, im Notfall sicher anzuhalten. Die Personen im Wagen werden zu Passagierinnen und Passagieren. Gelangt das Fahrzeug an seine Einsatzgrenzen, muss der Mensch die Fahraufgabe übernehmen. Sicherheitsrisiko: Es treten immer wieder komplexe Verkehrssituationen ein, welche die Systeme überfordern. Wenn die hochautomatisierten Fahrzeuge selbstständig unerwartet und spontan anhalten, kann es zu Konflikten mit anderen Verkehrsteilnehmenden kommen, zum Beispiel mit nachfolgenden Fahrzeugen.
  5. Vollautomatisiertes Fahren: Das Fahrzeug übernimmt zu jeder Zeit und auf allen Strecken alle Fahrfunktionen. Sicherheitsrisiko: Die Interaktion mit Fahrzeugen, die noch nicht vollautomatisiert unterwegs sind, kann zu gefährlichen Verkehrssituationen führen. Auch in der Kommunikation mit Fussgängerinnen und Fussgängern kann es zu Missverständnissen kommen.

Quelle: Beratungsstelle für Unfallverhütung


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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

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