Atomfreie Wege in die Schweizer Energiezukunft
Unter dem Schock der nuklearen Katastrophe in Japan kündigte Energieministerin Doris Leuthard an, sie wolle für die Schweiz ein Szenario ohne neue Atomkraftwerke prüfen lassen. Damit spielt sie auf Zeit. Denn solche Szenarien gibt es bereits in Hülle und Fülle. Geschrieben wurden sie von Kommissionen, Umweltverbänden und – zuletzt im Jahr 2007 – vom Bundesamt für Energie (BfE), dem Leuthard vorsteht.
15 Szenarien ohne neue AKW
Diese vier Jahre alten «Energieperspektiven» des BfE (www.bfe.admin.ch) zeigen insgesamt 21 mögliche Energiewege bis zum Jahr 2035. Nur sechs davon sehen den Bau von neuen Atomkraftwerken vor. 15 der 21 Szenarien gehen davon aus, dass die Schweiz nach der Abschaltung der bestehenden AKW zwischen 2019 (Beznau I) und 2044 (Leibstadt) keine neuen Atommeiler bauen wird.
Die bürgerliche Mehrheit in Bundesrat und Parlament hingegen orientierte sich an der Minderheit der (Atom-)Szenarien: Sie favorisierte bislang eine Politik, die bis zum Jahr 2035 den Bau von einem oder zwei neuen Kernkraftwerken mit je 1600 Megawatt Leistung vorsieht.
In den letzten Monaten hatte das BFE begonnen, die Perspektiven von 2007 zu aktualisieren. Damit wollte und will es dem Bundesrat eine aktuelle Grundlage liefern, um die Gesuche für die Bewilligung von drei neuen Atomkraftwerken in Beznau, Mühleberg und Gösgen zu beurteilen.
Nach der Atomkatastrophe in Japan hat Doris Leuthard diese Bewilligungsverfahren für neue AKW sistiert. Gleichzeitig beauftragt sie das BFE, zusätzlich zu den bisherigen 21 Perspektiven weitere Szenarien auszuarbeiten. Eines dieser neuen Szenarien soll ebenfalls ohne neue AKW auskommen und den Blick bis zum Jahr 2050 öffnen, teilte das BFE auf Anfrage mit. Weitere Rahmenbedingungen – zum Beispiel eine kürzere Laufzeit der alten Atommeiler – seien noch offen.
Vom Stopfen der Stromlücke
Alle bisherigen Perspektiven gehen davon aus, dass die Produktion von Strom in der Schweiz abnehmen wird, wenn die alten AKW in Beznau und Mühleberg ab 2019 stufenweise pensioniert werden. Damit wird sich ab 2020 eine Lücke zwischen Schweizer Stromproduktion (inklusive AKW-Beteiligungen in Frankreich) und inländischem Stromverbrauch öffnen.
Je nach gewählter Politik schwanken die Prognosen über die Grösse dieser Stromlücke im Jahr 2035 zwischen 5 und 22 Milliarden Kilowattstunden (kWh). Zum Vergleich: Pro Jahr verbraucht die Schweiz heute rund 60 Milliarden kWh Strom. Am kleinsten ist diese Lücke, wenn der Bund eine konsequente Energiesparpolitik verordnet, am grössten, falls er den Verbrauch gemäss Trend ungebremst weiter wachsen lässt.
Diese unterschiedlich grossen Lücken, die aus den unterschiedlichen Verbrauchs-Szenarien resultieren, lassen sich auf verschiedene Arten stopfen: Bei grossem Stromverbrauch steht der Neubau von nuklearen und/oder gasbetriebenen Grosskraftwerken im Vordergrund. Beispiel: Um 22 Milliarden kWh Strom zu produzieren, braucht es zwei neue grosse AKW oder ein neues AKW und fünf mittelgrosse Gaskraftwerke.
Bei einer konsequenten Stromspar-Politik, welche die Stromlücken verkleinert, setzen die Szenarien des BfE primär auf die vermehrte Verstromung von erneuerbarer Energie, auf Gaskraftwerke oder Kombinationen von beidem. Das kleinste Produktionsdefizit lässt sich allein mit erneuerbarer Energie plus etwas Importüberschuss decken; dieses Szenario entspricht weitgehend den Wünschen der Umweltverbände.
Alle Produktionsarten haben Vor- und Nachteile:
– Neue Atomkraftwerke sind (laut BFE) relativ billig, aber umstritten, weil sie explodieren können und strahlenden Müll hinterlassen.
– Neue Gaskraftwerke produzieren bei heutigen Gaspreisen ebenfalls billig, lassen sich schnell bauen und stilllegen. Doch sie erhöhen den CO2-Ausstoss, der aus klimapolitischen Gründen an anderer Stelle kompensiert werden muss.
– Neue Wind-, Solar- Biomasse- oder Kleinwasserkraftwerke sind teuer (laut BfE), werden schnell billiger (laut Umweltverbänden), sind ungefährlich und CO2-arm, aber tangieren zum Teil Natur und Landschaft. Zudem fallen Wind- und Solarenergie unregelmässig an, was Reservekraftwerke erfordert.
Unheilige Allianzen
Bundesrat und Parlamentsmehrheit setzten bisher auf eine Politik, die den Stromkonsum stark wachsen lässt. Die daraus folgende grosse Lücke wollten sie zum grösseren Teil mit neuen AKW, zum kleineren Teil mit erneuerbarer Stromproduktion decken. Gaskraftwerke stiessen bislang auf den Widerstand einer unheiligen Allianz aus freisinnigen AKW-Befürwortern und Umweltverbänden. Grüne und Linke hingegen setzen primär auf die Steigerung der Stromeffizienz und den vermehrten Einsatz von erneuerbarer Energie.
Nach der Atomkatastrophe in Japan können sich die bürgerlichen Positionen verändern. Damit erhielten jene Szenarien Auftrieb, welche die «Stromlücke» mit einer konsequenten Stromspar-Politik verringern und den verleibenden Strombedarf primär mit erneuerbarer Energie und vorübergehend allenfalls mit wenigen neuen Gaskraftwerken decken. Die Wege in die Energiezukunft, so zeigen alle Szenarien der letzten Jahrzehn te, sind offen. Welchen Weg die Schweiz gehen will, muss mit Politik entschieden werden. Neue Szenarien schieben politische Entscheidungen lediglich hinaus.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine