«Arena» vor Ort: Alte Probleme vor neuer Kulisse
Verdis «Traviata» in Zürichs Hauptbahnhof war ein Spektakel. Und mehr: es war ein Schauspiel im besten Sinn des Wortes. Mit dem vollen Risiko der Live-Übertragung, mit dem Passanten-Publikum, das zu den Zügen ging und von den Zügen kam und die Überraschung der Schau in vollen Zügen genoss, und mit Darstellerinnen und Darstellern, die ihre Rollen kannten und brillant verkörperten.
All das kann man von der Arena im Zuger Hauptbahnhof nicht sagen. Es war die übliche Aufzeichnung. Die Bürgerinnen und Bürger «aus dem Volk» – woher sonst? – waren weder überrascht noch überraschend sondern sorgsam ausgewählt, und die alten Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller waren die üblichen Politikerinnen und Politiker und üblich war auch die Moderatorin, für einmal konfrontiert mit eben diesen sorgsam ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern «aus dem Volk». Von der angekündigten «Stosszeit» auf dem Bahnhof Zug mit seinem Kommen und Gehen war nichts zu sehen und nichts zu spüren ausser ein paar Lichtern und Hinweisen im Hintergrund. Es war eine Kulisse, die man genau so gut und billiger im Studio hätte inszenieren können.
Und es war nicht einmal ein Spektakel. Jede Sekunde war vorgeplant, jedes Risiko war ausgeschaltet, kurz: die ganze Kulissenschieberei machte die bekannten Schwächen der SF-«Arena» nur noch offenkundiger.
Das Thema und die Kulisse
Ach so, das Thema: «Die 8-Millionen Schweiz – wird es zu eng?»
Und darum also Bahnhof? Ja, doch, weil die Züge im Berufsverkehr überfüllt sind. Das liegt selbstverständlich an der Zuwanderung, dürfen wir annehmen. Es liegt selbstverständlich nicht an den Pendlern, die lieber in Bern oder Basel wohnen, obwohl sie in Zürich arbeiten, oder umgekehrt. Es liegt auch nicht am Präsenzzwang im Büro, obwohl die Informationstechnologie die zwanghafte Bindung an den Arbeitsort für viele Tätigkeiten auflöst. Und es liegt schon gar nicht an der «Hire and Fire»-Mentalität, die nicht nur das Bankwesen durchdrungen hat und immer wieder Tausende im Sinne des Wortes auf die Strasse setzt, oder eben in den Zug, als flexible und mobile Arbeitskraft. Und an den Wohnungspreisen, die Tausende in die Vororte und die Agglomerationen treibt. Und, und und…
Weil also die Züge nach Auffassung der «Arena» und der SVP nicht wegen der selbst gemachten einheimischen Mobilität sondern wegen der Zuwanderung überfüllt sind, findet nun also die «Arena» des Schweizer Farbfernsehens im Bahnhof Zug statt.
Und dann kommt der «eingefleischte Pendler» und Sekundarlehrerstudent Huber über seinen «Überlebenskampf» im Zug zu Wort, sorgsam ausgewählt aus den Vielen, die sich zur Teilnahme gemeldet haben, wie die Moderatorin Sonja Hasler mitteilt. Danach der ebenfalls sorgfältig ausgewählte Zugbegleiter Moser, der sich über die gute Auslastung der SBB freut und bestätigt, dass die SBB an ihre Grenzen stossen. Danach der Kurzauftritt von Jeannine Pilloud, Leiterin Personenverkehr SBB. Sie macht einen kommunikativen Eindruck, verspricht mehr Kapazität «in den nächsten drei, vier Jahren» und wird von einem Bürger aus dem Volk dann auch noch angesprochen auf die Unsauberkeit und die zunehmenden Abfälle in den Zügen – wahrscheinlich wegen der Zuwanderung? – was ihr Gelegenheit gibt, auf das neue Entsorgungsprojekt der SBB hinzuweisen. Danach dürfen die Politiker Müller, Brunner, Fetz ihre Meinung äussern – Pfister hält sich noch zurück -, und das war’s dann. Die sorgsam ausgewählten Bürger, Pendler, Zugbegleiter hatten ihren Dienst getan, genau wie die kompetente Frau Pilloud: Und wurden nicht mehr gesehen…
Neue Bürger, alte Politiker
Und so ging es weiter: Neues Thema, neue Bürger: steigende Überbauung, zunehmender Strassenverkehr, sinkende Lebensqualität oder neue Vielfalt, kulturelle Bereicherung und steigende Lebensfreude – ein Ankick für die alte Politikerrunde, in der Fetz (SP), Müller (FDP), und Pfister (CVP) sich wieder einmal über die wirklichen und die unwirklichen Probleme streiten und Brunner (SVP) aufs Neue die Zuwanderungsinitiative der SVP propagieren durfte. Moderation? – Fehlanzeige.
So springt die «Arena vor Ort» wie die «Arena» im Studio von einem Thema zu anderen, und wenn die sorgfältig ausgewählte Rentnerin Mäder nach einer langen Liste den gewünschten «Arena»-Satz nicht über die Lippen bringt, besorgt das Sonja Hasler für sie: «Sie meinen also, es kommen zu viele Ausländer in die Schweiz?» Ja, selbstverständlich, das meint Frau Weber. Und dann hat die Moderatorin noch «etwas Wichtiges» gehört: dass nämlich der Bundesrat seine Versprechen zur Personenfreizügigkeit nicht gehalten habe. Das wird eine weitere Steilvorlage für den SVP-Präsidenten.
Populistische Vorurteile ohne Erkenntnisgewinn
Dafür lässt Sonja Hasler ein paar andere Aussagen von Frau Mäder unter den Stehtisch fallen, deren Besprechung sich auch gelohnt hätte. Zum Beispiel die Bemerkung, die Schweiz habe doch früher so prächtig funktioniert und deshalb keine ausländischen Arbeitskräfte gebraucht. Also keine Italiener, die vor fünfzig, sechzig Jahren auf dem Bau und in der Uhrenindustrie… und dann keine Portugiesen für die Landwirtschaft… und keine Türken… und keine Tamilen für das Gastgewerbe… und nach dem Fall der Mauer die Osteuropäer für die ungeliebten «niedrigen» Tätigkeiten… und heute die Deutschen… – und immer war die neueste Volksgruppe von Übel und die jeweils vorherige erschien in einem besseren Licht.
Diese Fragestellung ist für die populistische «Arena» nicht zulässig. Sie würde das Thema «Zuwanderung» in einen Zusammenhang stellen: in den Zusammenhang der Geschichte der Einwanderung in die Schweiz. Und in diesem Zusammenhang bricht die ganze aufgeblasene und politisch aufgeheizte Diskussion über «Zuwanderung» in sich zusammen und muss der kühlen Analyse der fremden und der eigenen Interessen weichen, und des Gewinns, den wir trotz aller Probleme noch immer daraus ziehen.
Das verlangte intellektuelle Anstrengung und ergäbe eine andere «Arena». Meinetwegen auch vor Ort, auch wenn dieser Ort nicht viel mehr ist als eine neue Kulisse.
Die ungenutzte Kompetenz der Bürger
Richtig ist hingegen und erhaltenswert, dass die sorgfältig ausgewählten Bürger aus dem Volk sich als sehr wortgewandt erweisen, durchaus reich an Erfahrungen und klar in ihren Positionen. Wenn auch, und das liegt gewiss auch an der sorgsamen Auswahl, allesamt im Rahmen der eingemitteten Bürgerlichkeit, in der sich in unserem Land bekanntlich auch die Linke gut eingerichtet hat. Aber weil die SF-«Arena» nicht einmal auf die Tragfähigkeit dieser wohlanständigen Kompetenz vertraut, klammert sie sich im Bahnhof Zug gleichzeitig an die alte, ausgeleierte Form mit den vier altbekannten, auch schon ziemlich verbrauchten Politikerköpfen in der Mitte – und ein Dialog zwischen den ausgewählten «Bürgern aus dem Volk» und den gewählten «Volksvertretern» findet nicht statt.
Es wird im besten Fall ein Wechselspiel zwischen dem «Volk» und seinen «Vertretern», in dem die «Vertreter» wie üblich die Aussagen des «Volkes» als Vorlage benützen, um ihre Parteimeinungen los zu werden.
Und als Bindeglied dient die Mikrofonhalterin Sonja Hasler, die vom «Volk» zu den «Vertretern» eilt und wieder zurück – was soll sie denn anderes tun, wenn man sie wie in anderen Fällen ihren Kollegen Urs Wiedmer in diese Rolle des technischen Hilfspersonals schiebt?
Die beflissen unwirksame Moderation
Aber vielleicht hat die «Arena»-Redaktion gar keine klare Vorstellung von der Rolle einer Moderatorin, eines Moderators? Wie kann es sonst geschehen, dass eine erfahrene Diskussionsleiterin sich immer wieder das Heft aus der Hand nehmen lässt, bis kurz vor dem Chaos total – und sich dann nur noch mit den Interventionsformen einer hilflosen Oberlehrerin zu helfen weiss: «Jetzt rede ich» oder: «So, jetzt ist Schluss…» Und dann rettet sie sich zum «Volk» – nachdem sie von Alpha-Tieren wie Philipp Müller, Toni Brunner und Anita Fetz schlicht überfahren wurde. (Gerhard Pfister hörte über lange Strecken schweigend zu und erweckte so den Eindruck, etwas zu sagen, wenn er sprach.)
Vielleicht wünscht sich die «Arena»-Redaktion auch gar keine Führungskompetenz von einer Diskussionsleitung. Vielleicht reicht es ihr, wenn die Moderation die populär-populistischen Schlagworte transportiert, ohne kritisch auszuwählen und beliebige Statements – aus welcher Ecke auch immer – auf ihren Tatsachengehalt hin zu befragen, und wo es not tut, Fakten klar zu stellen – «fact check» nennen es die Amerikaner.
Und vielleicht will die «Arena»-Redaktion gar keine selbstbewusste, emanzipierte Moderation. Vielleicht behagt es ihr, wenn die Moderatorin die Bürger aus dem Volk bemuttert und ihre Statements mit der Bemerkung an die PolitikerInnen weiter leitet: «Sie sind aufgefordert, das umzusetzen!» – Eine Binsenwahrheit für einen demokratischen «Volksvertreter». Die mittlerweile ernsthafte Frage in der Schweiz wäre, ob und wie die PolitikerInnen Volkswillen wirklich «umsetzen» wollen.
Aber das braucht Zeit und Fokussierung auf ein klar zugeschnittenes, eingegrenztes Thema. «Reduce to the max», heisst das Erfolgsrezept.
Von einem Thema zum anderen
Statt dessen springt die «Arena vor Ort» genau so wie die «Arena» im Studio von einem Thema zum anderen: Verkehr, Infrastruktur, Freizügigkeitsabkommen, Herkunft der Zugewanderten, Notwendigkeit des Wachstums – und so wird über alles geredet und über nichts wirklich gesprochen. Das Thema der Sendung geistert irgendwo im Hintergrund herum und muss geradezu ins Zentrum der Diskussion gezwungen werden.
Vielleicht ist «Zuwanderung» auch gar kein Hauptthema. Vielleicht ist «Zuwanderung» vor allem ein Thema, weil es die SVP und das Schweizer Farbfernsehen auf ihre Weise zum Thema aufblasen. Es brauchte in der «Arena vor Ort» die pensionierte Buchhalterin Junod, die zehn Minuten vor Schluss der Sendung daran erinnerte, dass die «8-Millionen-Schweiz» ziemlich problemlos auch zehn Millionen Einwohner verkraften könnte, wenn wir das nur halbwegs intelligent gestalten: ein Thema für eine, zwei, drei, viele fokussierte «Arena»-Sendungen mit ein paar klugen und ein paar praxis-erfahrenen Menschen und, wenn’s denn sein muss, mit einem oder zwei PolitikerInnen. Und mit ein paar vielleicht nicht so sorgsam ausgewählten Menschen aus der Internet-Generation, die vielleicht ein paar neue Fragen stellen oder alte Fragen auf neue Weise. Und die der herrschenden Panikmache in der Politik mit einem kreativen Aufbruch in die Zukunft begegnen.
Eine solche Idee bräuchte eine Redaktion, die sich nicht an populistischen Themen und überholten Fernsehformen festhält, sondern die an einer neuen Qualität arbeitet und selber bereit ist, in eine (SF-) Zukunft aufzubrechen, die ausserhalb der «Arena» schon längst begonnen hat.
Die «neue» Form, die alten Schwächen
Aber auch in der «Arena vor Ort» mit ausgewählten Bürgern «aus dem Volk» hatten wieder die alt eingesessenen Politiker das letzte Wort, das wir doch längst schon kennen: Müller von der FDP, Brunner von der SVP, Fetz von der SP und Pfister von der CVP. Was sollen sie auch Neues sagen? Sie müssen so viel reden. Auch und immer wieder in der «Arena».
Die «Arena vor Ort» leidet an den gleichen Schwächen wie die Arena im Studio. Sie ist verfilzt mit der Politik und betreibt eine Konkordanz-Diskussion, an der jede Gross- und Kleinpartei beteiligt sein will und sein soll. Sie ist die Bühne eines Establishments, das sich im Gewand von PolitikerInnen und sogenannten Experten selber darstellt, und auf der das immer gleiche Personal die immer gleichen Argumente auf immer gleiche Weise präsentiert. Und so, wie die «Arena» die Diskussionsrunde immer wieder viel zu gross zusammensetzt – Hauptsache, jede Kleinpartei bekommt einen Zwei-Minuten-Brosamen aus dem 90-Minuten-Kuchen -, so legt sie auch die Thematik immer wieder zu breit an. Mit einer Moderation, die immer wieder zu spät eingreift und dann zu viel unterbricht. Sie ist entweder nicht in der Lage oder nicht willens, auf ihren Fragen zu bestehen und mit einem klaren Erkenntnisziel die Teilnehmenden auf eine politische Diskussion zu verpflichten, die zu einem konkreten Erkenntnisgewinn des Publikums beiträgt.
Die «Arena vor Ort» ist nicht viel mehr als eine Flucht vor den alten Problemen der Sendung an einen neuen Ort. Woraus nur eines folgt: dass sie die alten Probleme mit sich schleppt – und dass sich diese Probleme im Licht der neuen Umgebung noch schärfer zeigen.
Innovation sieht anders aus.
PS: Martha und Cindy, oder: das amerikanische Beispiel
Wie klare Strukturierung und gute Moderation geht, haben wir in den letzten Wochen auf beeindruckende Weise von zwei moderierenden Frauen erfahren, die dominante Männchen an die Leine nehmen mussten: Martha Raddatz in der Vizepräsidenten-Debatte zwischen Joe Biden und Paul Ryan, und Candy Crowley in der Präsidenten-Debatte zwischen Barack Obama und Mitt Romney.
Raddatz und Crowley waren sehr schnell die unbestrittenen Chefinnen im Ring, weil ihre Fachkompetenz unbestreitbar ist und weil sie ihre Moderationskompetenz meisterhaft ins Spiel brachten, ganz und gar im Dienst der Sache und des Publikums und – im Fall von Crowleys «town hall meeting» mit Romney und Obama – im Dienste der fragenden «Bürger aus dem Volk».
Sie haben – kurz – nachgefragt, sie haben Fakten geprüft, sie haben gesteuert.
Crowley und Raddatz mussten sich nicht immer wieder mühsam durchsetzen – «jetzt ist Schluss!» -, sondern sie haben ihre Führungsaufgabe mit selbstverständlicher professioneller Kompetenz wahrgenommen. Und auch die machtbewussten Herren Biden und Ryan, Romney und Obama haben sich ihrer Führung sehr schnell gebeugt – nicht zuletzt, weil sie wissen, dass das amerikanische Fernsehvolk und vor allem amerikanische Frauen einen respektlosen Umgang von Machos mit Moderatorinnen nicht goutieren. Vielleicht ist das in der Schweiz ja anders?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor war in verschiedenen Funktionenbis 2004 Mitarbeiter von SF und SRG .
Beim lesen des «zerrisses» fällt mir ein gelungener Satz auf, sie sagen :
…» das braucht Zeit und Fokussierung auf ein klar zugeschnittenes, eingegrenztes Thema. «Reduce to the max», heisst das Erfolgsrezept » …
Ich würde sagen, auch beim schreiben sollte man sich daran halten !
Im Übrigen fand ich die Sendung gar nicht so schlecht !
Sie als ehemaliger Fernsehmann wissen doch ganz genau dass das „ad hoc überraschte Publikum“ meist etwas verdattert und unvorbereitet vor sich hin stammelt. Eine Auswahl zu treffen war daher notwendig auch … um die Zuschauer zu Hause beisammen zu halten …
Ich schaue diesen Sch…. schon lange nicht mehr. Somit muss ich mich nur darüber ärgern, dass ich diesen Bruch mit meinen Gebühren zwangsweise mitfinanzieren muss!
Man könnte ja redaktionell mit mehr Info-Einschüben arbeiten, z.B. die eine und andere Grafik einspielen, ein paar harte Facts & Figures nachliefern. Beispiel: Die Niederlande sind fast gleich gross wie die Schweiz, haben aber doppelt so viele Einwohner. Wie machen die das bloss? Die Niederländer ermorden sich jedenfalls gegenseitig wg. Ueberbevölkerung nicht häufiger als es die Schweizer tun. Ihr rechtsnationales Blocher-Pendant Geert Wilders haben sie ausserdem bei den letzten Wahlen vor drei Wochen bös in den Senkel gestellt. Warum schaffen das die Niederländer und die Schweizer nicht? – So irgendwie könnte man in der «Arena» die Fragestellungen etwas spannender gestalten.
Fred Davids Anregungen könnten von der Redaktion mit etwas intellektuellem und sehr geringem finanziellem Aufwand leicht realisiert werden.
Und zu Carmey Bruderer:
Ich bin ganz einverstanden mit der Auswahl einigermassen redegewandter und sachkundiger Bürgerinnen und Bürger. Das sichert Qualität. – Danke also für den Hinweis, der mir Gelegenheit zu dieser Klärung bietet.