Absenz Schweiz
Deutschland luthert. Der 500. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag in Wittenberg wird seit einem Jahrzehnt als «Reformationsdekade» begangen und ist am Auffahrtswochenende beim Evangelischen Kirchentag von Berlin in die Zielgerade eingebogen. Bis zum Endstreich am 31. Oktober werden tausende von Veranstaltungen, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Andachten, Exegesen, «Workshops», Gottesdienste und Besinnungen durchs Land gegangen sein, vieles davon überdacht durch ein zentrales Kuratorium aus den Spitzen von Kirchen und Landesregierungen, mit einem stattlichen Batzen aus der Bundeskasse gefüttert. Die Berührungsangst zwischen Staat und Kirche ist klein.
In Amerika wurden drei grosse deutsche Ausstellungen organisiert, in Deutschland deren vier. Die letzte dieser «nationalen» Lutherleistungsschauen ist derzeit im Berliner Gropiusbau zu sehen. Sie heisst «Luther und die Welt – 500 Jahre Reformation in der Welt» und thematisiert die epochale Bedeutung des Mannes aus Eisleben, der seine Christlichkeit vom Mönchtum zur Sinnenfreude und Selbstreflexion umwandelte. Gezeigt wird vornehmlich die Ausbreitung der lutherischen Ausprägung der Reformation, anhand der Beispiele Schweden («lutherische Grossmacht»), Tansania (ehemals Deutsch-Ostafrika), (Süd)-Korea und USA. Der Rest wird auf kleiner Flamme gehalten.
Als die Schweiz europäischer Schauplatz war
Das ist – wie Ausstellungen es sind – bezeichnend für das Selbstverständnis und die «Botschaft» der Macher, aber es ist auch schade. Gerade das Gebiet der heutigen Schweiz war für den Übergang von «Luther und die Welt» ein wesentlicher Schauplatz. Hier fand die Entdeutschung der Reformation, der Ausgriff auf die französische und angelsächsische Welt statt, sozusagen die Globalisierung des Epochenereignisses. Das kommt im Gropiusbau unter die Räder. Erasmus und das reformatorische Druckzentrum Basel, Zwinglis Bibelübersetzungen, die Leistung von Jean Calvin werden zwar gestreift, aber die «Reformierten» (Anhänger der Zwingli-Doktrin in Süddeutschland und bis heute ein bedeutender Zweig der deutschen evangelischen Kirche) erscheinen als Seitenarme des grossen Stroms, gleichgestellt mit den Evangelikalen, den Täufern, den Siebenten-Tags-Adventisten und auch den «Schwarzenauer Brüdern». Im Buchladen liegt nur ein einziges Werk über Ulrich Zwingli – «das schlechteste», wie ein Schweizer Kenner leicht gereizt bemerkt.
Eidg. Spezialitäten in Wittenberg
Die Korrektur findet in Wittenberg statt, im Schweizer Pavillon «Prophezey» (Architekten: Christ und Gantenbein, Basel) der «Weltausstellung Reformation», die bis September im ganzen Städtchen gezeigt wird. Vier aus weissen Brettern gefräste Herren weisen am Eingang auf die Vielfalt der Reformationen hin: Martin Luther natürlich, dann aber auch Ulrich Zwingli, Jean Calvin und der katholische Bruder Klaus von Flüe, ein auch in Deutschland verehrter Heiliger (Helmut Kohl hielt viel auf ihm), dessen 600. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Man habe «bewusst einen kulturistorischen und keinen konfessionellen oder kirchlichen Ansatz gewählt», um die Schweizer Reformation darzustellen, schreibt der Schweizerische Evangelische Kirchenbund im Faltblatt. «Der … Pavillon reflektiert die Schweiz und fördert das interkulturelle Lernen und Austauschen fundamentaler Werte der europäischen Identität».
Das ist gut gemacht. Hingucker innen ist eine nachgebaute Froschauer-Druckerpresse, auf der Besucher sich eine Seite Zwingli-Bibel drucken können. Der kulturhistorische Inhalt ist in einem Alphabet zusammengestellt, das «Umstände und Konsequenzen» der Reformation in der Schweiz erklärt: Die kirchliche Entscheidfindung unten, aus der sich die politische Gemeindeautonomie entwickelte. Die frühe Einübung von Leben-und-Leben-Lassen, was in der Folge – wir zeichnen grob und lassen zum Beispiel die Schlacht von Kappel aus – die Verwicklung in die grossen Religionskriege verhinderte. Das Schulwesen. Der Religionsfriede, heisst es auf einer der Schautafeln, sei «in der Schweiz kein leeres Wort gewesen». Man könnte es auch so sagen: Aus Rücksicht auf die Vorteile des grösseren Ganzen – der Eidgenossenschaft – verzichtete man darauf, seine religiöse Sache um jeden Preis durchzustieren. Das hat mit den Reformationen in der Schweiz zu tun, aber auch mit Bruder Klaus, der hundert Jahre vorher in dieselbe Richtung wirkte. Wer hier Parallelen zu «Europa» dächte, der läge nicht falsch.
Katholiken mit im Boot
Apropos Bruder Klaus: Die Katholische Kirche («Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz») macht beim Schweizer Auftritt mit und unterstützt das Projekt. Ein Herausstellungsmerkmal: Eine andere solche konkrete Zusammenarbeit zwischen den Konfessionen haben wir in Wittenberg nicht gefunden. Der Pavillon des «house of one» – ein gemeinsames christlich-jüdisch-muslimisches Projekt in Berlin – ist ein leeres Gerüst mit ein paar Broschüren. Von den Juden ist sonst keine Rede, abgesehen von der «Judensau» an der Stadtkirche, die zu entfernen auch die Deutsche Demokratische Republik nicht für nötig gefunden hatte.
Nix Schweizerkreuz – nix Landeswerbung
Die «Prophezey» in Wittenberg zeigt, dass die damalige Eidgenossenschaft eine europäische Szene war – vernetzt, selbstbewusst und eigenständig. Sie meisterte die Erschütterung der Reformation anders als anderswo in Europa, friedlicher. Das wirkt bis heute nach und enthält einen aktuellen politischen Kern. Denn im derzeitigen «clash of civilizations» wird gerne über den aufklärerischen Impetus der Reformation geschrieben, der das Abendland weitergebracht und den Orient zurückgeworfen habe. Kaum ein Kulturkämpfer, der dem Islam nicht seine ausgebliebende Reformation unter die Nase riebe, um den Weg zur besseren Verständigung zu weisen.
Ein Schweizerkreuz ist nirgendwo zu sehen. Wohl wird eine «Partnerschaft» mit der Schweizerischen Botschaft in Berlin verdankt, aber das Bundes-Logo, das gewöhnlich auf Weltausstellungen (die nächste ist in Kasachstan), Fussballturnieren oder Olympischen Spielen geklebt wird, ist nicht präsent. Die Weltausstellung Reformation wird für die «Landeswerbung» nicht genutzt.
Das ist vielleicht auch ganz gut. Denn so geht dem Schweizer Auftritt das Propagandistische und Penetrante ab. Und das Wesentliche vermag er dennoch «herüberzubringen»: Dass religiöse Konflikte und die damit einhergehenden Verschiedenheiten in Kultur und Zivilisation nicht notwendigerweise in Kampf und Krieg enden müssen. Und dass die etwas andere Meisterung der Reformation Teil zur nationalen «Identität» der Schweiz gehört. Dies besonders wird gerne betont, auch offiziell, wenn Schweizer über ihre Tradition des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen reden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Johann Aeschlimann war 2012 bis 2016 Leiter der Kulturabteilung der Schweizerischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Artikel erschien in der Basler Zeitung vom 12. Juni 2017