Ab ins Tessin!
«Da Zurigo viene?», fragt mich der Hüttenwart hoch über dem Valle di Vergeletto. «È come sempre in agosto: Sono tutti in Ticino, gli svizzeri tedeschi.» Auf eine Übersetzung verzichte ich hier absichtlich; der Mann spricht schliesslich eine unserer Landessprachen.
Tatsächlich: Mindestens die halbe Schweiz, macht es den Anschein, verbringt in den Monaten Juli und August zwei oder drei Wochen im Tessin. Wie viele Menschen sind das denn so? Ticino Turismo, die offizielle Tessiner Tourismusagentur, kann keine verlässlichen Zahlen liefern, weil eine Statistik, die Hotelübernachtungen, Parahotellerie, Ferienwohnungen, Zeltplätze und vermutliche Zahl der jeweiligen Tagesausflügler addiert, schlicht nicht existiert. Auch Schweiz Tourismus sieht sich ausserstande, mit konkreten Zahlen weiterzuhelfen. Und nicht einmal auf eine grobe Schätzung mag sich jemand einlassen. Tatsache ist: Die Deutschschweizer kommen im Hochsommer einfach zu Tausenden her – oder besser zu Hunderttausenden. So war das eben schon immer, und vielen Tessinern, erst recht denen, die wirtschaftlich davon profitieren, ist das recht so.
Fraglos wartet unser südlichster Kanton – im idyllisierenden Volksmund «die Sonnenstube der Schweiz» – mit landschaftlichen und kulturellen Attraktionen sonder Zahl auf, von stillen Bergdörfern wie Spruga oder Foroglio bis zum lauten Ascona oder Lugano, vom einsamen Valle Onsernone bis zum hektisch betriebsamen Monte Tamaro, von den liebevoll gepflegten Dorfmuseen bis zum pompösen Kulturzentrum LAC, was für Lugano Arte e Cultura steht.
Auch wenn es in diesem extremen Sommer in der Deutschschweiz mindestens so heiss und fast noch sonniger ist als im Tessin – die Anziehungskraft der «Sonnenstube» schmälert das offenkundig nicht. Auch dieses Jahr sind die Autos mit ausserkantonalen Kennzeichen, verglichen mit denen mit dem einheimischen TI, auf den öffentlichen Parkplätzen in der klaren Überzahl. Und auch vor jedem zweiten Rustico, und sei es noch so abgelegen, steht ein Wagen mit einem ZH, BS, BE, VD, SG, VS, SZ oder was auch immer auf dem Nummernschild. Und dort, wo mal gerade kein Auto steht, befinden sich die Deutschschweizer Feriengäste wohl auf einem Tagesausflug.
Vom grossen Spektakel …
Ein besonderes Spektakel, das allein schon jeden August Tausende herlockt, ist das Locarno Festival. Das gibt es seit jetzt 71 Jahren – und es weist dieses Jahr eine Neuerung auf. Jetzt soll sich das bezahlende Publikum, im Vergleich zur Zahl der Geladenen eh eine Minderheit, so es denn einer Kinovorstellung unbedingt beiwohnen will, neben dem regulären Ticket, der Tageskarte oder der beliebten Dauerkarte zu 330 Franken zusätzlich eine kostenpflichtige Platzreservation besorgen. Das war bislang den bezahlenden Besuchern der stimmungsvollen abendlichen Piazza Grande, auch hier eine Minderheit, vorbehalten. Nur dass die Reservation hier gleich 17 Franken kostet, also nochmals den Preis einer kommunen Kinovorführung, und damit schon fast prohibitiven Charakter hat.
Die Neuerung in den Kinosälen wurde eingeführt, nachdem man die geduldigen Filmfreunde noch letztes Jahr in Scharen anstehen liess, derweil der fragliche Saal ungerührt für kommerzielle Zwecke genutzt wurde und bei offiziellem Filmbeginn gar nicht frei war – dafür dann innert Minuten «ausverkauft».
So viel also zur grossen diesjährigen Innovation am Locarno Festival, das damit möglicherweise zur Unzeit kommt. Denn inzwischen vermeldet man vielerorts einen massiven Rückgang des Kinopublikums; Pessimisten prognostizieren bereits eine Kinokrise. Marco Solari, der operative Präsident des Locarno Festivals und – wenn wir schon beim Bild von der «Sonnenstube» bleiben wollen – im Tessin so etwas wie der Sonnenkönig, kennt das Thema und hat es auch an seinem Festival aufs Programm gesetzt.
Aber das Tessin im Hochsommer besteht zum Glück nicht allein aus dem Locarno Festival. Das Tessin – das sind genauso die malerischen Täler wie das Onsernone oder das Bavona und die abgelegenen Bergdörfer wie Mogno oder Sonogno. Da finden sich wahre Schmuckstücke. Der «Tages-Anzeiger» vom Montag, dem 30. Juli, beschreibt uns gerade eines von ihnen. Man könne es «nur mit einer Luftseilbahn» erreichen, freut sich der Autor – na ja, ausser natürlich zu Fuss, und das erst noch auf mehreren Routen. Nur dass dieses «Montera», wie es der «Tagi» nennt, in Wirklichkeit Mornera heisst und beileibe nicht zur Leventina gehört, der es die Zeitung mindestens im Vorspann des Artikels grosszügig zuordnet.
Das überrascht mich nun nicht wirklich, wenn ich da schnell vom engeren Thema abschweifen darf. Denn dass eine Zeitung, die immer mehr Redaktorinnen und Redaktoren und – ebenso unersetzlich – Korrektorinnen und Korrektoren entlässt, dadurch laufend an Qualität einbüsst, kann man selbst in den Sommerferien im Tessin mitverfolgen. Als ich daselbst am Dienstag, dem 31. Juli, den «Tagi» am Kiosk erstehe, kostet er plötzlich statt der üblichen Fr. 4.20 stolze 4.90. «Ma non è possibile!», entgegne ich dem freundlichen Verkäufer. «Però sì – guarda qui!», erwidert er und hält mir das Blatt mit einem demonstrativen Fingerzeig vor die Nase.
Tatsächlich! «Scusi, signore!» Der Mann hat recht: Da steht klar und deutlich der Preis von Fr. 4.90. Das ist nicht etwa – so mein unfairer vorschneller Verdacht – der schlaue Versuch zu einer Tessiner Mehrwertabschöpfung, sondern trifft auf die komplette Auflage zu. Nachfragen bei Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser und «Tages-Anzeiger»-Chefredaktorin Judith Wittwer bleiben unbeantwortet – möglicherweise verbringen sie gerade ihre Ferien im Tessin. Dafür schwant mir jetzt: Beim «Tages-Anzeiger» weiss man inzwischen nicht einmal mehr, was man in Franken und Rappen kostet – geschweige denn, was man wert ist bzw. wert sein könnte.
… zur Kultur abseits des Touristenstroms
Doch neben der überaus reichen einheimischen Tessiner Kultur und dem mondänen internationalen Filmfestival existiert im Tessin auch eine zugewanderte Kultur, die sich auf lokale Gegebenheiten stützt, ja von ihnen lebt und ohne sie gar nicht da wäre. Im kleinen Dorf Peccia im hintersten Maggiatal, 38 Strassenkilometer von Locarno, betreiben Alex Naef und Almute Grossmann-Naef eine Bildhauerschule, in der alle willkommen sind, Anfänger, Fortgeschrittene und bestandene Künstler. 1984 als kulturelles Wagnis gegründet, hat sich die Scuola di Scultura bestens gehalten und entwickelt und bringt heute jährlich rund 400 Kursteilnehmer für eine oder zwei Wochen ins Tal, die während dieser Zeit in Peccia wohnen und die lokale Gastronomie frequentieren.
Die Schule gehört zwingend hierhin, weil der weisse Marmor, mit dem hier vorwiegend, aber nicht ausschliesslich gearbeitet wird, nur gerade im imposanten Steinbruch oberhalb von Piano di Peccia, in einem Seitental wenige Kilometer hinter Peccia, abgebaut wird. Auch ist die Schule den letzten verbliebenen Einheimischen sehr willkommen, weil sie wirtschaftlichen Mehrwert schafft. «Peccia war in der Schweizer Kunstgeschichte eine Zeitlang so etwas wie das Carrara der Schweiz», sagt Alex Naef und erinnert daran, dass berühmte Künstler wie Hans Aeschbacher und Hans Arp mit Marmor aus Peccia gearbeitet haben.
Die Scuola di Scultura hat sich auch über schwierige Jahre hinweg behauptet, ist für Eingeweihte zu einem Begriff geworden und blüht und gedeiht. Ja, momentan befindet sich in Peccia ein weiteres Projekt, mit der Scuola di Scultura ideell wie personell eng verbunden, im Aufbau: das Centro Internazionale di Scultura.
Das neue Bildhauerzentrum am Dorfeingang befindet sich bereits im Bau. Hierhin will man international bekannte Bildhauer für ein halbes Jahr einladen. Ihnen stehen fünf Werkateliers zur Verfügung, und gleichzeitig können sie ihre Kunst ausstellen und einem interessierten Publikum vorzeigen. Der Unterbringung der Künstler dient die Casa degli Artisti, die sich ebenfalls im Bau befindet und aus mehreren restaurierten und miteinander verbundenen alten Tessiner Häusern bestehen wird. Beide Bauten passen mit ihrem markanten architektonischen Auftritt nahtlos ins stotzige Bergtal. Das Centro Internazionale di Scultura soll 2019 eröffnet werden.
Soll im Jahr 2019 eröffnet werden: Das «Centro Internazionale di Scultura» in Peccia. Foto: Thierry Burgherr, Zug.
Seele, Kopf und Leiter des ambitionierten Projekts ist Guido Magnaguagno, 72, einst Kurator und dann Vizedirektor des Zürcher Kunsthauses, wo er mehrere denkwürdige Ausstellungen kuratierte, später Direktor des Museum Tinguely in Basel und seither freier Ausstellungsmacher. Sein Name und seine Erfahrung bieten Gewähr für die Ernsthaftigkeit und Durchdachtheit des Projekts. «Wohin schon würde ein internationales Bildhauerzentrum besser passen als hierher, gleich um die Ecke von Skulpturenschule und Marmorbruch», sagt Magnaguagno. «Das CIS wird dem sterbenden Tal neues Leben einhauchen.»
Aber so etwas kostet! Die Gemeinde Lavizzara, die Fondazione Vallemaggia und der Kanton Tessin haben ihre Unterstützung zugesagt und bereits stattliche Beträge gesprochen, nicht zuletzt natürlich, weil sie sich vom Projekt einen positiven wirtschaftlichen Effekt für das sich mehr und mehr entvölkernde Tal erhoffen. Und ein paar grossherzige private Gönner liessen sich ebenfalls finden, so an prominenter Stelle ein Paar, das auf einer Informationstafel in Peccia namentlich genannt wird: Annette und Ernst Coninx Kull.
Und damit schliesst sich auf unserer hochsommerlichen Tessiner Tour ein Kreis. Denn Annette und Ernst Coninx Kull gehören zur berühmten Zürcher Familie Coninx, die ihr Vermögen wesentlich mit dem «Tages-Anzeiger» erworben hat, jener Zeitung, die ich auf diesem meinem Tessiner Rundgang schon einmal gewürdigt habe und die heute vor allem mit Personalabbau, Spartick und spürbarer Qualitätseinbusse von sich reden macht – oder auch einmal mit einem 6-Millionen-Bonus für Tamedia-CEO Christoph Tonini.
Himmel, ist die Welt manchmal klein! Aber das Tessin ist und bleibt gross und grossartig! Erst recht, wenn die Hochsommersaison vorbei sein wird.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor war von 1988 bis 2007 Reporter der «SonntagsZeitung» aus dem Hause Tamedia. Heute ist er freier Journalist.