Rückblick: Wie die EU Putin ermutigte
psi. Dies ist ein Gastbeitrag der beiden Forscherinnen Kataryna Wolczuk (Professorin für Osteuropäische Politik) und Rilka Dragneva-Lewers (Professorin für Internationales Recht) an der Uni Birmingham. 2015 erschien von ihnen das Buch Ukraine Between the EU and Russia: The Integration Challenge. Der Artikel wurde erstmals Ende September 2014 von The Conversation publiziert. Dieser Meinungsartikel, der sowohl die EU als auch Russland kritisiert, ist keineswegs repräsentativ für die Vorgeschichte des aktuellen Kriegs. Als Ausschnitt kann er aber immerhin die Komplexität des vorangehenden Konflikts illustrieren.
Die EU und die Handelsbeziehungen zur Ukraine
psi. Bei der Interpretation des Ukraine-Konflikts wird häufig Kritik am Vorgehen der Europäischen Union vorgebracht. Auch Infosperber wies wiederholt darauf hin, dass man von der Ukraine forderte, sich bezüglich der Handelsbeziehungen zwischen Russland und der EU zu entscheiden. Dies trifft auf die Verhandlungen übers Assoziierungsabkommen von 2013 mit dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch zu. Nach dem Scheitern dieser Verhandlungen – welche als Auslöser der Maidan-Proteste verstanden werden – sagte Angela Merkel: «Und die Aufgabe für uns, die EU, wird sein, noch stärker mit Russland zu reden, wie wir aus dem Entweder-Oder, entweder Bindung an Russland oder Bindung an Europa, herauskommen».
Nach Janukowitschs Flucht nach Russland wurden die Verhandlungen unter Petro Poroschenko wieder aufgenommen. Und sie wurden mit Russland am Verhandlungstisch fortgeführt. Das finale Abkommen machte denn auch Zugeständnisse an Russland. Zudem gab Russland auch vor, dieses Abkommen zu akzeptieren. Als es am 1. Januar 2016 aber in Kraft trat, verbot Russland den Import ukrainischer Lebensmittel und sanktionierte damit die Ukraine für das Handelsabkommen mit der EU.
Nur wenige bilaterale Abkommen haben eine so turbulente Geschichte wie das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Ebenfalls wenige hatten derart viele Auswirkungen.
Es war die Weigerung des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, das Abkommen zu unterzeichnen, welche massive Proteste in der Ukraine auslöste und zu seinem Sturz im Februar 2014 führte.
Dies wiederum provozierte die Antwort Russlands: die Annexion der Krim und das Schüren des gewalttätigen Separatismus in der Ostukraine.
Die Ukraine unterzeichnete das Assoziierungsabkommen schliesslich unter Bekräftigung ihrer Unabhängigkeit im Juni 2014. Im Laufe des Sommers verstärkte sich Russlands Widerstand dagegen. Und es gelang Putin, die Ratifizierung des Abkommens bis nach dem Waffenstillstand im September 2014 zu verzögern.
Vor diesem Hintergrund der militärischen Intervention in der Ukraine und der Androhung eines Handelskriegs fanden in der angespannten Zeit zwischen Unterzeichnung und Ratifizierung trilaterale Verhandlungen zwischen der EU, der Ukraine und Russland statt.
Während dieser Verhandlungen stellte Russland weitreichende Forderungen, einschliesslich einer Überarbeitung des bereits unterzeichneten Abkommens. Mit anderen Worten also: Russland ging so weit, Änderungen an den Bedingungen eines bereits unterzeichneten Abkommens eines anderen Landes vorzunehmen. Insbesondere gelang es Russland, einen wichtigen Teil des Abkommens zum Stillstand zu bringen: die von der EU geplante Ausweitung der Handelsbeziehungen zwischen der EU und der Ukraine.
Nein, das tust du nicht!
Der entscheidende Teil des Assoziierungsabkommens sieht eine vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA – Deep and Comprehensive Free Trade Area) vor. Dieser Teil des Abkommens bringt nicht nur Zolländerungen mit sich, sondern auch die Integration der Ukraine in den EU-Binnenmarkt. Beides lehnt Russland seit langem ab und protestiert gegen den möglichen Schaden für seine Wirtschaft.
Damit meint es eindeutig, dass es das im DCFTA enthaltene Verbot einer künftigen ukrainischen Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion ablehnt. Russland stellt diese Union seit langem als praktikable und vorzuziehende Alternative zu einer ukrainischen Integration in die EU dar.
Die festgefahrene Situation konnte schliesslich durch einen Kompromiss gelöst werden. Dabei wurde das Abkommen zwar vom ukrainischen und europäischen Parlament ratifiziert. Aber die Umsetzung der wichtigsten Abschnitte über den Handel wurde aufgrund der «Bedenken Russlands» bis Ende 2015 ausgesetzt.
Es ist bereits absehbar, dass sich dieser Kompromiss als instabil erweist. Denn Russland verschärft nun seine Forderungen nach rechtlichen Überarbeitungen. Zudem folgt es dem Vorgehen der EU, indem es Zölle mit ausgesetzter Anwendung verhängt.
Die Spitze des Eisbergs
Wer genau diesen Kompromiss ausgearbeitet hat und warum, ist noch unklar. EU-Beamte behaupteten, dass die Initiative von den Ukrainern ausging, die über die drohenden russischen Handelsstrafen besorgt waren. Aber es gab auch Druck von Seiten der EU-Mitgliedstaaten, die auf eine «Normalisierung» der Beziehungen zu Russland und ein Ende der kostspieligen Spirale der Wirtschaftssanktionen drängten.
Jedenfalls wurde die Reaktion der EU auf Russlands Forderung nach Mitsprache als Erfolg dargestellt – mit der Begründung, dass die Ratifizierung ohne «ein einziges verändertes Wort» erfolgte.
Wie Elmar Brok, ein langjähriges Mitglied des Europäischen Parlaments, es ausdrückte:
… dieser Prozess [Verhandlungen] ist abgeschlossen. Und die Russen sind Teil davon. Sie waren bei den Verhandlungen dabei. Es tritt alles in Kraft. Es wird nur schrittweise umgesetzt, wie es bei Verträgen oft der Fall ist. Aus rechtlicher Sicht wird der gesamte Vertrag in all seinen Einzelheiten umgesetzt. Es gibt halt oft Übergangsregelungen. Das ist im Geschäftsleben normal.
Seit Beginn der Ukraine-Krise befindet sich die EU unbestreitbar in einer Zwickmühle. Darin versucht sie verzweifelt, Grundsätze, wirtschaftliche Interessen und komplexe Sachzwänge miteinander in Einklang zu bringen. Mit der Entscheidung für diesen jüngsten Kompromiss hat sie jedoch das Schlimmste aus beiden Welten erreicht: eine Kehrtwende mit hohen und weitreichenden potenziellen Kosten ohne eine dauerhafte Lösung für die tiefgreifenden Probleme in der postsowjetischen Region.
Ein verhängnisvoller Präzedenzfall
Russland zu erlauben, die Dynamik der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine in einer Zeit des Konflikts kurzfristig zu diktieren, ist nicht mit einer umfassenden, nachhaltigen Strategie vereinbar.
Egal ob aus einem pragmatischen Kompromiss oder einem taktischen Rückzug geboren: Dies ist eine kurzfristige Lösung, die auf einer Reihe wackeliger Annahmen beruht – mit langfristig weitreichenden Konsequenzen.
Am offensichtlichsten ist, dass es einen gefährlichen Präzedenzfall darstellt, wenn man Russland erlaubt, bilaterale Verhandlungen mit einem anderen Land zu stören. Es ist eine Umkehrung der früheren EU-Position; es hat ein Minenfeld für internationale Juristen geschaffen. Und was noch wichtiger ist: Das Prinzip, mit der Ukraine als unabhängigem Land zu verhandeln, wird dadurch stark untergraben.
Indem sie Russland in ihre Geschäftsbeziehungen einbezieht, hat die EU das Recht Russlands anerkannt, die wesentlichen Bedingungen und Grenzen der Integrationsentscheidungen seiner postsowjetischen Nachbarn zu bestimmen.
Die Auswirkungen dieses Präzedenzfalls auf Russlands andere europäische Nachbarn liegen auf der Hand. Aber er wird auch Folgen für die Beziehungen der EU zu anderen Ländern haben – von potenziellen Mitgliedern wie der Türkei bis hin zu wichtigen Handelspartnern wie China.
Russlands Doppelmoral
Die EU hat auch eine deutliche Doppelmoral Russlands akzeptiert: Während Putin sich darüber beschwerte, dass niemand mit Russland über die möglichen Folgen der DCFTA gesprochen hatte, liess er bequemerweise unerwähnt, dass die Eurasische Zollunion 2010 ohne Konsultation mit der EU und ohne angemessene Übergangsregelungen ins Leben gerufen wurde – was den EU-Unternehmen erheblichen Schaden zufügte.
Jedenfalls sind die «Handelsbedenken» Russlands in mehrfacher Hinsicht unbegründet. Das Problem der «Überschwemmung mit EU-Waren» kann beispielsweise durch die ordnungsgemässe Anwendung der WTO-Ursprungsregeln gelöst werden.
Es ist töricht, wenn die EU solch fragwürdige Bedenken für bare Münze nimmt und hofft, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt ausgeräumt werden können. Die EU konsultiert Russland bereits seit vielen Monaten zu diesem Thema, und 15 weitere Monate der Verhandlungen werden nicht dazu beitragen, das eigentliche Problem zu lösen: Russlands grundsätzliche Ablehnung jeglicher Einflussnahme der EU auf den postsowjetischen Raum.
Die Antwort der EU scheint auf der Annahme zu beruhen, dass ein stabiles Abkommen nur durch die Berücksichtigung und das Entgegenkommen der russischen Präferenzen gesichert werden kann. Die Sicherung des Friedens und die Rettung von Menschenleben ist natürlich ein hehres Ziel, aber der DCFTA-Kompromiss in seiner jetzigen Form wird Russlands Strategie des «hybriden Krieges» nur legitimieren und bestätigen.
Falscher Optimismus
Alles in allem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die EU mit ihrer Zustimmung zu dieser pragmatischen, auf Prinzipien reduzierten Version des Abkommens nachgegeben hat. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Russlands Haltung gegenüber seinen ehemaligen sowjetischen Nachbarn aufgrund dieser Geste der Kompromissbereitschaft plötzlich mehr auf Recht und gemeinsamem Verständnis als auf geopolitischen Interessen beruhen wird.
Nach Jahren der Zurückhaltung gegenüber der Eurasischen Zollunion und Russlands Verhalten in seiner selbst erklärten «Einflusssphäre» hat die EU plötzlich Russlands derzeit bevorzugte Art und Weise, internationale Beziehungen zu führen, akzeptiert und legitimiert. Und dies, obwohl Russlands Vorgehen gegenüber der Ukraine die internationale Ordnung tief erschüttert hat.
Der kriecherische Pragmatismus der EU ist dem ukrainischen Volk nicht entgangen und die vorherrschende Reaktion in den sozialen Medien lautet: «Man hat uns im Stich gelassen». Die Darstellung als «business as usual», die eine Reihe von «Landminen» für künftige Interaktionen zwischen der EU und Russland in der «umkämpften Nachbarschaft» hinterlässt, ist zutiefst beunruhigend. Indem sie die Bedenken Russlands um ungewisser Vorteile Willen akzeptiert, hat sich die EU auf jahrelangen Ärger eingestellt. Russlands Druckmittel müssen konfrontiert werden und dürfen nicht als «business as usual» abgetan werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.