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Demonstrierende in Peru fordern den Rücktritt von Regierungschefin Dina Boluarte, die Auflösung des Kongresses und die Freilassung des inhaftierten Ex-Präsidenten Pedro Castillo. © ARD Tagesschau

Peru ist ausser Rand und Band

Romeo Rey /  Die Unruhen in Peru sind auch Ausdruck des Konflikts zwischen indigener Bevölkerung und weisser Elite. Ein Ende ist nicht absehbar.

Peru wird seit der Amtsenthebung und Verhaftung des linksgerichteten Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember von schweren Unruhen erschüttert. Tausende Peruanerinnen und Peruaner aus ländlichen Regionen des Andenstaats kamen in den vergangenen Wochen zu Fuss oder in Bussen in die Hauptstadt Lima, um gegen die Regierung von Castillos Nachfolgerin Dina Boluarte zu protestieren. Laut Informationen der Tageszeitung «La República» wurden vor allem im Süden des Landes Dutzende von Strassensperren auf wichtigen Routen errichtet. Besonders betroffen sind die touristisch wichtigen Verbindungen um Cusco und Puno.

Romeo Rey
Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von «Tages-Anzeiger» und «Frankfurter Rundschau», fasst die jüngste Entwicklung zusammen.

Bei den anhaltenden Protesten kam es immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, die mit brutalem Einsatz gegen Demonstrierende vorgingen. Seit Beginn der landesweiten Unruhen im Dezember kamen mindestens 50 Menschen ums Leben. Gestützt auf die Berichterstattung von Associated Press hat die argentinische Zeitung «Clarín» eine Chronik der verwirrenden Entwicklung bis zum 19. Januar erstellt.

Nach Bekanntwerden der ersten Todesfälle soll Dina Boluarte der Regierung ihren Rücktritt angeboten haben. Der Vorsitzende des Ministerrats habe sie aber umstimmen können. Am Samstag lehnte das Parlament einen Antrag von Präsidentin Dina Boluarte ab, angesichts der Krise noch in diesem Jahr Neuwahlen durchzuführen. Im vergangenen Monat hatte sich das Parlament bereits mit grosser Mehrheit für vorgezogene Neuwahlen im April 2024 ausgesprochen.

In der Geschichte Lateinamerikas nicht ganz neu, aber doch auffallend ist der Umstand, dass die Unruhen von geografischen und sozialen Randzonen ausgehen und jetzt in Lima – einst Mittelpunkt des spanischen Kolonialreichs im südlichen Amerika – gebündelt mit voller Wucht ausbrechen. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich der Protest der Aufständischen auch gegen die Ausbeutung natürlicher Reichtümer durch transnationale, viel zu niedrig besteuerte ausländische Firmen richtet. Die faulen Früchte des Neoliberalismus der vergangenen drei Jahrzehnte sind mitten in die politische Krise gefallen und haben die Stimmung im 33-Millionen-Volk zusätzlich vergiftet.

Alte Menschen besonders hart von Armut betroffen

Einen anderen Aspekt der zunehmenden Verelendung des Subkontinents – nur einer von vielen – hat die Internationale Arbeitsorganisation ILO der Vereinten Nationen untersucht. Der Bericht stellt fest, dass über ein Drittel der alternden Bevölkerung Lateinamerikas weder eine Pension noch andere Arten von Altersrenten erhält. Diese Menschen sind auf Hilfe von Angehörigen angewiesen, die meistens selber arm sind, oder sie müssen sich mit Almosen durchschlagen. Nebulös bleibt dabei, wie viele Latinos und Latinas eine Rente beziehen, die niemals ausreicht für ein halbwegs würdiges Leben im Alter.

Kommt hinzu: Die neoliberale Wirtschaftspolitik hat die öffentliche Post in vielen Ländern Lateinamerikas wegen mangelnder Gewinnmöglichkeiten auf minimale Dienstleistungen reduziert oder ganz abgeschafft. So müssen Rentner und Rentnerinnen jeden Monat in öffentlichen oder privaten Büros Schlange stehen, um ihr spärliches Guthaben in Empfang zu nehmen. Die ILO empfiehlt den betreffenden Ländern einen reichlich utopischen Zehnpunkte-Plan, um der Misere entgegenzuwirken.

Brasilien: Lula tauscht Top-Militärs aus

Eine gründliche Aufarbeitung des Sturms von Bolsonaro-Horden auf den Regierungssitz, den Kongress und den Obersten Gerichtshof in Brasilien ist in der neusten Ausgabe des «IPG-Journals» zu lesen. Derart explizite Gewaltszenen auf dem «Platz der drei Gewalten» eine Woche nach der Amtsübernahme durch Lula da Silva hätten die Wenigsten erwartet. Nach den Krawallen entliess Präsident Lula den bisherigen Kommandanten des Heeres und ersetzte ihn durch einen neuen Mann. Von ihm wird erwartet, dass er sich der zivilen Obrigkeit ohne Wenn und Aber unterordnen werde. Allerdings: Die Reihe der Generäle mit einem bis vier Sterne ist in Brasilien so lang wie nirgendwo sonst südlich des Rio Grande. Bei vielen muss man davon ausgehen, dass sie sich der Autorität des linksgerichteten Präsidenten nur mit Zähneknirschen fügen.

Expräsident Jair Bolsonaro machte sich vor dem Machtwechsel davon in Richtung USA. Es ist damit zu rechnen, dass er von Florida aus versuchen wird, seine fanatisierte Gefolgschaft als politische Manövriermasse einzusetzen. Wie sein Vorbild Donald Trump behauptet der Wahlverlierer Bolsonaro, die Präsidentschaftswahl sei manipuliert worden. Doch seit der Einführung des elektronischen Wahlsystems sind – auch beim jüngsten Urnengang – in Brasilien keine fundierten Klagen über dessen Funktionsweise erhoben worden.

Unruhige Zeiten in Bolivien und Honduras

Die Verhaftung des Gouverneurs von Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, führte nicht zu einer Beruhigung im 12 Millionen Einwohner zählenden Binnenstaat Bolivien. Ein lokaler Kommentator von «Nueva Sociedad» analysiert die verschiedenen Faktoren, die dazu beitragen, dass sich Anhänger und Gegner der seit 2006 mit einem kurzen Unterbruch herrschenden MAS-Regierung (Movimiento al Socialismo) gegenseitig hochschaukeln. Der unmittelbare Anlass zum Zwist könnte als nebensächlich gelten, ist aber insofern von Bedeutung, als er die nächste Volkszählung betrifft, von deren Ergebnissen die Verteilung der Parlamentssitze in den neun Departamentos des Landes entscheidend abhängen könnte. Während die Regierung in La Paz diesen Termin möglichst weit in die Zukunft verschieben will, sodass sich der demografische Wandel erst bei den übernächsten Wahlen auswirken würde, drängen die oppositionellen Kräfte im östlichen Tiefland auf eine raschere Durchführung der Volkszählung.

Weiterhin unruhige Zeiten erlebt auch der zentralamerikanische Staat Honduras, wo vor einigen Monaten eine gemässigt linksgerichtete Regierung durch Wahlen ans Ruder kam. Präsidentin Xiomara Castro sieht den Kampf gegen die in weiten Teilen der Region gefürchteten Mara-Banden als ihre wichtigste Aufgabe. Zu diesem Zweck wurde in grossen Teilen des Landes der Ausnahmezustand ausgerufen. Castro glaubt, dies sei der richtige Weg und verweist auf amtliche Statistiken über Gewalttätigkeit. Doch solche Notmassnahmen sind in Honduras ein heisses Eisen. In der jüngeren Vergangenheit kam es dadurch wiederholt zu Exzessen der Repression, die von konservativen Amtsvorgängern geduldet wurden und unter denen die Volksorganisationen schwer gelitten haben. Manche Juristen und Menschenrechtler warnen die Regierung, Polizei und Militär könnten auf Dauer Mühe haben, in diesem Kampf zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.

Für Spanisch sprechende ist ein Interview mit Nicaraguas bekanntester Dichterin und Schriftstellerin Gioconda Belli in mehrfacher Hinsicht ein Genuss. Im Gespräch geht es einerseits um das schwierige Kapitel des Sandinismo según Ortega, andererseits wird auch die oft undankbare Rolle der Frau in Kultur, Politik und Gesellschaft in diesem Erdteil ins Zentrum gerückt – und das mit der sensiblen und zugleich kraftvollen Stimme einer mehrfach Preisgekrönten, die heute im spanischen Exil lebt.

London blockiert Venezuelas Goldreserven

Aus Venezuela diesmal eine «trockene» Meldung: Das Nachrichten-Portal «amerika21» berichtet, dass London seine postimperiale Hand nach wie vor auf einen beträchtlichen Teil der Goldreserven des südamerikanischen Erdölstaats legt. Was ist das? Bevormundung? Expropriation? Handfeste Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Landes? Parteinahme für eine Schattenregierung, die in Wirklichkeit nie existiert hat und deren «Vorsitzender» vor geraumer Zeit von der Bildfläche verschwunden ist? Wenn solche Selbstermächtigung Usus wird, dann müsste sich noch manch andere Nation, die das Heu nicht in jeder Frage auf derselben Bühne hat wie die Briten, gut überlegen, ob sie ihre Goldreserven der Bank of England weiterhin anvertrauen soll.

Abschliessend noch einmal einen Blick auf Brasilien und auf «das post-amerikanische Lateinamerika» («Foreign Affairs»). German Foreign Policy stellt zwar – vor allem unter Berufung auf Einschätzungen der Stiftung Politik und Wissenschaft – mit Erleichterung fest, dass der Umsturzversuch von ferngesteuerten Bolsonaro-Anhängern misslungen ist, dass aber «die Politik Berlins wie auch der EU in den vergangenen Jahren nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika zu ernsten Brüchen geführt» habe. Man verweist auf die seit gut drei Jahrzehnten fruchtlos verlaufenen Verhandlungen über intensivere Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen Europa und dem Süden Amerikas (Mercosur). Im gleichen Zuge wächst die Sorge über die stetige Konsolidierung des Austausches zwischen dem Subkontinent und China.

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Romeo Rey, Die Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 284 Seiten, 3. Auflage, C.H.Beck 2015, CHF 22.30

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Lateinamerika Karte

Politik in Süd- und Mittelamerika: Was in vielen Medien untergeht

Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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Eine Meinung zu

  • am 30.01.2023 um 14:40 Uhr
    Permalink

    Dieser Artikel von Romeo Rey ist typisch für die irreleitende Berichterstattung linker Journalisten betreffend Lateinamerika. Habe 30 Jahre in Peru gelebt und verfolge die Ereignisse sehr genau. Beispiele im Artikel Reys:
    – der Putschversuch des linken Ex-Präsidenten Castillo am 7. Dezember 2022 mit anschliessendem Fluchtversuch auf die mexikanische Botschaft wird nicht erwähnt;
    – «Sicherheitskräften, die mit brutalem Einsatz gegen Demonstrierende vorgingen»: die meisten der 50 Toten waren keine «Demonstrierende», sondern von ehemaligen «Sendero Luminoso»-Terroristen angeführte Vandalen, die 7 Flughäfen, Strassen, Elektrizitäts- und Gaswerke blockiert und teilweise zerstört haben.
    – Der «Marsch auf Lima» der Vandalen versagte kläglich.
    – Seit 1993 hat Peru eine liberale Verfassung, dank der die Armut von über 60% (1993) auf 20% (2019) reduziert werden konnte. Romeo Rey rät Peru den «Neoliberalismus» aufzugeben, wie z.B. in Venezuela (Armut nahm von 47% in 2014 auf 79% in 2019 zu).

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