Noch ein Europa-Problem für die Schweiz
Der Chef des Partito Democratico Enrico Letta forderte im April «Eine europäische Konföderation – eine gemeinsame politische Plattform für Frieden», der französische Präsident Emmanuel Macron schlug am Europatag vor dem Europäischen Parlament die Schaffung einer «Europäischen politischen Gemeinschaft» vor und wenig später plädierte EU-Ratspräsident Charles Michel für eine «Europäische geopolitische Gemeinschaft».
So unterschiedlich die Bezeichnungen auch sind, Letta, Macron und Michel wollen das Gleiche. Die EU-27 soll sich auf eine neue Art zu einer grösseren Gemeinschaft erweitern. Charles Michel stellt sich eine Gemeinschaft von Reykjavik bis Baku oder Eriwan, von Oslo bis nach Ankara vor.
Zwischen Skepsis und Zustimmung
Was verlockend tönen mag, löste zuerst mehr Kritik als Applaus aus. In der Ukraine, weil Präsident Macron in seiner Rede offen einen jahrelangen, wenn nicht gar jahrzehntelangen Weg bis zum EU-Beitritt voraussagte. Im Westbalkan, weil dort das Warten auf den Beitritt seit vielen Jahren andauert und zu Missmut und Frustrationen geführt hat. Die neue Gemeinschaft wurde als neustes Verzögerungsmanöver verdächtigt.
Doch dem soll nicht so sein, betonen die Promotoren des Projekts. Die erweiterte Gemeinschaft sei kein Ersatz für die Beitrittsverfahren. Beides soll parallel verlaufen, sich nicht gegenseitig behindern. Der Zusicherung wird scheinbar vertraut, aber wohl nur, wenn die Gemeinschaft schnell konkret wird. Schnell soll es tatsächlich gehen. Die Staats- und Regierungschefs der EU-27 haben an ihrem Gipfeltreffen im Juni erste Weichen gestellt. Die «Gründung einer europäischen politischen Gemeinschaft» wird in der Schlusserklärung unter Punkt 1 erwähnt. Ein erstes Treffen ist für den Herbst in Tschechien geplant.
Integration über die Politik statt über die Wirtschaft
Laut Schlusserklärung hat der Europäische Rat am Gipfeltreffen zwar nur das «Was, wer und wie?» der neuen Gemeinschaft diskutiert. Wie sie aussehen wird, ist also noch nicht klar. Gewiss ist aber: Sie markiert einen Bruch mit dem bisher geltenden Integrationsmodell. Die Wende mit dem Krieg in Europa dränge ein neues Modell auf – oder wie es Autoren des «Institut Jacques Delors» in Paris formuliert haben: «Der aussergewöhnliche, ja historische Kontext, in dem sich der europäische Kontinent heute befindet, erfordert die Definition eines neuen Beitrittsmodells, das die bisher praktizierte Logik umkehrt».
«Umkehrt» bedeutet neu, zuerst die Politik und erst nachher die Wirtschaft. Vorrang soll nicht die Integration in den grossen europäischen Markt haben, sondern das politische Zusammenrücken. Bei der europäischen Aussen- und Sicherheitspolitik sowie bei Fragen Justiz und Inneres sollen die Länder mit Beitrittsperspektive schon mitwirken können – ohne vorgängig die grösste Beitrittshürde mit Zehntausenden von Richtlinien und anderen rechtlich bindenden Dokumenten für die Teilnahme am EU-Binnenmarkt überwunden zu haben. Auch die Zusammenarbeit bei Energie und Klimawandel, Infrastrukturen und Investitionen, Forschung und Ausbildung, Kultur und Mobilität würde nicht mehr hinausgeschoben, bis ein Land alle Bedingungen für einen EU-Beitritt erfüllt. Es soll nicht mehr nach dem Prinzip «alles oder nichts» ablaufen, nannte es EU-Ratspräsident Charles Michel. Beitrittskandidaten sollten sich über die Zusammenarbeit schrittweise und graduell integrieren bis es schliesslich zum Vollbeitritt reicht.
Noch ist unklar, wie das neue Gebilde institutionell verankert sein soll, welche Kompetenzen es erhält, welche Themen mit welcher Dringlichkeit angegangen werden. Das «Institut Jacques Delors» nennt in einem vierseitigen Dokument aber schon ein paar Eckpunkte.
Um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, müsse ein Land die EU-Charta der Grundrechte ratifizieren und einhalten. Es wäre auch Bedingung, dass ein Land dabeibleiben darf. Verstösst ein Land offensichtlich gegen die Grundrechte-Charta würde es wieder ausgeschlossen. Ein Beispiel wie Ungarn unter ihrem autokratischen Regierungschef Orban soll es in der erweiterten Gemeinschaft nicht geben dürfen.
Die Autoren des «Institut Jacques Delors» unterbreiten auch Vorschläge zur institutionellen Ausgestaltung. Die Regierungen sollten an regelmässigen Gipfel- und Ministertreffen beteiligt sein, die nationalen Parlamente an den Debatten im europäischen Parlament teilnehmen, die Bürgerinnen und Bürger den Zugang zu den Programmen in den Bereichen Ausbildung, Forschung und Kultur erhalten. Wichtig sei es, die Kluft zwischen Mitglied- und Kandidatenländern zu überwinden, die heute einem Verhältnis wie zwischen «Lehrern» und «Schülern» gleiche.
Noch ein europapolitisches Problem für die Schweiz
Die neue Gemeinschaft sei eine «Chance für die Schweiz» (NZZ, 14. Mai 2022) und «auch für die Schweiz interessant» (Tages-Anzeiger, 12. Mai 2022), lauteten erste Medien-Kommentare. Nationalrat Franz Grüter von der EU-skeptischen SVP war gar angetan vom «Kooperationsmodell auf loser Basis» (Aargauer Zeitung, 10. Mai 2022). Unverbindlich reagierte das EDA: «Eine Einschätzung wäre verfrüht.»
Eines steht ausser Frage: Bei den Themen, die in der «Europäischen politischen Gemeinschaft» diskutiert werden sollen, möchte auch die Schweiz enger mit der EU zusammenarbeiten. Bei Forschung, Bildung und Kultur, bei Energie und Gesundheit, bemüht sie sich um neue Abkommen. Auch Sicherheits- und Mobilitätsthemen sind für die Schweiz von Belang. Die Themen sind weitgehend deckungsgleich.
Doch die Ausgangslage im Verhältnis zur EU ist sehr verschieden. Die Länder Ost- und Südosteuropas möchten der EU beitreten, scheitern aber an den strengen Bedingungen zur Teilnahme am Binnenmarkt. Die Schweiz hingegen geniesst in manchen Sektoren den Zugang zum Binnenmarkt. Sie ist graduell in diesen integriert, was den Ländern Ost- und Südosteuropas aber noch lange verwehrt bleibt. Ihnen bietet die EU kompensierend die Zusammenarbeit in vielen Bereichen von gemeinsamen Interessen an. Dieses Entgegenkommen kann die Schweiz nicht erwarten, solange sie die institutionellen Fragen von der Rechtsübernahme bis zu Streitbeilegungsmechanismus nicht regeln will. Die neue politische Gemeinschaft wird der Schweiz folglich keinen Ausweg aus der Verhandlungsblockade bieten, dürfte aber den bisherigen bilateralen Sonderweg zusätzlich unter Druck setzen.
Ob die Schweiz zur Teilnahme eingeladen sein wird, erscheint unklar zu sein. Namentlich als Mitglieder der neuen Gemeinschaft erwähnt wurden in Brüssel die neun Länder Ost- und Südosteuropas, auch die Türkei, die EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein und sogar das aus der EU ausgetretene Grossbritannien – nicht aber die Schweiz. Ob sie nur «vergessen» ging? Oder zeigt es, wie sehr sich die Schweiz in Europa isoliert hat?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Es zeigt wohl eher, dass die Kommission das Abzocke-Potenzial noch zu wenig ausgeschöpft zu haben. Die Inflation in der EU wird dieses Problem weiter verstärken.
Unsere Probleme mit der EU sind hauptsächlich auf unsere unfähige Regierung zurückzuführen, die sich wie Elefanten im Porzellanladen verhalten.
Villeicht hat Europa effektiv eine «Vision». Leider spürt man davon nichts, wenn die Kommission spricht.
«Solange die Schweiz die institutionellen Fragen von der Rechtsübernahme bis zum Streitbeilegungsmechanismus nicht regeln will»? «Rechtsübernahme» meint im Klartext «ausschalten der direktdemokratischen Rechte der Menschen in unserem Land», wie uns dies die EU-Funktionäre schon im einseitigen (und darum glücklicherweise gestoppten) «Rahmenabkommen» unterjubeln wollten. Konkret: Entweder ihr stimmt zu – oder das ganze Vertragswerk ist weg (Guillotine-Klausel!). Und der «Streitbeilegungsmechanismus» meint, dass der Europäische Gerichtshof (also das oberste Gericht der einen Partei im bilateralen Verhältnis) seine Rechtssprechung (und sogar Rechtssetzung!) teils auf unser Land ausdehnen möchte. Beides geht gar nicht. Und wir können froh sein, dass wir zu dieser neuerlichen «Integrations»- und Anpassungs-Aktion der EU unter neuem «Label» schon gar nicht eingeladen sind.
Das sehe ich nicht so. Mit der institutionellen Rechtsübernahme, so wie sie im Rahmenabkommen vorgesehen war, wird die Schweiz gestärkt, nicht geschwächt.
– Die Schweiz macht bei den Konsultationen im Rechtsetzungsprozess mit. Der Unterschied zwischen decsision shaping und decision making bei einem Kleinstaat ist klein.
– Wenn das Schiedsgericht, das die Entscheide des EUGH berücksichtigen muss, nicht zugunsten der Schweiz entscheidet, muss die Schweiz diese Entscheide nicht akzeptieren.
– Dann darf die EU Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese müssen aber verhältnismässig sein. Und ob das so ist, das beurteilt das Schiedgericht (ohne EUGH!)
– Heute kann die EU Ausgleichsmassnahme treffen wie sie will.
Damit wäre unsere Position gegenüber den status quo gestärkt, nicht geschwächt.
Natürlich versteht die EU nicht, dass wir das nicht akzeptieren, denn unsere Diplomaten haben hervorragend verhandelt.
Warum können wir das nicht einmal unvoreingenommen diskutieren?
Das ist leider alles richtig und schön erklärt.
Würden wir unsere Europastrategie in der Öffentlichkeit unvoreingenommen diskutieren, dann hätte der Bundesrat nicht die Verhandlungen über das Rahmenabkommen abgebrochen und dann wären wir auch hier dabei.
Natürlich: Verhandlungen kann man wieder aufnehmen, aber Verhandlungen beginnen nie von vorne. Werden wir wieder europapolitisch mit der EU verhandeln, dann wird es an dem Punkt weitergehen, wo wir den Tisch verlassen haben. Mit dem Unterschied, dass viel Zeit verlorenging.
Die Schweiz wurde nicht vergessen, sondern nur nicht explizit erwähnt. Aber der Ostdrall der EU ist offensichtlich, darüber müssen sich die 6 Gründernationen der EWG ihre Gedanken machen…!
Zitat: «Dieses Entgegenkommen kann die Schweiz nicht erwarten, solange sie die institutionellen Fragen von der Rechtsübernahme bis zu Streitbeilegungsmechanismus nicht regeln will.»
Selbst wenn sie wollte, die Schweiz könnte nicht. Sie würde an der Frage der sogenannten Rechtstaatlichkeit (es gibt weltweit keine Definition dafür) scheitern.
In Staaten der EU und ihr selbst, ist die höchste staatliche Institution ein Gericht. Die Verfassung und die Verfassungsrichter dazu sind der Souverän (Rechtsstaat). In der Schweiz ist die höchste staatliche Institution die Bundesversammlung. Also die Gesetzgeber und damit ist das Volk der Souverän. Die Schweiz ist(!) nicht Recht, sondern handelt(!) nach Recht.
Wie man es wenden will, die beiden Systeme sind nicht miteinander kompatibel.
Das klingt für mich alter Wein in neuen Schläuchen. Man will um jeden Preis die Realitäten nicht wahrhaben, nämlich das die EU und die ihr angehängten Institutionen an ihren inneren Widersprüchen zu zerbrechen drohen. Von dem her kann sich die EU glücklich schätzen, dass mit dem Ukrainekrieg ihr offensichtliche Scheitern übertüncht und vertagt werden konnte, vorerst. Wer heute argumentiert, der Brexit sei lediglich das Ergebnis irgendwelcher reaktionärer Nationalisten, die durch dumme Umstände gerade das Oberwasser hatten, hat die Message der Briten schlicht nicht verstanden:
Nämlich dass all die schönen Worte von Personenfreizügigkeit zu massiven sozialen Verwerfungen führen, denn trotz aller europäischen Harmonisierungen – das Sozialwesen bleibt nach wie vor an den Nationalstaaten hängen. Wer das bis hierher immer noch nicht kapiert hat, hat jeglichen Bezug zur Realität verloren. Es geht dabei nicht um Rassismus, sonden um handfeste soziale Probleme – siehe ‹race to the bottom›.
Mal angenommen, die EU will tatsächlich die Ukrainen unterstützen, und sie nicht bloss für blöd verkaufen, dann bietet dies tatsächlich Chancen für die Schweiz.
Mit Partnerstaaten wie den oben genannten ist es für die EU schlicht unmöglich, weiterhin auf «Einheitsmenu für alle» zu bestehen. An so viel Unflexibilität müsste sie zerbrechen.
Mit Kanada geht es ja auch: Zusammenarbeiten, wie unter vernünftigen Erwachsenen.
Die EU arbeitet mit Druck und Erpressung, sie nennt das „Recht“. Von demokratischen Verhältnissen weit entfernt. De Gaulle sprach einmal von einem Europa der Vaterländer. „Une Europe des patries“.
Vielleicht kommt man leichter zu Antworten betreffend Umgang mit der Nato, wenn man sich die neueste Rede des Friedensaktivisten Eugen Jürgen Drewermann anhört, welcher mit eindrücklich Argumentation einen Austritt Deutschlands aus der Nato verlangt: https://youtu.be/7bxvAqiMl1I Die Nato hat einen grossen Teil ihrer Glaubwürdigkeit als Friedensbündnis verloren. Ob sie es schafft, diese Glaubwürdigkeit wieder her zu stellen indem sie die gegenwärtigen Kontrahenten an den Verhandlungstisch bringt und einen Waffenstillstand erreicht, oder sogar einen nicht faulen Kompromiss ? Die kommenden Ereignisse welche in die Weltgeschichte eingehen werden, werden es aufzeigen.