Nazi-Jurist Carl Schmitt: Statt Verwesung neue Vitalität
Er gibt keine Ruhe, er geistert wieder durch die öffentlichen Debatten, und man muss seinen Namen öfter lesen als auch schon: Carl Schmitt (1888-1985). Er gilt als einer der bekanntesten, aber auch umstrittensten deutschen Staats- und Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts. Nach Hitlers Machtergreifung 1933 profilierte sich Schmitt als überzeugter Anhänger der Nazis, was ihm später den Ruf als «Kronjurist des Dritten Reiches» bescherte. Vor allem seine Theorie der Freund-Feind-Unterscheidung scheint es einigen heutigen Zeitgenossen besonders angetan zu haben.
«Neue Aktualität» Schmitts
In der NZZ etwa unternimmt der deutsche Politikwissenschafter Jörg Himmelreich einen etwas verrenkten Rehabilitationsversuch Schmitts. Er bezeichnet dessen Betrachtungsweise, «wonach politische Auseinandersetzung und politisches Handeln auf Freund und Feind, auf Feindschaft hinauslaufen kann, aber nicht muss» als «fundamental». Der Westen habe dieses Politikverständnis «in Anlehnung an die Utopien» von Jürgen Habermas «von einer Weltbürgergesellschaft völlig ignoriert.» Das mache den Westen und insbesondere Deutschland so unvorbereitet auf Putins Krieg gegen die Ukraine. Im Unterschied zu Habermas’ politischem Denken besitze jenes von Schmitt «eine neue Aktualität».
Philosophen-Bückling vor Schmitt
Auch der österreichische Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann darf seine Wiederentdeckung des Schmittschen Freund-Feind-Denkens in einem langfädigen Beitrag in der NZZ zum Besten geben. Seine Quintessenz: Es gehe heute «um die Wiedergewinnung der Einsicht, dass es keine Politik, die diesen Namen verdient, gibt, ohne zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.» So tönt es, wenn einst liberale Autoren finden, sie müssten ihre intellektuelle Wehrhaftigkeit mit dem Rückgriff auf die schlimmsten autoritär-reaktionären Geister unterstreichen. Wieso braucht es diesen Bückling vor einem schlimmen Juristen, nur um klar festzustellen, wer die alleinige Schuld am Angriffskrieg gegen die Ukraine trägt?
Verteidiger der Nürnberger Rassengesetze
Schmitt hat mit seinem ganzen juristischen Renommee in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts den absoluten Führerstaat propagiert. Der Historiker Jürgen Overhoff, Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, schreibt dazu: Schmitt «behagte es, dass Hitler willkürlich befehlen und Gesetze erlassen konnte, ohne sich auch nur einen Deut um allgemein verbindliche Werte oder moralische Positionen scheren zu müssen. Wenn es dem Führer gefiel, die Juden zu eliminieren, dann musste Folge geleistet werden, schloss Schmitt. Und so pries er die Nürnberger Rassengesetze von 1935 lauthals als grossen, befreienden Wurf».
Gegenentwurf zur Demokratie
Schmitt hat sich im Dritten Reich vollkommen diskreditiert und auch Schuld auf sich geladen. Trotzdem galt er nach dem Zweiten Weltkrieg – und gilt offensichtlich immer noch – vielen konservativen Intellektuellen als hochgelehrter, brillanter und geistreicher Kopf. Overhoff dagegen kommt zum Schluss: Schmitts «Ur-Absolutismus» könne nur wirksam begegnet werden, wenn er immer wieder als das, was er ist, entlarvt wird: Als «der genaue Gegenentwurf zur freiheitlichen Demokratie und zum liberalen Rechtsstaat.»
Fragwürdige Brillanz
Ob der Entschluss Schmitts, die Welt in Freund und Feind einzuteilen, viel mit denkerischer Brillanz zu tun hat, darf bezweifelt werden; er entspringt eher einem «voluntaristischen Hauruck», wie Karl-Heinz Ott in seinem Buch Verfluchte Neuzeit: eine Geschichte des reaktionären Denkens (München, 2022) schreibt. Schmitt zeichne sich tatsächlich durch eine «kristalline Diktion» aus: «Man muss seine Sätze nicht dreimal lesen, sie sind nicht schwer zu verstehen. Im Grunde besteht alles aus Oppositionspaaren: hier die Kategorie X, dort die Gegenkategorie Y, hier Freund, dort Feind.» Wer ein klares Koordinatensystem besitzt, kann mühelos als scharfsinnig gelten. «Ob solche Schemata selbst brillant sind, steht auf einem anderen Blatt; das Wichtigste, es herrscht Übersicht: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.»
Gesellschaft hat sich dem Staat unterzuordnen
Schmitt sei ein Meister der Komplexitätsreduktion, schreibt Karl-Heinz Ott, der sich in seinem Buch ausführlich mit dem nazistischen «Meisterdenker» auseinandersetzt. Komplexitätsreduktion an sich muss nicht schlecht sein. Bloss: Wer Übersichtlichkeit nur durch das Ausblenden grosser Teile der Wirklichkeit herzustellen vermag, darf wohl kaum als brillant bezeichnet werden. Ott zeigt das am Beispiel der obsessiven Fixierung Schmitts auf den Staat. Alles Gesellschaftliche spiele bei Schmitt nicht nur keine Rolle, es störe regelrecht: «In seinen Augen hat die Gesellschaft sich dem Staat zu fügen und zu funktionieren.» Die Verachtung der (Zivil-)Gesellschaft und gesellschaftlicher Organisationen ist typisch für autoritär-reaktionäres Denken. Berühmt ist das Zitat der neoliberalen britischen Premierministerin Margaret Thatcher: «So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien.»
Freund-Feind-Denken als Mittel gegen die Opposition
Das Schmittsche Denken ist heute weltweit stark präsent; nicht nur bei einzelnen westlichen Intellektuellen. In Ländern wie etwa Polen, Russland und China ist es zudem wirkmächtig und beeinflusst das politische Denken zum Teil stark. Der Historiker Felix Ackermann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau, macht in einem Beitrag vom April 2022 darauf aufmerksam, dass das Freund-Feind-Denken die polnische Innenpolitik – selbst nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine – nach wie vor stark präge: «Dieses von Carl Schmitt inspirierte und von Jarosław Kaczyński verinnerlichte Politikverständnis führt dazu, dass oppositionelle Gegner weiterhin als angebliche Angehörige einer deutschen oder russischen fünften Kolonne diffamiert werden und die Europäische Union selbst im Moment des Zusammenrückens jederzeit mit der UdSSR verglichen werden kann.» Das zeigt: Wer nur in simplen Schwarz-weiss-Kategorien denkt, verkennt die komplexe Wirklichkeit.
Putins «Grossraum»-Vision und Schmitt
Doch Schmitt ist nicht nur Inspirator von Populisten und Antiliberalen im Westen, sondern vor allem auch in den beiden diktatorischen Grossmächten Russland und China. Aleksandr Dugin, einer der imperialistisch-faschistischen russischen Agitatoren, ist schon früh mit Carl Schmitt in Berührung gekommen. Putins Vorstellungen von einer in Einflusszonen gegliederten Weltordnung gleicht in auffallender Weise Schmitts «Grossraum»-Vision. Dieser hat 1939 in seiner Schrift mit dem bezeichnenden Titel Völkerrechtliche Grossraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte versucht, den Hegemonialanspruch Nazi-Deutschlands über Europa zu legitimieren. «Dem Konzept eines global gültigen Völkerrechts, das auf universalen Werten beruht, setzte Schmitt den Entwurf einer aus geopolitischen ‹Grossräumen› zusammengesetzten Weltordnung entgegen, in denen jeweils eigene, den ethnischen und territorialen Besonderheiten dieser Räume gemässe Rechtsnormen herrschen sollten. Diese würden vom stärksten, einen Grossraum dominierenden Volk definiert und durchgesetzt», schreibt der Publizist Richard Herzinger.
Schmitts wachsende Bedeutung in China
Was für Russland gilt, trifft in weiten Teilen auch auf die Volksrepublik China zu. Vor allem seit Xi Jinpings Machtübernahme im Jahr 2012 ist Schmitts Bedeutung in der chinesischen Politischen Theorie auffallend gewachsen. Das trifft in besonderem Masse auf die erwähnte Unterscheidung zwischen Freund und Feind zu.
In einer Dissertation von 2021 mit dem Titel Schmitt in China: Liberalismus und Rechtsstaatdiskurse 1989-2018 zeigt Charlotte Kroll auf, dass die Auseinandersetzung chinesischer Wissenschafter mit Carl Schmitt sichtbare Spuren hinterlassen hat – und zwar ganz konkret «auch mit Blick auf die Politik der chinesischen Zentralregierung gegenüber der Sonderverwaltungszone Hongkong.» Die Autorin stellt fest, dass im akademischen Diskurs jene Form eines Rechtsstaates legitimiert werde, «die sich immer stärker von einer Kontrolle der Politik durch das Recht distanziert.» Der «sozialistische Rechtsstaat chinesischer Prägung», so schreibt die Autorin, grenze sich entschieden von einem Rechtsverständnis ab, «in dem die Gültigkeit und Umsetzung der in der Verfassung gesetzten Normen durch eine unabhängige Justiz garantiert wird.» Mit anderen Worten: Schmitt ist auch in China ein wichtiger Autor, wenn es darum geht, den absoluten Durchgriff des diktatorischen Staates unter Ausschaltung rechtsstaatlicher Kontrollen zu legitimieren.
Immerhin eines kann man vom Freund-Feind-Schema lernen: Der kompromisslose rechtsphilosophische Feind der offenen Gesellschaft par excellence ist Carl Schmitt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke, ein brillanter Beitrag von hohem Niveau. Man lese den Studienband von Sigmund Freud: Zwang, Paranoia und Perversion. Dort wird man wohl meines Erachtens einige Wesenszüge von Carl Schmitt wiederfinden. Wer das Leben auf Freund und Feind reduziert, wobei der letztere zu töten sei, und wer solchem Gedankengut anhängt, bräuchte dringendst psychotherapeutische Hilfe, und wenn durch eine solche Person Gefahr (Volksverhetzung) droht, vorübergehende Verwahrung. Einfach entsetzlich. Auch empfehlenswert zu dem Thema: Die Bücher von Viktor Frankl.
Das Denken von Carl Schmitt ist weit komplexer und die Wirkung weitreichender als hier dargestellt…
Passend dazu auch die jüngsten Urteile des BGH in D: ein nicht näher definiertes und schon gar nicht mit Zahlen, einer Kostennutzenrechnung oder sonstiger Expertise belegtes «Allgemeinwohl» stünde über den individuellen Grundrechten. Ein wie auch immer behaupteter schwerer wiegender Zweck, bei Schmitt der Führerwille, unter Bolschewisten, Stalinisten und Kommunisten das spätere Paradies der Werktätigen und die Abwehr des kapitalistischen Feindes, macht alle anderen zu unwichtigen Ameisen, die sich hier bedingungslos unterzuordnen und ggbf. sogar ihr Leben zu opfern hätten. Wir müssen alle sehr aufpassen, dass nicht wieder ein «hehres Ziel» uns zum Kanonenfutter von totalitären Denkstrukturen macht; diese müssen keineswegs im Gewand von Rechts, Links oder Religion daherkommen. Es kann eben einfach das vielfach beschworene amorphe «Allgemeinwohl», die befohlene «Solidarität», das «Gute» sein.
Diesen Beitrag von Jürg Müller-Muralt halte ich für sehr erhellend und nötig. Dass Carl Schmitt vor allem in Polen Russland und China derart hohe Aktualität erreicht hat, ist für mich erschreckend – das habe ich nicht gewusst. Danke, Herr Müller-Muralt.
Beunruhigend ist für mich des weiteren der hohe Anteil an Neinstimmen zur Frage der Nützlichkeit dieses Artikels: mehr als ein Drittel (13 von 34, entspricht 38%, Dienstag um 14 Uhr), und das in einem demokratischen Land wie der Schweiz!
Eine hervorragende Analyse von Jürg Müller-Muralt. Eine Lektion in jüngerer Geschichte, deren Lektüre jedem an Zeitgeschichte Interessierten dringend anempfohlen sei. Das Portrait eines völlig gewissenlosen, opportunistischen Schreibtischtäters, der – obwohl nach Kriegsende im Vorfeld der Nürnberger Prozesse einvernommen – sich niemals vor Gericht verantworten musste. Carl Schmitt, das Paradebeispiel eines «furchtbaren Juristen» (Rolf Hochhuth 1978 über Hans Filbinger, den damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs und für Todesurteile gegen Deserteure verantwortlicher einstiger Marinerichter); nur einer von all den vielen beflissenen Dienern der NS-Blutjustiz, die nach Ende des Krieges «nur dank des Schweigens derer, die sie kannten auf freiem Fuss wandelten» (Zitat Hochhuth) und teilweise sogar noch Karriere in der jungen Bundesrepublik Konrad Adenauers machten.
Interessante Analyse. Aber einseitig: Wieso wird der aktuell wichtigste und gefährlichste Brandherd des primitiven Freund-Feind-Denkens ignoriert? «Are you with us – or with the terrorists?» So hat dessen oberster (militärischer) Führer schon kurz nach 2000 die ganze Welt erpresserisch gefragt – und auch die Schweiz für seinen nur auf eigene Macht- und Wirtschaftsvorteile ausgerichteten «Krieg gegen Terror» vereinnahmen wollen.
Die schwarzweisse (!) Ideologie und mörderische Praxis geht in diesem Brandherd weit zurück: Freund (weisser, frommer Siedler) gegen Feind (roter, heidnischer Indianer) «legitimierte» Landraub und Völkermord an der Urbevölkerung. Freund (Kapitalist) gegen Feind(Kommunist) führte zu verbrecherischen Kriegen weltweit (Vietnam, Chile usw.). Und jetzt also «Wirtschaftskrieg» gegen den «Feind» China unter humanitärem/demokratischem Deckmantel. Wer da mitmacht und hinterherläuft oder propagandistisch mitheult, ist naiv und hat wenig begriffen.
» Drei Jahre bevor Köppel 1997 Chefredaktor des «Magazins» wird, hat er an der Universität Zürich seine Lizenziatsarbeit [positiv] über Carl Schmitt geschrieben.
Schmitt legt in seinem Werk dar, dass die Politik über «Gefühle», «Vorurteile» und «Sehnsüchte»
Macht über die Motive von Menschen gewinnt. Das kann zum Guten oder zum Schlechten dienen, zur simplen Manipulation oder zur quasireligiösen Begründung moderner Staatlichkeit. Schmitt und Köppel benennen diese MYTHEN»:
Heimat, Familie, Vaterland, Identität, Neutralität, Unabhängigkeit, Volk, –
das ganze blochersche Programm.
Siehe Tagesanzeiger vom 20.01.2015 : Die Stunde des Ziehsohns
Die Rechtspartei wird sich weg vom «Dächlikappenfreisinn» bewegen.
Und vom Trump-Phänomen lernen.
https://www.tagesanzeiger.ch/die-stunde-des-ziehsohns-340019738094
Tatsächlich ahmen die SVP-Granden den Trump-Stil nach und sind ähnlich erfolgreich bei der arglistigen Wählertäuschung.
Was, wenn es sich bei der Gegenseite um Anhänger von Schmitt handelt? Was, wenn ein Staat von einem anderen Staat in die Rolle eines Feindes gedrängt wird? Die Ukraine hat die Feindschaft nicht gesucht, Putins Russland hat die Ukraine durch den Angriffskrieg und den begleitenden Propagandafeldzug zum Feind gemacht. Wie sagt es Schiller in seinem «Wilhelm Tell»? «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.»
Schade finde ich, dass der Bezug zur aktuellen Klimadiskussion nicht gemacht wird. Die Klima-Alarmisten fordern nämlich genau das: «Die Gesellschaft hat sich dem Staat unterzuordnen». Klimapolitik als «der genaue Gegenentwurf zur freiheitlichen Demokratie und zum liberalen Rechtsstaat». Das ganze Denken ist in «Freund und Feind»-Schemen gefangen. Wer immer die aktuell gültigen Dogmen des IPCC mit empirischen Daten in Frage stellt, wird sofort als Agent der Ölkonzerne diffamiert.
Ich finde den Eintrag in der wikipedia zu Carl Schmitt lesenswert.
In Bezug auf aktuelle Politik ist mir vor allem der folgende Hinweis besonders besorgnis erregend:
«… wird er aufgrund seiner indirekten Wirkung auf das Staatsrecht und die Rechtswissenschaft der frühen Bundesrepublik mitunter auch als „Klassiker des politischen Denkens“ bezeichnet.»
Einer der Vorredner hier im Kommentar wies bereits darauf hin, wie leichtfertig Deutschland mit den Verfassungsrechten ihrer Bürger umgeht, wenn die Regierung meint, eine Krise wie bei der SARS-CoV-2 Epidemie bewältigen zu müssen.
Und leider haben wir in der Schweiz eine Tagespresse, die sich an deutschen Vorgaben orientiert und Bundesräte, die ständig nach Deutschland schielen.