Moskaus indiskreter Blick Richtung Alaska
Nirgends sind sich Russland und die USA geographisch näher als im Nordpazifik. Zwischen dem flächenmässig grössten US-Bundesstaat Alaska und Sibirien liegt nur die 85 Kilometer breite Beringstrasse. Die amerikanisch-russische Staatsgrenze verläuft mitten durch die Diodemes-Inselgruppe; die zu Russland gehörende Grosse Diodemes-Insel (Ratmanow-Insel) und die zu den USA gehörende Kleine Diodemes-Insel liegen gerade mal vier Kilometer auseinander. Nicht nur geographisch stossen die beiden Weltmächte in Alaska aufeinander, auch historisch überlagern sich in dieser rauen Weltgegend russische und amerikanische Interessen. Im 18. Jahrhundert kolonisierte Russland Alaska. Aus verschiedenen Gründen verlor Russland das Interesse an diesem Territorium. 1867 kauften die USA dem Zaren das Territorium für 7,2 Millionen Dollar (heutiger Gegenwert rund 130 Millionen Dollar) ab; es handelt sich um einen der billigsten Landkäufe der Geschichte.
Alaska als Entschädigung für Russland
Im vergangenen März forderte Oleg Matveychev, ein Berater von Präsident Wladimir Putin und Duma-Abgeordneter, unter anderem die Rückgabe Alaskas an Russland, dies wegen der gegen Moskau verhängten westlichen Sanktionen. Nun ist das nicht gerade eine sehr erfolgversprechende Forderung. Aber da sich Russland ohnehin an die Umsetzung der macht- und geopolitischen Rezepte des 19. und 20. Jahrhunderts gemacht hat, passen solche Gedankenspiele nicht schlecht in die russische Polit-Landschaft. Matveychev forderte im Staatsfernsehen dazu auf, über Wiedergutmachungen für die Schäden nachzudenken, «die durch die Sanktionen und den Krieg selbst verursacht wurden, denn auch das kostet Geld und wir sollten es zurückbekommen». Und da wäre Alaska immerhin ein willkommener Zustupf.
Das Thema machte kaum Schlagzeilen und geriet wegen der dramatischen Entwicklungen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz rasch wieder in Vergessenheit. Der Osteuropahistoriker Robert Kindler macht allerdings darauf aufmerksam, dass das Thema «bereits seit einiger Zeit zum Grundrauschen des russischen Neoimperialismus» gehöre, verstärkt nach der Annexion der Krim von 2014.
Russland baut Präsenz in der Arktis aus
Alaska gehört bestimmt nicht zu den prioritären Expansionszielen Moskaus. Doch aus zwei Gründen sollte gemäss Kindler der Alaska-Diskurs nicht aus den Augen verloren gehen. Erstens wird die Region unter geostrategischen Aspekten in den kommenden Jahrzehnten an Bedeutung gewinnen. Die Klimaerwärmung und die Eisschmelze führen zu neuen, dauerhaft nutzbaren Routen für den globalen Handel. Zugleich lockt die Arktis mit bisher unzugänglichen Rohstoffvorkommen. Russland hat laut Kindler die Risiken und Chancen dieser Veränderungen erkannt und baut seine Position in der Arktisregion massiv aus. Zweitens zeigt Russlands Krieg in der Ukraine, «wie lebendig das Denken in imperialen Kategorien ist. Der Verweis auf die imperiale Vergangenheit Alaskas ist in diesem Zusammenhang nicht als konkrete Restitutionsforderung zu begreifen. Sie steht hier vielmehr für ein Russland, das sich seiner ‹historischen› Grenzen bewusst ist».
Lenin: Zarenreich zweitgrösste Kolonialmacht
Alaska war die einzige Überseekolonie Russlands. Es gab zwar Versuche, sich weiter südlich an der Pazifikküste festzusetzen, im klimatisch günstigeren Kalifornien. Von 1812 bis 1841 betrieb Russland eine Niederlassung der Russisch-Amerikanischen Handelsgesellschaft in Fort Ross (vermutlich ist der Begriff von Rossija, also Russland, abgeleitet). Doch dieser südlichste befestigte Aussenposten Russisch-Amerikas rechnete sich wirtschaftlich nicht – und wurde 1841 an den legendären Schweizer Grossgrundbesitzer Johann August Sutter verkauft.
Die wenig erfolgreiche Übersee-Kolonialpolitik bedeutet jedoch nicht, dass Russland keine Kolonialmacht war. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Kolonialmächten spezialisierte sich Russland auf die kontinentale Ausdehnung und die Binnenkolonisation in Nord- und Zentralasien. Der Grund lag auch darin, dass Russland lange Zeit keinen Zugang zu den Weltmeeren hatte. Es ist deshalb historisch unzutreffend, die Begriffe Imperialismus und Kolonialismus nur auf die westlichen Mächte anzuwenden. Als unverdächtiger Kronzeuge für diesen Befund dient Wladimir Iljitsch Lenin höchstpersönlich. Er stellte in seinem Werk mit dem Titel «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» von 1914 fest, das Zarenreich sei die zweitgrösste Kolonialmacht hinter Britannien, aber noch vor den Grossmächten Frankreich, Deutschland und USA.
Der Ukraine-Krieg in historischer Tradition
Um den aggressiv-kolonialistisch-imperialistischen Charakter der russischen Aggression gegen die Ukraine zu verstehen, muss man berücksichtigen, in welcher historischen Tradition dieser Krieg steht. Die afroamerikanische Russland- und Sowjetunion-Historikerin Kimberly St. Julian-Varnon hat jüngst in einem Twitter-Thread einige Eckpunkte dazu zusammengestellt. Sie hat dabei konstatiert, dass der russische Siedlerkolonialismus in Sibirien bereits im 16. Jahrhundert einsetzte; Ziel war die Verdrängung der indigenen Bevölkerung. Im 19. Jahrhundert «überzog Russland den Kaukasus mit einer Reihe blutiger Kriege, inklusive ethnischer Säuberungen mit genozidalem Charakter, die sich zum Beispiel gegen das Volk der Tscherkessen richteten; und schon zu zaristischen Zeiten wurden die ukrainische Sprache massiv unterdrückt sowie Schulen und Zeitungen geschlossen». So fasst die Republik die Aussagen der Historikerin zusammen.
Gewalttätige Siedlungspolitik
St. Julian-Varnon hält weiter fest, dass die Expansionsstrategie des Zarenreichs alle Merkmale des imperialen Kolonialismus aufwies: «Gewalttätige Siedlungspolitik, Unterdrückung von Minderheitensprachen und -glauben, Deportationen, massive Ausbeutung und Abbau von Rohstoffen in den eroberten Gebieten. Russland hat sich lediglich deshalb nicht an der kolonialen Aufteilung Afrikas beteiligt, weil es bereits über ein riesiges Kolonialreich verfügte.»
Der russische Kolonialismus und Imperialismus beruhte also, ähnlich wie der westliche, auf Völkermord, Unterdrückung und Ausbeutung von Abermillionen Menschen. Russland ist eben dabei, ein weiteres, dunkles Kapitel dieser Geschichte zu schreiben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Scheint mir eine etwas gar gekürzte Weltsicht zu sein. Gewissermassen das Spiegelbild zum nordamerikanischen «go west».
«Go west» war ja schliesslich auch ein Siedlerkrieg innerhalb einer grossen Landfläche, und kaum weniger blutig. Muss wohl in dieser Zeit so üblich gewesen sein. Ob die Lektionen der Vergangenheit so einfach in die Gegenwart verlängert werden sollten, darf hier wohl offen bleiben.
Das Zarenreich war nie als ein Rechststaat mit Bürgerrechten bekannt, und dass das russische Imperium nicht ohne Gewaltanwendung entstand/zusammenghalten wurde, ist etwas, das allen Imperien gemeinsam ist.
Im gegenwärtigen Krieg in/um die Ukraine geht es den USA und GB ja nach eigenen Angaben darum, Russland zu schwächen und nicht etwa die Ukraine zu retten (oder was davon zu retten ist). Also Geopolitik im Sinne des 19/20 Jahrhunderts hüben wie drüben, egal ob die Welt daran zugrunde geht.
Was für eine verfahrene Situation. Kann das Russland von vorgestern mit heute verglichen werden? Wäre eine entmilitarisierte Zone zwischen den Großmächten, mit unantastbaren autonomen Staaten dazwischen, nicht auch ein Schritt, um die Situation erst mal zu beruhigen? Mich würde es freuen, wenn die Medien sich mehr um mögliche Lösungsansätze bemühen würden. Zwei Großmächte bekriegen sich auf dem Territorium eines Dritten, wird dies zu einem neuen Vietnam?
@ Jürg Müller-Muralt – Russland hatte nicht einfach «das Interesse an Alaska verloren», Russland hatte finanzielle Probleme, weil es im Krimkrieg 1854/55 von den Briten, Franzosen und zwei italienischen Staaten in Kooperation mit dem Osmanischen Reich (!) ausgeblutet wurde. Interessant am Krimkrieg ist, dass Westeuropa zwar die Osmanen überhaupt nicht mochte, aber wenn es gegen Russland ging, dann waren die Osmanen als Verbündete mehr als genehm (siehe dazu heute die Verbindung NATO-Türkei). Von seiner internationalen Dimension her war der Krimkrieg historisch eigentlich er erste «Weltkrieg». Sehr zu empfehlen in diesem Zusammenhang ist ein Besuch im Museum in Sewastopol auf der Krim, wo die antirussische Kumpanei des Westens – auch künstlerich – wunderbar dargestellt wird. Siehe auf Infosperber unter dem Stichwort «Krimkrieg».
Alles zu Russland braucht ein Etikett, z.B. aggressiv-kolonialistisch-imperialistischen Charakter der russischen Aggression gegen die Ukraine». Das ist keine Information mehr sondern reine Propaganda. Schlimm. Die Mehrzahl der westlichen Beiträge – und dieser ist ein gutes Beispiel – bestätigt Vorurteile und dient nur der Polarisierung der Meinung der Bevölkerung mit eingeschränktem Medienkonsum. Sie vergrössert den Graben, macht den Dialog und Waffenstillstand und Frieden unmöglich. Wo bleiben da unsere Werte?
Und was muss man berücksichtigen, um «den aggressiv-kolonialistisch-imperialistischen Charakter der amerikanischen Aggression gegen den Nahen Osten zu verstehen»? … ist klassisches Framing.