Strassen_Madagaskar

Die Infrastruktur Madagaskars ist seit dem Putsch 2009 von Andry Rajoelina in eine einzige Katastrophe abgestürzt. Es gibt keine intakten Strassen und in den Städten weder eine sichere Strom- noch eine Wasserversorgung. © zvg

Madagaskar: Wo Françafrique endet

Red. /  Die ehemalige französische Kolonie steht vor dem Niedergang. Das wird auch eine Niederlage für Frankreich sein.

Der Insel Madagaskar wurde einst eine blühende Zukunft vorausgesagt. Nun droht das Land wegen Misswirtschaft und Korruption unterzugehen. Im bereits erschienenen Artikel «Madagaskar: Gut möglich, dass die Insel das nächste Gabun wird» wird die brenzlige Situation vor den Präsidentschaftswahlen beschrieben. Der Autor kennt Madagaskar aus seiner langjährigen Tätigkeit als Journalist. Wir publizieren seine beiden Artikel ausnahmsweise anonym. Denn der Autor geht davon aus, dass das Regime mit Repressionen reagieren würde.

Madagaskar ist die viertgrösste Insel und das fünftärmste Land dieser Erde. Gemäss der Bruttoinlandprodukt-Statistik (BIP) sind nur Somalia, die Zentralafrikanische Republik, Sierra Leone und Burundi noch ärmer als der Inselkontinent Madagaskar mit einem Pro-Kopf-BIP von 525,97 Dollar pro Jahr. Zum Vergleich: Die Schweiz belegt Platz 4 der reichsten Länder mit 98’767 Dollar pro Kopf.

Das Land, mit seinen 547’000 Quadratkilometern so gross wie Frankreich und die Schweiz zusammen, ist reich an Bodenschätzen; von Öl, seltenen Erden über Nickel und Halbedelsteine bis hin zu den Ilmenit-Minen im Südosten des Landes wären alle Ingredienzen vorhanden, um dem Land eine prosperierende Gegenwart und Zukunft zu ermöglichen.

Frieden und geringe HIV-Rate

Die Vanille Madagaskars besetzt immer noch den ersten Platz auf dem Weltmarkt, der Export von Crevetten ist ein blühendes Geschäft, ebenso die Gewürznelken. Trotzdem leben 25 von 30 Millionen Menschen in Madagaskar in bitterster Armut. Besonders skandalös ist dabei ein simpler Vergleich mit den in der weltweiten Armutsstatistik noch vor Madagaskar liegenden, bereits zitierten Ländern. Während dort seit Jahren Bürgerkriege oder Grenzkonflikte jede wirtschaftliche und soziale Entwicklung verunmöglichen, ist Madagaskar seit Jahrzehnten ein Land ohne jede Verwicklung in kriegerische Auseinandersetzungen. Selbst die HIV-Rate, die in vielen Ländern auf dem afrikanischen Kontinent als Entwicklungsbremse wirkt, ist auf der «Grossen Insel» mit unter 0,5 Prozent bei der erwachsenen Bevölkerung verschwindend klein.

Möglicherweise stimmt das Diktum Charles De Gaulles, der bei seinem Besuch 1960 festhielt: Madagaskar ist ein Land der Zukunft – und wird es bleiben. Die madagassische Elite scheint jedenfalls wild entschlossen zu sein, das Land mit blühender Zukunft im Indischen Ozean untergehen zu lassen, jedoch nicht ohne sich selber rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

Korruption, der Entwicklungskiller

Schwerwiegende Folgen dürften die Wahlen vom 15. November haben, über welche Infosperber hier bereits berichtet hat. Zum Auftakt der Wahl-Kampagne erschien ein Interview mit dem Senatspräsidenten Herimanana Razafimahefa, das aufzeigte, dass er zur Demission gezwungen worden ist. Gleichzeitig platzte im fernen London eine weitere Bombe.

Mitte August 2023 machte die Direktorin des Kabinetts von Präsident Andry Rajoelina zusammen mit einem französischen Präsidentenberater einen geschäftlichen Trip nach London. Die sich gerne in den «sozialen» Medien als Luxus-Lady präsentierende Romy Andrianarisoa und ihr Geschäftspartner Philippe Tabuteau, der schon in Guinea und anderen afrikanischen Ländern wegen Korruption in Verruf geraten war, hatten ein Meeting mit Managern der in Guernsey etablierten Bergbaugesellschaft Gemfields Group Ltd. Gemfields ist seit Jahren in Madagaskar und weltweit vor allem im Smaragd- und Rubin-Geschäft tätig. Zur Gruppe gehört auch das weltweit bekannte Label Fabergé. Das Unternehmen ist an den Börsen in Johannesburg und London kotiert.

Ziel des Trips war es, von Gemfields für die Erneuerung der Bergbaukonzessionen eine ausservertragliche «Entschädigung» von 250’000 Schweizer Franken für gewisse Dienste als Beschleuniger des Deals mit den madagassischen Behörden einzustreichen. Ausserdem sollte dem franco-madagassischen Dream-Team eine fünfprozentige Beteiligung an den madagassischen Gemfields-Geschäften zugesichert werden. Rajoelinas Kabinettsdirektorin wähnte sich dank Diplomatenpass und der direkten Verbindung zu ihrem Chef offenbar auf sicherem Terrain.

Freilich dachten die beiden Emissäre aus Madagaskar nicht daran, dass sich Gemfields nicht so einfach – und vermutlich zum wiederholten Mal – melken lassen würde. Die Firma schaltete die britische National-Crime-Agency NCA ein. Zum Treffen in London erschien ein als Unterhändler von Gemfields getarnter Beamter von NCA. Und wie in einem James-Bond-Film liess sich der Kriminalbeamte scheinbar auf den Deal ein und zeichnete das ganze Gespräch auf. Beim Verlassen des Verhandlungsraumes klickten die Handschellen.

Plan zum Abkassieren ging nicht auf

Selbstredend liess Präsident Rajoelina seine Kabinetts-Direktorin nach Bekanntwerden ihrer Verhaftung wie eine heisse Kartoffel fallen und entliess sie umgehend. Die Dame sei in privater Mission unterwegs gewesen, hiess es aus dem Präsidentenpalast in Antananarivo, der Präsident habe damit nichts zu tun. Die interessierte Öffentlichkeit in Madagaskar brach hierauf in schallendes Gelächter aus.

Bei der Begründung für die beantragte Untersuchungshaft wurde die Unverfrorenheit der madagassischen Abgesandten deutlich. Sie hatten ganz offensichtlich damit gerechnet, London nach ein, zwei Tagen mit Geld oder Edelmetall im Wert von 250’000 Franken zu verlassen, und zeigten sich punkto Barmittel sehr flexibel. Man nehme gerne Schweizer Franken, Pfund oder Dollar, aber auch Gold sei genehm, wurden die Aufzeichnungen vor dem Haftrichter zitiert. Trotz der erdrückenden Beweise plädierte Romy Andrianarisoa auf unschuldig, während «Geschäfts»-Partner Tabuteau um eine Bedenkzeit bat. Am 9. Oktober gab er den englischen Strafverfolgungsbehörden sein Schuldeingeständnis bekannt. Der Prozess ist auf Februar 2024 angesetzt. Gut möglich, dass Tabuteau, der natürlich weiss, dass er aus Madagaskar keinerlei Unterstützung zu erwarten hat, einfach seine Haut retten will und im Gegensatz zu Romy zur Zusammenarbeit mit den britischen Behörden bereit ist. Es dürfte nicht nur für Romy eng werden, sondern auch für die zweifellos involvierte madagassische Staatsspitze.

Mit weiteren illegalen Geschäften bereichert

Der aufgeflogene Korruptions-Fall ist nur der spektakulärste, aber nicht der einzige. Seit der gewaltsamen Machtübernahme Rajoelinas im Jahr 2009 hat die Korruption das Land immer tiefer in den Abgrund getrieben. Während vier Jahren «Übergangsregierung» bereicherten sich Rajoelina und seine Putschistenregierung vorwiegend an illegalen Tropenholzgeschäften. Hauptabnehmer der Tropenhölzer, die einem internationalen Handelsverbot unterliegen, war übrigens China. Einige der zwischen 2009 und 2014 zu Dollar-Millionären gewordenen madagassischen Geschäftsleute waren sowohl 2019 als auch im jetzt laufenden Wahlkampf die wichtigsten Geldgeber für Rajoelinas Kampagne. Während Rajoelinas Wahlmaschine in Dörfern und Städten orange T-Shirts an die brotlose Bevölkerung verteilt, werden die Reichtümer des Landes von einer Elite geplündert, die nicht einmal ein halbes Promille der 30 Millionen Einwohner ausmacht. Eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung ist auf dieser Basis ebenso unmöglich wie die Finanzierung eines Schulsystems oder eine Gesundheitsversorgung, die diesen Namen verdienen würde. Korruption wirkt hier als der Entwicklungskiller schlechthin.

Internationale Gemeinschaft schaut zu

Ein Land, das jedes Jahr um mehr als 3 Prozent – das heisst um eine Million Menschen – wächst, hat einen kolossalen Bedarf an Lehrkräften, Schulinfrastruktur, Gesundheitsversorgung, Ausbildungsplätzen und braucht eine funktionierende Wirtschaft, zu der beispielsweise eine verarbeitende Industrie gehören würde.

Die Schweiz hat Madagaskar schon vor Jahren von der Liste ihrer Schwerpunktländer gestrichen. Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Bretton Woods-Institutionen Weltbank und Währungsfonds, aber auch die Entwicklungsagenturen der EU, Frankreichs und einiger anderer Länder geben zwar vor, die Entwicklungsziele in Madagaskar zu fördern. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Madagaskar verarmt

Madagaskar ist das einzige Land der Erde, das seit 60 Jahren ein rückläufiges Wachstum hat. Mit anderen Worten: Das Land und seine Bevölkerung sind im Jahr 2023 wesentlich ärmer als 1960. In dieser Zeit wurden Abermilliarden an bilateraler und multilateraler Entwicklungshilfe ins Land gepumpt. Allein die Schweiz hat bis zu ihrem Rückzug rund 500 Millionen Schweizer Franken investiert.

Das Ergebnis dieser Entwicklungshilfe sieht so aus: Es gibt kein öffentliches Schulsystem, das Kinder im Primar- und Sekundarschulalter das Lesen und Rechnen beibringen würde. Die Gesundheitsversorgung ist vollständig zusammengebrochen. Die Altersversorgung, welche einen lächerlichen Promille-Anteil von Lohnempfängern mit einer bescheidenen Rente versorgen sollte, wird derzeit durch mehrere Veruntreuungs- und Korruptionsfälle in den Abgrund gerissen. Die Universitäten sind nur dazu da, Diplomanden für den Staatsdienst zu produzieren. Zumal die Stipendien stets mit monatelanger Verzögerung und dann auch nur nach Bestreikung der Unis ausbezahlt werden. Die wenigen engagierten Professoren beklagen ein tiefgreifendes Desinteresse der Studierenden, sich für eine nachhaltige Zukunft fruchtbare Erkenntnisse anzueignen. Auch die ohnehin miserablen Gehälter der Professoren werden nur mit grosser Verzögerung ausbezahlt.

Die Verkehrsinfrastruktur ist weitgehend zerstört. Das Strassennetz besteht seit der Plünderung des Strassenunterhalts-Fonds durch Rajoelinas Kumpels aus Löchern. Das Inland-Flugnetz wird mit zwei zweimotorigen Propeller-Maschinen im Dauereinsatz betrieben.

Reisverteilung als Show-Spektakel

Kein Wunder, wenn der Tourismus bei rund 200’000 jährlichen Besuchern seit Jahren stagniert. In dieser Zahl eingeschlossen sind die Visa, die für geschäftliche oder familiäre Kurzbesuche der Einfachheit halber als Tourismus-Visum gelöst werden. Eine formelle Wirtschaft ist faktisch inexistent. 90 Prozent der Einkommen werden im informellen Sektor erarbeitet. Die Landwirtschaft vermag den Bevölkerungszuwachs schon lange nicht mehr aufzufangen. Jährlich werden hunderttausende Tonnen Reis importiert und dann von Präsident Rajoelina in spektakulären Shows der armen Bevölkerung als Geschenk des Präsidenten dargereicht.

Einziger Hoffnungsschimmer bleiben zahlreiche kleine Hilfsprojekte, die von privaten Spenderinnen und Spendern im Ausland finanziert werden und meistens in enger Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung aufgebaut und nachhaltig betrieben werden. Auch wenn diese Initiativen erfolgreich für Wasser- und Gesundheitsversorgung, lokale Schulen oder für bessere Erträge bei Bauern, für effizientere Nutzung der Holzkohle oder für Strom auf dem Land sorgen, sind sie nur Tropfen auf den heissen Stein. Die Dollar- und Euro-Milliarden der Steuerzahler in den Industrieländern werden von staatlichen Entwicklungsagenturen an wiederum staatlich kontrollierte Organismen im Zielland verteilt, wo sie zu mindestens drei Vierteln in den Taschen und auf den Auslandkonten von Ministern, hohen Beamten und bei deren Komplizen, einer scham- wie wirkungslosen Beratungsmafia, verschwinden.

Diese Rückwärts-Entwicklung läuft seit Jahren, insbesondere seit 2009 vor den Augen einer internationalen Gemeinschaft ab, deren Emissäre sich gelegentlich zu Wort melden, dann – wie gerade eben wieder geschehen – ein bisschen echauffiert transparente und faire Wahlen anmahnen, sich dann aber später bei der Vereidigung des neuen Präsidenten Andry Rajoelina würdevoll auf die Ehrenplätze setzen werden.

Hassliebe zu Frankreich

Der unbestrittene Strippenzieher in der madagassischen Tragödie war und ist Frankreich. Daran ändert auch die durch den blutigen Aufstand von 1947 schwer belastete Kolonialzeit nichts. Frankreich hat auch nach der Unabhängigkeit – als Folge des 1958 in 14 Kolonien durchgeführten Referendums über die Unabhängigkeit – die Zügel in der Hand behalten.

Es übte nach dem Referendum weiterhin die Kontrolle über die Wirtschaft – Madagaskar blieb in der Franc-Zone –, den Exporthandel, die Aussenpolitik und die Armee aus. Auch nach der von Didier Ratsiraka 1975 eingeleiteten «Malgaschisierung» wurden die lokalen Eliten von Frankreich gezielt durch Stipendien und allerlei Privilegien weiterhin gehätschelt, das einfache Volk aber der Willkür der jeweiligen Machthaber überlassen. Hinzu kommt, dass der von Frankreich importierte Zentralstaat auch heute noch von einer mittlerweile unsagbar unfähigen und korrupten Beamtenschaft fortgeführt wird.

Diese offenkundige Hassliebe erlebt in diesen Tagen und Wochen eine Transformation hin zum reinen Hass. Die neun Jahre lang geheim gehaltene französische Staatsbürgerschaft des Show-Manns Rajoelina wurde aufgedeckt. Nun ist Feuer im Dach. In den sozialen Medien und immer öfter auch in den Print-Medien wird Frankreich gebeten, seinen Staatsbürger doch bitte nach Hause zu rufen. Und man bezeichnet unverhohlen das Beispiel Gabun mit seinem Putsch als durchaus wünschbares Szenario für Madagaskar.

Mehr Informationen zu den bevorstehenden Wahlen in Madagaskar: «Madagaskar: Gut möglich, dass die Insel das nächste Gabun wird»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

AfrikaHilfe xx

Afrika: Ausbeutung und Hilfe

Die Industriestaaten profitieren von Hungerlöhnen und Kinderarbeit. An Korruption sind sie oft beteiligt.

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Eine Meinung zu

  • am 1.11.2023 um 11:14 Uhr
    Permalink

    Auf «Telepolis» erschien dieser Tage ein zweiteiliger Artikel, der sich mit der globalen Hegemonie der USA befasst und erklärt, warum diese schlicht kolonialistisch ist. Hier ein Zitat daraus:

    «Die faktische Allianz zwischen den multinationalen Konzernen des Globalen Nordens mit den Machteliten des Globalen Südens in diesem neokolonialen Geschäftsmodell ist funktional mit der auf nackter Gewalt beruhenden kolonialistischen Arbeitsteilung vergleichbar und begründet zugleich die dauerhafte Zementierung dieser Arbeitsteilung.» (Zitat Ende)

    Frankreich, die EU im Allgemeinen, aber auch wir Schweizer(!) lassen es uns als Vasallen der US-Hegemonie gut gehen und sind halt eben für die Misere mitverantwortlich und auch für die Tausenden, die auf der Flucht vor diesen Zuständen umkommen. «Wir» sind nicht «die Guten».

    Der Link zum erwähnten Artikel (2. Teil, Link zum 1. Teil dort):
    https://www.telepolis.de/features/Hegemonie-der-USA-Von-Macht-Militaer-und-Monopolen-9348609.html

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