Kommentar
kontertext: Israel, Palästina und wir
In einem Gespräch zur Vorbereitung einer Israelreise sagt ein Freund aus Tel Aviv, Psychotherapeut von Beruf: «Eins muss dir klar sein. Du wirst in eine schwer traumatisierte Gesellschaft kommen, in eine andere, fremde Welt. Wir sind alle krank». Er meint das nicht wertend, will nur die Differenz festhalten zwischen Jerusalem oder Tel Aviv und Basel oder Berlin. Und wenn ich über hiesige Nahost-Auseinandersetzungen berichte, sagt seine Frau: Don’t be victims of a conflict that is not yours.
Leichter gesagt als getan. Das Problem sind nicht die von Trauer und Wut überwältigten Menschen, welche Angehörige oder nahe Freundinnen in Israel oder im Gaza verloren haben oder sie in höchster Gefahr wissen als Geiseln, als Soldaten, als Verhungernde, Verjagte, Bombardierte. Das Problem sind die ideologischen Hardliner und Scharfmacher, die in sicherer Distanz Krieg spielen und das Diskussionsklima hierzulande – noch nicht ganz, das muss gesagt sein, aber doch weitgehend – vergiftet haben.
Schlucken und Spucken
Was Martin Walser 1998 noch zur Unzeit anprangerte, ist unterdessen Realität geworden: Der Antisemitismusvorwurf hat sich zu einer Keule entwickelt, die Meinungsfreiheit einschränkt, Zensur ermöglicht und den Konflikt anheizt. Oft hört man: «Du als Jude kannst das sagen, ich nicht, und ich sage überhaupt nichts mehr zu Israel, weil ja alles, was man sagt, falsch ist und nur Schwierigkeiten einbringt.»
Tabuisierungen sind mit Risiken behaftet. Was die Verstummten runterschlucken, verursacht ihnen Magenschmerzen, sie werden wohl das Verschluckte eines Tages wieder ausspucken, und man kann vermuten, wen die Spucke dann treffen wird: die Juden.
Moshe Zuckermann, emeritierter Professor an der Uni Tel Aviv, Sohn von Auschwitzüberlebenden, wird anno 2024 von der Volkshochschule Heilbronn zu einem Vortrag zuerst ein- und dann wieder ausgeladen. Zwischen Ein- und Ausladung liegen ein «Hinweis» der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft und eine Intervention des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland. In der Begründung der Ausladung heisst es, Zuckermanns Positionen seien nach der von Deutschland übernommenen Definition des IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) als antisemitisch zu werten.
Was Zuckermann widerfuhr, ist kein Einzelfall. Andreas Zumach und viele andere haben Ähnliches erlebt. Es handelt sich auch nicht um eine zufällige Übertreibung von Übereifrigen, sondern liegt in der Logik der IHRA-Definition und des politischen Klimas hierzulande (1). Dieser Missbrauch des Antisemitismusbegriffs ereignet sich ausgerechnet in einer Zeit, in der die Enttabuisierung des wirklichen, brutalen Antisemitismus voranschreitet.
Unklare Fronten
Vor ein paar Jahren machte ein Fernsehbild aus Ungarn die Runde, das viel von der Epoche, in der wir leben, veranschaulichte. Im Hintergrund hing ein Wahlplakat der Fides-Partei, das George Soros in antisemitischer Karikatur zeigte. Es ging um «Bevölkerungswechsel»: Soros jage Migranten ins Land. Vorne hielt Orban eine Rede. Und hinter ihm stand – Benjamin Netanyahu. Wörtlich und symbolisch.
Wenn gegen Juden der Antisemitismusvorwurf unglaubwürdig wirkt, greift ein anderes Totschlagargument: Jüdischer Selbsthass sei das Motiv für Kritik an Israel. Könner dieser unappetitlichen Disziplin ist z.B. NZZ-Redaktor Andreas Scheiner. Von Omri Boehm bis Judith Butler: jüdischer Selbsthass! Es gehört schon eine gehörige Dosis Unverfrorenheit dazu, Boehms kenntnisreiche und sorgfältig argumentierende Studie «Israel, eine Utopie» dieser psychologischen Kategorie aus anderer Zeit und anderen Zusammenhängen zu unterwerfen. (NZZ vom 28.03.24)
Bekenntniszwang?
Steigern kann man den Druck auf die Freiheit der Meinungsäusserung noch dadurch, dass man nicht nur festlegt, was nicht gesagt werden soll, sondern auch, was gesagt werden muss. Die am 20. Juni 2024 eingereichte Popularbeschwerde von Rechtsanwalt Emrah Erken und 310 MitunterzeichnerInnen beanstandet, dass die SRG in ihrer Berichterstattung zu wenig auf Antisemitismus hingewiesen und Nicht- oder Spätberichterstattung betrieben habe.
Was ist propalästinensisch?
Die propalästinensischen Proteste an den Universitäten zeichnen sich durch erklärungsbedürftige Einheitlichkeit aus. Sie stellen in ganz Europa zwei Forderungen auf: Gebrauche das Wort «Genozid» und brich alle Beziehungen zu israelischen Unis ab! Je bedeutungsloser das Beharren auf einem Begriff wie «Genozid» angesichts des masslosen Leids der Bevölkerung in Gaza wird, desto fanatischer wird es betrieben. Wichtig wäre indes doch nur eines: dass der Krieg aufhört!
Die allgemeine Forderung nach Abbruch aller Beziehungen zu den israelischen Universitäten ist das Dümmste und für die israelische Opposition ebenso wie für die Palästinenser Schädlichste, was man fordern kann. Das genaue Gegenteil wäre richtig, und die Lehrenden sollten sich nicht damit begnügen, die Polizei zu rufen, sondern ihre israelischen Kollegen und Kolleginnen auch einladen, um den Studierenden zu zeigen, wie kritisch manche von ihnen denken, reden und handeln.
Der verhängnisvollste Sieg, der in den hiesigen Pseudoschlachten bisher erreicht wurde, besteht darin, dass auf beiden Seiten, bei den Palästinenser- wie bei den Israelfreunden, «pro-palästinensisch» zumeist mit pro-Hamas gleichgesetzt wird. Damit wird jede Aussicht auf eine mögliche und menschliche Entwicklung im Nahen Osten verbaut. Mit dem terroristischen Teil der Hamas, so wie er heute ist, gibt es für die Palästinenser keine Zukunft.
Egozentrik in Kopf und Herz
Überhaupt gleichen sich die blinden Palästinenser- und Israelfreunde mehr als ihnen bewusst ist. Beiden mangelt es vor allem an Empathie für die Opfer der anderen Seite. Hardliner sind hartherzig. Die herrschenden Machtverhältnisse bewirken, dass das Leid der Palästinenser in der Öffentlichkeit beschämend wenig wahrgenommen wird.
Es scheint, als diene das Engagement im Nahostkonflikt weitherum eher der eigenen Psychohygiene. Der blindwütige Aktionismus beider Seiten entspringt dem Bedürfnis nach Verdrängung. Insgeheim ahnen alle, dass sie im Nahostkonflikt nicht Ein noch Aus wissen. Sie spüren, dass sie ohnmächtig und bedeutungslos sind. Gerade weil Aktionen eigentlich unmöglich sind, klammern sie sich an sie. Die Identifikation mit ihrem jeweiligen Kollektiv in den Aktionen stabilisiert notdürftig das Selbst und erspart die Einsicht in die eigene Machtlosigkeit. Es sind Ersatzhandlungen zur Selbstbestätigung, es ist PR in eigener Sache.
Plädoyer fürs Denken
Um aus der Verhärtung herauszukommen, müsste zuerst die eigene Ratlosigkeit eingestanden werden. Ein kritisches Denken, das die Zukunft offen hält und die Dimension des Möglichen wieder gewinnt, muss sodann von einer einfachen Setzung ausgehen, nämlich: Grundsätzlich ist es möglich, dass die beiden Völker, Juden und Araber, Israelis und Palästinenser, auf diesem kleinen Fleck Erde zusammenleben können. Kritisches Denken müsste Wege, wie ein unabhängiges Palästina und ein sicheres, demokratisches Israel nebeneinander existieren könnten, wenigstens phantasieren und diskutieren. Die Tatsache, dass wir hier nicht unmittelbar Kriegsbeteiligte sind, wäre zu nutzen statt zu negieren. So muss es zum Beispiel selbstverständlich möglich sein, auch antizionistische und BDS-Positionen in Gespräche einzubeziehen. Ebenso ist es keine Zumutung, von Palästinafreunden zu verlangen, dass sie ihre Israelbild differenzieren. Denn: «Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muss, will er es auch den anderen nicht antun», heisst es in einer grossartigen Radiorede von Theodor W. Adorno aus dem Jahre 1969. Sie schliesst mit einem Bekenntnis zu einem Glück, das ins universale Unglück hineinreiche: das Glück des Aussprechens und Benennens von Unglück. Im Kontext des Nahostkrieges von Glück zu sprechen, wäre vermessen. Aber es muss erlaubt sein zu sagen, dass offenes, kritisches Denken vermutlich die einzige Chance ist, der Depression zu entgehen.
(1) zur Kritik an der IHRA-Definition s. die «Jerusalemer Erklärung»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi
Auch ich bin der Überzeugung, dass man unbedingt die Kontakte zu Universitäten in Israel, aber auch zu dessen Nachbarstaaten vertiefen und nicht abbrechen, sondern diese sogar untereinander vernetzen sollte. Ich hoffe, dass Professoren an Universitäten denkfähig und nicht zu sehr mit der Parteipolitik oder der Waffenlobby verhängt sind. Ich behaupte, dass die meisten Professoren in Israel in keiner Weise die Politik von Netanjahu unterstützen. Seine Unterstützer sind vor allem illegale Siedler in der Westbank (nicht Holocaust-Überlebende), welche sich zu einem auserwählten Volk zugehörig fühlen und offen die Palästinenser vertreiben resp. vernichten wollen. Die palästinensische Bevölkerung ihrerseits ist in Geiselhaft von Hamas und Fatah. Netanjahu, Hamas und Fatah wollen weder für Israel noch für die Palästinenser eine Lösung suchen, weshalb ich auf den Einfluss der Universitäten in den betroffenen Ländern hoffe.
P.S.: Ich gehöre aus Überzeugung keiner Religionsgemeinschaft an.
Wer in einer extrem ungleichmässigen Situation versucht, beide Parteien gleich zu behandeln nimmt automatisch Partei für den Stärkeren. Felix Schneiders Versuch Gleichheit zu erzeugen überzeugt nicht. Wieso soll ein Völkermord nicht Völkermord genannt werden? Wieso sollen wir Zurückhaltung üben, nur um die ‹israelische Opposition› zu stärken?
Nein, auf die (wie Umfragen zeigen) wenigen Israelis Rücksicht zu nehmen, die den Genozid ablehnen, dazu haben wir keine Zeit. Es geht darum, den Staat Israel endlich zu ächten, aus der Gemeinschaft der zivilisierten Erdenbürger auszuschliessen. Und alles zu unternehmen, unmenschliche Politiker wie Scholze oder Von der Leyen zu stoppen, weiterhin Waffen und ‹moralische› Unterstützung bereitzustellen. Dabei stehen weder Universitäten noch Sport noch Musik über der Moral.
Der Dachverband Schweiz-Palästina / Fédération Suisse-Palestine, dem die wesentlichen Gruppierungen der Solidarität mit dem palästinensischen Volk (und seinen international verbrieften Rechten) angehören (dazu zählen auch Teile der studentischen Bewegung) hat in seinen Statuten glasklare Positionen in 8 Punkten festgehalten. Leider ist das nicht in 1’000 Anschlägen zu dokumentieren.
Die zionistische Idee (Herzl) eines Bevölkerungstransfers zur Vertreibung und Umsiedlung der einheimischen Bevölkerung in andere arabische Länder war und ist bis heute untauglich für jegliche Vorstellung von Frieden. Es scheint eine aussichtslose Situation zu sein.